Offener Raum

TEXTE ZUR SCHULKRITIK

Die Schule als heilige Kuh


1. Wissen und Konkurrenz
2. Robert Walser: Die Schule
3. Die Schule als heilige Kuh
4. Das "Opium" Schule legitimiert gesellschaftliche Hierarchien

(Auszug aus dem Aufsatz "Die Schule als heilige Kuh." Quelle: Ivan Illich (1972). Schulen helfen nicht - Über das mythenbildende Ritual der Industriegesellschaft. S.12-14)

Nur wenn wir das Schulwesen als das zentrale mythenbildende Ritual der Industriegesellschaft begreifen, können wir erklären, warum so ein tiefes Bedürfnis danach besteht, warum ein komplexer Mythos rs umgibt und auf welche unlösliche Weise die Schulbildung mit dem Selbstverständnis des zeitgenössischen Menschen verknüpft ist. Eine Promotionsrede in der Staatsuniversität von Puerto Rico gab mir Gelegenheit, dieses Verhältnis zu untersuchen.

Die Schule als Institution befindet sich gegenwärtig in einer Krise, die vielleicht das Ende des "Schulzeitalters" in der westlichen Welt bringen wird. Ich spreche vom "Schulzeitalter" in demselben Sinne, wie wir von der "Feudalzeit" oder dem "christlichen Zeitalter" sprechen. Das "Schulzeitalter" hat vor etwa zweihundert Jahren begonnen. Allmählich entstand die Vorstellung, daß Schulbildung erforderlich sei, damit man zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft werde. Es ist die Aufgabe Ihrer Generation, diesen Mythos zu begraben.

Sie befinden sich in einer paradoxen Situation. Am Ende und als Ergebnis Ihres Studiums können Sie erkennen, daß die Bildung, welche Ihre Kinder verdienen und verlangen werden, eine Revolution des Schulsystems erfordern, dessen Produkte Sie selber sind. Das Promotionsritual, das wir heute feierlich zelebrieren bestätigt die Vorrechte, welche die Gesellschaft von Puerto Rico mittels eines kostspieligen Systems subventionierter, öffentlicher Schulen den Söhnen und Töchtern ihrer privilegiertesten Bürger verleiht. Sie sind eil der privilegiertesten zehn Prozent Ihrer Generation, Teil jener einzigen Gruppe, die ein Universitätsstudium abgeschlossen hat. Ihnen ist das Fünfzehnfache an Bildungsinvestitionen zugute gekommen wie einem durchschnittlichen Angehörigen der ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung, die vor Abschluß der fünften Klasse in der Schule durchgefallen sind.

Das Diplom, das Sie heute erhalten, bescheinigt die Legitimität Ihrer Fähigkeiten. Denen, die sich selber gebildet haben und sich ihre Fihigkeiten auf einem in Puerto Rico amtlich nicht anerkannten Wege verschafft haben, steht dieses Diplom nicht zur Verfügung. Die Lehrpläne der Universität von Puerto Rico sind alle von der Middle States Association of Colleges and Secondary Schools ordnungsgemäß beglaubigt worden.

Der akademische Grad, den Ihnen die Universität heute verleiht, deutet daß Ihre Eltern Sie während der letzten sechzehn Jahre nötigt haben, sich freiwillig oder unfreiwillig der Zucht dieses komplizierten Schulrituals zu unterwerfen. Neun Monate im Jahr sind Sie an fünf Tagen in der Woche in dem sakralen Bereich der Schule anwesend gewesen und haben diese Anwesenheit gewöhnlich ohne Unterbrechung Jahr für Jahr fortgesetzt. Staatsbeamte und Arbeitnehmer in der Industrie glauben mit gutem Grund, daß Sie die Ordnung nicht untergraben werden, der Sie sich so gewissenhaft erworfen haben, während Sie, Ihr "Einführungszeremoniell" absolvierten.

Ein großer Teil Ihrer Jugend wurde in der Obhut der Schule verbracht. Man erwartet, daß Sie sich jetzt an die Arbeit begeben, um künftigen Generationen die Ihnen verliehenen Vorrechte zu erhalten.

Puerto Rico ist in der westlichen Hemisphäre das einzige Gemeinwesen, das 30 Prozent seines Staatshaushaltes für Bildung verwendet. Es ist eines von sechs Ländern der Welt, die sechs bis sieben Prozent ihres Nationaleinkommens für Bildung ausgeben. In Puerto Rico kosten die Schulen mehr und beschäftigen mehr Menschen als irgendein anderer Bereich des öffentlichen Lebens. An keiner andern gesellschaftlichen Tätigkeit ist ein so großer Teil der Gesamtbevölkerung von Puerto Rico beteiligt.

Sehr viele Menschen erleben diese Veranstaltung am Fernsehschirm mit. Soviel Feierlichkeit wird ihnen einerseits ihr Gefühl bestätigen, daß sie bildungsmäßig unterlegen sind, und wird andererseits ihre - weitgehend zur Aussichtslosigkeit verurteilten - Hoffnungen bestärken, daß sie eines Tages selber ein Hochschuldiplom erhalten könnten.

Puerto Rico ist geschult. Ich sage lieber nicht gebildet, sondern geschult. Die Puertoricaner können sich ein Leben ohne Beziehung zur Schule nicht mehr vorstellen. Das Verlangen nach Bildung ist heute dem Zwang zur Schulung gewichen. Puerto Rico hat eine neue Religion angenommen. Ihre Lehre besagt, daß Bildung ein Produkt der Schule sei, ein Produkt, das sich mit Zahlen definieren läßt. Da gibt es Zahlen, die angeben, wieviele Jahre ein Schüler unter der Obhut von Lehrern verbracht hat, während andere Zahlen den Anteil von richtigen Antworten in einer Prüfung wiedergeben. Mit dem Empfang eines Diploms erhält das Bildungsprodukt Marktwert. So garantiert der Schulbesuch als solcher Aufnahme in den Kreis disziplinierter Verbraucher in der Technokratie - wie in früheren Zeiten der Kirchenbesuch die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Heiligen garantierte. Vom Gouverneur bis zum jibaro akzeptiert Puerto Rico heute die Ideologie seiner Lehrer, wie es einstmals die Theologie seiner Priester akzeptiert hat. Die Schule wird heute mit Bildung identifiziert, wie einst die Kirche mit Religion.

Das heutige Beglaubigungsverfahren erinnert an die königlichen Gunstbeweise, die einstmals der Kirche zuteil wurden. Die staatlichen Subventionen für das Bildungswesen heute entsprechen den königlichen Schenkungen an die Kirche gestern. So rasch ist die Macht des Diploms in Puerto Rico gewachsen, daß die Armen ihr Elend auf den Mangel ebendessen zurückführen, was Ihnen, den heute Diplomierten, die Teilhabe an Macht und Privilegien der Gesellschaft gewährleistet.

Illich über Schule, Entwicklungshilfe usw.

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