Offener Raum

ANALYSE VON ROLF GÖSSNER

Die Stunde der autoritären Sicherheitsstrategien

Wenn die staatliche Hochrüstung selbst zu einer Gefahr für die Bürger und ihre Grundrechte wird
Eine Analyse von Rolf Gössner

Das „Sicherheitspaket II“ von Bundesinnenminister Otto Schily soll am Freitag im Bundestag abschließend beraten werden. Rolf Gössner, Bremer Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer Berater bündnisgrüner und PDS-Fraktionen in Landtagen und Bundestag, hat Mitte Oktober mit dem Aufruf „Zeit zum Widerspruch“ bei den Bürgerrechtsgruppen dafür geworben, sich mit vereinten Kräften in die Debatte einzumischen. Die FR dokumentiert gekürzt eine Expertise Gössners, deren Grundzüge der Autor in einer Anhörung des Rechtsausschusses des Bundestags am 7. November vorgetragen hat.
Ein in den letzten Monaten viel gehörter Satz klingt immer deutlicher wie eine unheilvolle Drohung: Nach dem 11. September 2001 werde nichts mehr so sein wie zuvor. Nicht nur eine kriegerische Drohung nach außen mit militärischen Schlägen gegen den internationalen „terroristischen Feind“. Nein, auch eine innenpolitische Drohung, die sich auf ein ganzes Arsenal neuer Sicherheitsinstrumente stützen kann, die - mit wenigen Ausnahmen - der Bevölkerung keineswegs mehr Sicherheit bringen, stattdessen die Bürgerrechte und liberal-rechtsstaatliche Prinzipien dramatisch einzuschränken drohen. Die gegen Tausende Zivilpersonen verübten Selbstmord-Anschläge in den USA lösten eine Welle der Trauer, der Solidarität und Hilfsbereitschaft aus - aber auch Unsicherheit, Angst, Gewaltfantasien und Verfolgungseifer, die nicht zuletzt Politiker und Sicherheitsstrategen erfasst haben. (. . .)
Otto Schilys Sicherheitsaktionismus, der sich in zwei Sicherheitspaketen manifestiert, kommt dieser Stimmungslage offenbar entgegen - nach dem Motto: „Seht her, wir tun etwas und haben die Lage im Griff.“ Gleichzeitig wird den Hardlinern der CDU/CSU auf ihrem ureigenen Terrain der „inneren Sicherheit“ der Wind aus den Segeln genommen. Die Stunde der autoritären Sicherheitsstrategen hat jedenfalls geschlagen - und damit womöglich das letzte Stündlein eines ohnehin schon kräftig gerupften liberalen demokratischen Rechtsstaates.
Vor jeglicher Gesetzesverschärfung wäre eigentlich zuerst zu fragen:
Kann die neue Gefahrenlage denn nicht mit den bereits geltenden Gesetzen und den zur Bekämpfung von Terrorismus und „Organisierter Kriminalität“ bereits in den vergangenen Jahrzehnten erweiterten Sicherheitsmaßnahmen bewältigt werden?
Die „innere Sicherheit“ beginnt hier zu Lande wahrlich nicht bei null, sondern befindet sich auf einem hohen Niveau. Die Bundesrepublik kennt ein ausdifferenziertes System von Anti-Terror-Regelungen mit zahlreichen Sondereingriffsbefugnissen für Polizei, Justiz und Geheimdienste, kennt die Raster- und Schleppnetzfahndung, verdachtsunabhängige „Schleierfahndungen“, eine Fülle von Abhör- und Kontrollmöglichkeiten, darunter der „Große Lauschangriff“ in und aus Wohnungen; nicht zu vergessen die seit Jahren verschärfte Ausländerüberwachung, geheime Ausforschungsmethoden vom eingeschleusten Verdeckten Ermittler über angeworbene V-Leute bis hin zum agent provocateur.
Wir haben also bereits eine große Fülle von teilweise hoch problematischen Regelungen, angelegt auf Vorrat - sozusagen für den ganz normalen Ausnahmezustand. Die Privat- und Intimsphäre ist bereits seit längerem in Gefahr, die Unschuldsvermutung ebenfalls. Das hängt unter anderem mit der Präventiv-Entwicklung des Polizeirechts zusammen, wonach immer mehr vollkommen unverdächtige Menschen polizeipflichtig und in Ermittlungsmaßnahmen involviert werden.
Beispiele: die verdachtsunabhängige „Schleierfahndung“ oder die Videoüberwachung im öffentlichen Raum. Aber auch andere rechtsstaatliche Prinzipien werden zunehmend ausgehebelt, wie etwa das verfassungskräftige Gebot der Trennung von Geheimdiensten und Polizei - immerhin eine Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo, die sowohl nachrichtendienstlich als auch vollziehend tätig war. Eine solche unkontrollierbare Machtkonzentration sollte in der Bundesrepublik mit geeigneten Vorkehrungen von vornherein verhindert werden - diese Not-wendigkeit bestätigen nicht zuletzt auch die Erfahrungen mit der Stasi. Doch längst ist diese Trennung in der Praxis stark durchlöchert und würde mit den neuen Sicherheitsgesetzen praktisch ausgehebelt.
Eine zweite Frage müsste beantwortet werden: Sollte es trotz dieser bereits erfolgten Entgrenzung polizeilicher und geheimdienstlicher Befugnisse tatsächlich noch gravierende Sicherheitslücken und Gesetzesdefizite in jenem Ausmaß geben, wie es die vorgelegten „Anti-Terror“-Pakete nahe legen, und wie sind diese Maßnahmen zu beurteilen?
Neben sinnvollen oder zumindest nachvollziehbaren Vorhaben - wie der
Verbesserung der Flugsicherheit oder der verschärften Kontrolle
internationaler Geldströme - sind in den Sicherheitspaketen auch so
prekäre Schritte, wie
  • Ausweitung der höchst fragwürdigen Anti-Terror-Gesetze, neue Kronzeugenregelungen, nachdem die alten erst Ende 2000 aus guten Gründen ausgelaufen sind,
  • (verschlüsselte) Speicherung von biometrischen Daten in Ausweisen
  • (Finger- oder Handabdrucke, Gesichtsgeometrie),
  • Einbeziehung von Sozialdaten in die Rasterfahndung,
  • Ausdehnung der Telekommunikations-Überwachung,
  • das Bundesamt für Verfassungsschutz und der Militärische Abschirmdienst sollen künftig technische Mittel zur Ermittlung des Standortes von Mobilfunkendgeräten (Handy) und zur Ermittlung der Geräte- und Kartennummern einsetzen können (u. a. zur Erstellung von Bewegungsprofilen),
  • Auskunftspflichten gegenüber dem Verfassungsschutz für Banken, Post und Telekommunikationsanbietern, etwa über Kontenbewegungen oder Kontakt-, Verbindungs- und Nutzungsdaten,
  • Ausweitung der Sicherheitsüberprüfungen durch Ausweitung der „sicherheitsempfindlichen Tätigkeiten“ (auf Versorgungseinrichtungen, Infrastruktureinrichtungen wie Bahn, Post, Telekommunikationsunternehmen, Chemieanlagen, Banken etc.),
  • erweiterte Kompetenzen für das Bundesamt für Verfassungsschutz (u. a. bei Bestrebungen gegen den „Gedanken der Völkerverständigung“ und das „friedliche Zusammenleben der Völker“), für das Bundeskriminalamt (u. a. Ermittlungszuständigkeit bei Computersabotage) und den Bundesgrenzschutz (u. a. Sky-Marshalls; erweiterte Schleierfahndung),
  • verstärkter Datenaustausch zwischen Geheimdiensten und Polizei, Datenverbund zwischen Geheimdiensten, Ausländerbehörden und Ausländerzentralregister; Regelanfragen der Ausländerbehörden bei Geheimdiensten,
  • intensivere Kontrolle von Migranten und erleichterte Abschiebungen (etwa bei Verschweigen früherer Aufenthalte; Abschiebung auch bei politischer Verfolgung),
  • Abschaffung des Religionsprivilegs im Vereinsgesetz zur erleichterten Überwachung von verdächtigen Vereinen und vereinfachte Verbote von so genannten Ausländervereinen,
  • Ausdehnung des Anti-Terror-Instrumentariums auf ausländische Vereinigungen (§ 129b StGB)
  • sowie durchweg Lockerungen des Datenschutzes, frei nach dem Motto von Otto Schily, der Datenschutz sei hier zu Lande ohnehin „übertrieben“ worden, gerade so, als hätten die Terroranschläge mit weniger Datenschutz verhindert werden können.

Es scheint, als befänden wir uns in einem nicht erklärten Ausnahmezustand, in dem die Kompetenzen und Befugnisse aller Sicherheitsorgane erweitert, die Trennungslinien zwischen Polizei und Geheimdiensten (aber auch dem Militär) tendenziell beseitigt werden, ganze Bevölkerungsgruppen zu potenziellen Sicherheitsrisiken mutieren, ganze Lebensbereiche problematischen Rasterfahndungen unterzogen werden und die Unschuldsvermutung einer Art Beweislastumkehr weicht.

I. Beispiel: Rasterfahndung - ein bewährtes „Anti-Terror“-Instrument?
In nahezu allen Bundesländern wurden inzwischen Rasterfahndungen durchgeführt, um so genannte Schläfer ausfindig zu machen. Dabei geht es nicht um die Suche nach Straftätern wegen bereits begangener Straftaten, wie der Begriff „Fahndung“ nahe legt, sondern um eine Präventivmaßnahme nach den Polizeigesetzen, mit der künftige terroristische Gewaltverbrechen verhindert werden sollen. Diese Maßnahme, so die richterlich bestätigten Anordnungen, sei erforderlich „zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person“ (so die Voraussetzungen nach Polizeigesetz). Die Gefahr drohe „in Form von terroristischen Gewaltakten extremistischer islamistischer Gruppierungen“ - obwohl doch selbst laut Bundesinnenminister Schily Polizei- und Geheimdienstbehörden immer wieder betont haben, dass es keine Anhaltspunkte für Anschläge in der Bundesrepublik gäbe.
„Gegenwärtige Gefahr“ stellt die „höchste Steigerungsform des Gefahrenbegriffs“ im Polizeirecht dar - ein Schadenseintritt für die genannten Rechtsgüter muss also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmittelbar oder zumindest in allernächster Zeit bevorstehen.
Dafür gab und gibt es jedoch keinerlei Anhaltspunkte. Gleichwohl behauptet etwa das Landgericht Düsseldorf (Beschluss vom 29.10.01) in seiner Abweisung einer Beschwerde von betroffenen Personen: Die Gefahr ergebe sich „bereits daraus, dass seitens der Bundesregierung die uneingeschränkte Solidarität - ggf. auch mit militärischen Mitteln - mit dem Vorgehen der Vereinigten Staaten wiederholt bekundet wurde - und dass seitens der hinter den Anschlägen vom 11. 09. . . . vermuteten Organisation spätestens seit der Militäraktion gegen Afghanistan Vergeltungsschläge gegen die an den militärischen Aktionen beteiligten Staaten angekündigt wurden.“ (...) Dem Amtsgericht Wiesbaden (26.09.01, Az. 71 Gs 531/01) reicht als Zusatzargu-ment für die Gefahrenannahme schon, dass mit einer „Vielzahl von Demonstrationen unter großer Beteiligung der in Deutschland lebenden muslimischen Bevölkerung zu rechnen“ sei, falls es auf Grund der Militärschläge gegen Afghanistan zu vielen Opfern unter der Zivilbevölkerung komme. Es seien Gewalttaten durch extremistisch islamische Kreise „einzukalkulieren“ und schwere Straftaten bis hin zu terroristischen Straftaten durch fanatisierte Einzeltäter und Kleingruppen „in Betracht zu ziehen“. Vager geht‘s nimmer - von wegen „gegenwärtige Gefahr“ (die Thüringer Landesregierung will diesem Dilemma dadurch entgehen, dass sie die Hürde für die Rasterfahndung entsprechend herunterschraubt).
Gesucht werden mit dieser Computerfahndung entsprechend einem vom BKA erarbeiteten Täterprofil der drei Selbstmordattentäter aus Hamburg vorrangig:
  • männliche Studenten und Ex-Studenten
  • zwischen 18 und 40 Jahren,
  • mit (vermutlich) islamischer Religionszugehörigkeit,
  • die aus (zwischen 15 und 30) islamischen Staaten stammen,
  • einen legalen Aufenthaltsstatus haben,
  • in der Zeit von 1996 bis 2001 technisch-naturwissenschaftliche Fächer studier(t)en,
  • finanziell unabhängig sind,
  • rege Reisetätigkeit entfalten
  • und bislang nicht kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten sind.

Die Suchraster etwa der Landeskriminalämter Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen unterscheiden sich in Grobheit bzw. Restriktion durchaus. So gehen die „Kriterien der Personenselektion“ (so heißt das wirklich) nach dem NRW-Rasterfahndungsbeschluss des Amtsgerichts Düsseldorf vom 2. 10. 01 über die Suchraster anderer Bundesländer (etwa Hessen) weit hinaus: Sie betreffen zunächst die personenbezogenen Daten aller männlichen Einwohner und aller männlichen Studenten des Landes, die einer bestimmten Altersgruppe angehören, gleich welcher Staats- und Religionszugehörigkeit.
Die präventive Suche nach sich unverdächtig verhaltenden potenziellen Tätern - entlang einem geradezu absurden „Schläfer-Täterprofil“ - läuft zwangsläufig auf ein Durchrastern ganzer Lebensbereiche nach groben Kriterien hinaus. Um an die personenbezogenen Daten der gesuchten Personen zu gelangen, werden zunächst öffentliche und private Einrichtungen verpflichtet, ihre Datenbestände, die dem Suchraster entsprechen, an die Polizeibehörden herauszugeben.
Bei den Rasterfahndungen unserer Tage sind das insbesondere Hochschulen, Unternehmen zur Versorgungs- und Entsorgungsunternehmen, Unternehmen der Atomenergie, des öffentlichen Nahverkehrs, Fluggesellschaften, Sicherheitsdienste, Reinigungsfirmen, Meldebehörden und das Ausländerzentralregister. Diese Stellen können zur Herausgabe der Datensätze auch gezwungen werden.
Diese Fremddateien werden nun von den Polizeibehörden entsprechend dem Suchraster elektronisch durchforstet und mit dem polizeieigenen Datenbestand abgeglichen. Was dabei kriminalistisch gesehen besonders interessiert: die Auslese, der Daten-„Bodensatz“, der im Raster hängenbleibt - also die Datensätze von jenen Personen, auf die die Suchmerkmale zutreffen. Diese Personen gelten von nun an qua elektronischer „Personenselektion“ als qualifiziert verdächtig, obwohl gegen sie absolut nichts vorliegt.
Die rechtsstaatliche Unschuldsvermutung verkehrt sich so in eine generelle Schuldvermutung per Computerausdruck. Und das betrifft Hunderte, ja Tausende: Allein die Rasterfahndung an den Hochschulen NRWs hat zu 10 000 Recherchefällen geführt. Unter kriminalistischen Gesichtspunkten eher ein Desaster, das von der Polizei kaum zu bewältigen sein dürfte.
Denn die dem Raster entsprechend „verdächtigen“ Personen müssen daraufhin „handverlesen“ werden - wobei es im Verlauf der gezielten individuellen Überprü-fung durch Polizei oder Verfassungsschutz passieren kann, dass die Ermittler den Betroffenen persönlich auflauern, Nachbarn, Hausmeister und Arbeitgeber befragen, Briefkästen und Mülltonnen durchwühlen und sonstige Erkundigungen einholen. Falls die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen, kann es auch zu weiteren verdeckten Ermittlungen kommen, zu Observationen, Telefonabhöraktionen oder aber zu Hausdurchsuchungen und Festnahmen. Mit der Rasterfahndung geraten also tausende Menschen, die mit Verbrechen wirklich nichts zu tun haben, ins Visier der Fahnder. Und niemand weiß, wann sie aus diesem Visier wieder entlassen werden. (. . .)

II. Beispiel: Verschärfte Ausländerüberwachung - Sicherheitsrisiko Ausländer?
Ohne den Nachweis, dass von Ausländerinnen und Ausländern mehr Extremismus, mehr Kriminalität, mehr Terrorismus oder mehr Gefahren ausgehen als von Deutschen, sollen diese - unter Missachtung des Gleichheitsgrundsatzes - künftig einem noch rigideren Überwachungsregime unterworfen werden, das sie ohne konkreten Anlass in Ermittlungen der Geheimdienste und der Polizei einbezieht.
Dabei erfolgt eine Vorratsdatenverarbeitung, die die Betroffenen existenziellen Beeinträchtigungen aussetzen kann: von der Verweigerung der Visaerteilung und der Einreise über einschneidende polizeiliche Ermittlungsmaßnahmen und den Verlust des Arbeitsplatzes bis hin zum Risiko der Abschiebung und Ausweisung und der politischen Verfolgung durch den Heimatstaat.
  • Alle Asyl- und Ausländerbehörden können von sich aus Daten an die Verfas-sungsschutzämter weitergeben - ohne dass eine spätere Weitergabe der Daten an Verfolgerstaaten ausgeschlossen wäre.
  • Ausländervereine sollen künftig erleichtert verboten werden können, wenn sie - verkürzt gesagt - öffentlichen deutschen Interessen entgegenstehen,
  • in Ausländerausweisen sollen biometrische Merkmale (Finger, Hand, Gesicht) auf der Basis einer Rechtsverordnung - keines Gesetzes - aufgenommen werden,
  • mit Einführung der Sprachanalyse zur Herkunftsbestimmung werden Sprachdatenbestände aufgebaut, die der Polizei zur Sprecheridentifikation dienen können,
  • mit Vorratsdatenspeicherung von Fingerabdrücken - bisher praktiziert „nur“ bei Flüchtlingen - wird auf weitere Ausländergruppen ausgeweitet und ohne jede Einschränkung für polizeiliche Spurenabgleiche beim Bundeskriminalamt vorgehalten,
  • die personenbezogenen Daten von Visaantragstellern werden mit denen der Sicherheitsbehörden abgeglichen und dort u. U. dauerhaft gespeichert, wenn be-stimmte „Gruppenmerkmale“ (z. B. Staatsangehörigkeit) vorliegen,
  • Geheimdienste erhalten ungehinderten Zugriff auf sämtliche Daten des Aus-länderzentralregisters (AZR), so dass sämtliche Ausländer in das geheimdienst-liche Blickfeld geraten (Vergeheimdienstlichung des AZR), die Möglichkeit einer Rasterfahndung (Gruppenauskunft) mit allen personenbezogenen Daten aus dem Ausländerzentralregister (AZR) wird nicht nur der Polizei, sondern sämtlichen Geheimdiensten erlaubt, ohne dass eine konkrete Gefahr im Einzelfall bestehen müsste (nur generell zur Abwehr einer Gefahr).

Diese Regelungen schaffen nicht mehr Sicherheit, sondern sind dazu geeignet, ein Klima der Angst, Abwehr und Aggression zu schüren.

III. Beispiel: Biometrische Daten in Ausweisen - Bürger als Sicherheitsrisiken?
Etliche der in den Sicherheitspaketen enthaltenen Maßnahmen betreffen alle in der Bundesrepublik lebenden Menschen. Ein Beispiel ist die geplante offene oder auch verschlüsselte Speicherung biometrischer Daten in Ausweispapieren, also von körperlichen Merkmalen wie Finger- und Handabdruck oder Gesichtsgeometrie (Kinnbreite, Augenabstand, Stirnhöhe). Alle, die künftig einen Pass oder Personalausweis beantragen, müssten sich dann biometrisch vermessen lassen.
Gegen Fälschungssicherheit und sichere Identifizierung ist aus Datenschutzsicht nichts einzuwenden - mal abgesehen davon, dass auch damit unauffällige Schläfer mit im Ausland ausgestellten Personalpapieren wohl nicht entdeckt, die Attentate nicht verhindert worden wären. Trotz angeblicher Fälschungssicherheit der gültigen Ausweise kommt es gelegentlich doch zu Fälschungen oder Fehl-Identifizierungen. Im Zweifel dürfte für solche Fälle eine zusätzliche Sicherung, etwa dreidimensionale Hologramm-Bundesadler und Ausweisfotos mit Kopierschutz, ausreichen. Otto Schilys Vorlage schießt weit über das Ziel der Terrorismusbekämpfung hinaus und dürfte weder mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip noch dem Grundrecht auf Informationelle Selbstbestimmung vereinbar sein. Denn mit der biometrischen Totalerfassung der Bevölkerung würde bundesweit eine digitale Ausgangsbasis entstehen (die im Gesetzentwurf trotz Zweckbestimmung nicht untersagt wird), die dann für weitreichende polizeiliche Überwachungsmaßnahmen und Abgleichsverfahren nutzbar wäre: So könnten etwa Spuren, die an einem Tatort gefunden werden, elektronisch mit den biometrischen Referenzdaten der gesamten Bevölkerung abglichen werden.
(. . .)

IV. Beispiel: Ausweitung der Anti-Terror-Gesetze auf ausländische Vereinigungen
Mit der geplanten Schaffung eines neuen § 129b StGB wird die Strafbarkeit der Bildung von und Beteiligung an kriminellen und terroristischen Vereinigungen (§§ 129, 129a StGB) auf Auslandsvereinigungen ausgeweitet. Eine solche Gesetzesausweitung wird deshalb für notwendig erachtet, weil der Bundesgerichtshof bisher im Zusammenhang mit §§ 129, 129a StGB verlangt, dass im Falle von ausländischen kriminellen/terroristischen Vereinigungen zumindest eine Teilorganisation in der Bundesrepublik ihren Sitz haben müsse, wenn deren Mitglieder hier strafrechtlich belangt werden sollen (BGHSt 30, 325 ff.). Ohne eine solche inländische Teilorganisation können Mitglieder einer ausländischen „Terroristischen Vereinigung“ in der Bundesrepublik nach der heutigen Rechtslage nicht gemäß §§ 129, 129a belangt werden, es sei denn nach anderen Straftatbeständen, die ihnen jedoch konkret nachzuweisen wären. Darüber hinaus verpflichtet eine „Gemeinsame Maßnahme des EU-Rates“ vom 21.12.1998 die Mitgliedsstaaten der EU, dafür zu sorgen, dass die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung in ihrem Hoheitsgebiet strafrechtlich geahndet werden kann, und zwar „unabhängig von dem Ort im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten, an dem die Vereinigung ihre Operationsbasis hat oder ihre strafbaren Tätigkeiten ausübt“.
Daraus zieht nun die Bundesregierung die Konsequenz, einen neuen § 129b StGB zu schaffen, um die §§ 129 (Kriminelle Vereinigung), 129a (Terroristische Vereini-gung) auch auf Vereinigungen im Ausland auszudehnen. Diese Novellierung geht weit über die Vorgaben der EU hinaus: Denn nicht nur kriminelle Vereinigungen innerhalb der EU, wie die Gemeinsame EU-Maßnahme verlangt, sondern auch § 129a soll auf Vereinigungen im Ausland ausgedehnt werden - und zwar über die EU hinaus weltweit. (. . .)

V. Beispiel: Antiterroristischer Schub für Europäische Sicherheitsentwicklung
Die Europäische Union, die sich bereits mit dem Schengener und Amsterdamer Abkommen, dem Schengener Informationssystem (SIS) und mit Europol ein demokratisch kaum kontrolliertes „inneres“ Sicherheitssystem“ geschaffen hat, setzt nach dem 11. 9. ebenfalls auf ein ganzes Bündel von zusätzlichen „Sicherheitsmaßnahmen“: Das reicht vom Europäischen Haftbefehl, verstärktem Polizei-Datenaustausch über die erleichterte Auslieferung von Straftätern innerhalb der EU, bis hin zu den Überwachungsplänen, die sich auf die so genannten Enfopol-Papiere stützen.
Darüber hinaus soll Europol erweiterte, auch operative Kompetenzen bei der Verfolgung von Terroristen erhalten sowie eine Antiterror-Truppe. Diese Entwicklung ist umso bedenklicher, als mangelnde Transparenz sowie das Fehlen einer verbindlichen parlamentarischen Kontrolle Europol zu einem demokratisch kaum legitimierten Unternehmen machen.
Ende September wurde in Windeseile eine einheitliche
Terrorismus-Definition der EU ausgearbeitet, die es in sich hat. Danach soll jeder Mitgliedstaat Maßnahmen ergreifen, um „absichtlich durch einen Einzelnen oder eine Gruppe gegen einen Staat, dessen Einrichtungen oder Bevölkerung begangene“ Straftaten als „terroristische Taten“ mit bestimmten Mindeststrafen zu ahnden, wenn sie mit u. a. der Absicht begangen werden, die „politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Strukturen“ zu bedrohen und stark zu beeinträchtigen oder zu zerstören.
Neben Mord, Entführung oder Erpressung soll dazu schon die widerrechtliche Inbesitznahme oder Beschädigung öffentlicher Einrichtungen, Transportmittel, Infrastrukturen und öffentlichen Eigentums ausreichen; oder aber die Beeinträchtigung oder Verhinderung/Unterbrechung der Versorgung mit Wasser, Elektrizität oder anderen wichtigen Ressourcen, oder „Angriffe durch Verwendung eines Informationssystems“ oder auch nur die Drohung mit einer dieser Straftaten. (. . .)

VI. Totalitärer Geist? Der Sicherheitsminister als Sicherheitsrisiko
Zurück in die Bundesrepublik: Terror stärkt den Staat und entwertet Freiheitsrechte. Wir befinden uns gegenwärtig auf einem höchst gefährlichen Weg, auf dem die Balance zwischen Sicherheitsmaßnahmen und Freiheitsrechten verloren zu gehen droht, teilweise schon verloren gegangen ist. Eine Reihe der beschlossenen und viele der geplanten „Anti-Terror“-Maßnahmen drohen die Bürgerrechte und liberal-rechtsstaatliche Strukturen in ihrer Substanz anzugreifen.
Nur in ganz wenigen Fällen haben die Sicherheitspolitiker bisher plausibel dargelegt, dass ihre Pläne nach den vorgelegten „Sicherheitspaketen“ zur Bekämpfung dieser Art von Terrorismus tauglich sein können. Dazu gehören Maßnahmen zur Erhöhung der Flugsicherheit, zur Kontrolle internationaler Geldströme, möglicherweise auch die Abschaffung des Religionsprivilegs im Vereinsrecht.
Doch vollkommen unverdächtige Selbstmord-Attentäter hätten auch mit den darüber hinaus gehenden Regelungen wohl kaum enttarnt werden können. Wir haben es hier mit Verhaltensweisen zu tun, die auch mit einer noch so verfeinerten Präventionsstrategie nicht ohne weiteres hätten erfasst werden können, es sei denn durch Kommissar Zufall - oder aber mit polizeistaatlicher Willkür.
Die Anschlagserie hat wieder deutlich gemacht, wie verletzlich hoch technisierte Risikogesellschaften sind. (. . .) In keiner Gesellschaft gibt es einen absoluten Schutz vor Gefahren und Gewalt - schon gar nicht in einer hoch technisierten Risikogesellschaft und auch nicht in einer liberalen und offenen Demokratie; und schon gar nicht vor Selbstmord-Attentätern, wie das Beispiel Israel zeigt.
Es grenzt an Volksverdummung, wenn die herrschende Sicherheitspolitik gerade diese Omnipotenz suggeriert - derweil die staatliche Hochrüstung selbst zu einer Gefahr für die Bürger und ihre Grundrechte wird (. . .).

Erscheinungsdatum 05.12.2001 in der FR

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