Projektwerkstatt Saasen

BERUFUNGSVERHANDLUNG ZWEITER ANLAUF: PLÄDOYERS DER ANGEKLAGTEN

Anklagepunkt "Körperverletzung" (vermeintlicher Fusstritt)


1. Plädoyer allgemein, Anfang
2. Rahmenbedingungen eines jeden Gerichtsverfahrens
3. Spezielle Rahmenbedingungen dieses Verfahrens
4. Plädoyer allgemein, Ende
5. Symbolisch: Polizeigewalt am 2.3. und 11.4. in/vor dem Landgericht
6. Anklagepunkt „Wahlplakate“
7. Anklagepunkt "Farbschmierereien an der Gallushalle"
8. Anklagepunkt "Körperverletzung" (vermeintlicher Fusstritt)
9. Anklagepunkt "Hausfriedensbruch" (Gaile Lügen)
10. Anklagepunkt "Körperverletzung" (Puffs Daumen-Kino)
11. Anklagepunkt "Beleidigung" (Gülle prügelt)

Der 11. Verhandlunstag war geprägt von umfangreichen Plädoyers seitens beider Angeklagten, deren Ausgangstexte hier dokumentiert werden. Das folgende Plädoyer zum Vorwurf des Widerstands und gefährlicher Körperverletzung bei der "Festnahme" vor dem CDU-Stand liegt auch als .rtf zum Download vor.

Dies ist eine unvollständige Sammlung von Aspekten zum Anklagepunkt, zum Teil ohne voll ausgeschriebene Sätze und ohne jegliche Korrekturlesung. Sie dient als Manuskript zum Plädoyer des Angeklagten J.B. am 11. Prozesstag vor dem Landgericht Gießen, 29.4.2005. Alle Angaben sind ohne Gewähr, die Zitate von handschriftlichen Notizen übertragen. Mehr Infos zum Prozess und dieser Text im Internet.

Zu Beginn sprach der Angeklagte den im Publikum und in ziviler Kleidung (Dienst aufgegeben? Das wäre ja mal was Nettes ...) anwesenden Hauptbelastungszeugen POK Walter direkt an und äußerte die Bereitschaft, außerhalb des Prozesses erstmals auch in eine persönliche Kommunikation zu kommen. Der Rahmen einer Gerichtsverhandlung sei eine unmenschliche, auf wahr-unwahr und vor allem Sieg-Niederlage orientierte Kommunikation. POK Walter mied aber während der weiteren Prozesspausen jeglichen Kontakt.

Der in der ersten Instanz am höchsten bestrafte Anklagepunkt. Damals nur ein Belastungszeuge und viele Entlastungszeugen. Diesmal anders, was ich anerkenne, dass das Gericht vor allem bei diesem Punkt sich viel mehr Mühe gab, die Sachlage aufzuhellen. Es ist nicht die Schuld des Gerichts, dass das dazu führte, dass eine große Menge sehr unterschiedlicher Geschichten und Geschichtchen dargeboten wurde und es zumindest mir so ging, dass ich am Ende gar nicht mehr mitkam, die Widersprüche zu zählen.

Ich kann daher auch gar nichts schreiben, was sich nach der Zeugenvernehmung herauskristallisiert hat, wie nun alles abgelaufen sein soll. Die Spannbreite ist in jedem Detailpunkt schon von den Polizeiaussagen unendlich groß:
  • Von Transparent ganz übersehen über gleichzeitig mit Megaphon angegriffen bis zu nacheinander attackiert war alles dabei.
  • Von: Angeklagter B. war während des Abtransportes über den Seltersweg völlig passiv bis zu „hat sich die ganze Zeit mit Händen und Füssen gewehrt“ war alles dabei.
  • Von der Aussage des vermeintlich Verletzten, POK Walter, dass er sichtbar gar nicht auf den vermeintlichen Tritt reagiert hätte über „hat sich an Stirn gefasst“ oder „hat mir davon erzählt“ bis zu „ist aufgestanden und hat sich an Stirn gefasst“ sind auch zu diesem Punkt alle Varianten erzählt worden.

Es hat kaum Übereinstimmungen bei den konkreten Ablaufbeschreibungen gegeben, dass kann vielleicht als zentrales Ergebnis festgehalten werden. Da die Übereinstimmungen so gering sind, möchte ich die Ergebnisse der Beweisaufnahme so schildern und bewerten, dass ich die Aussagen von POK Walter als zentralem Zeugen und vermeintlichem Verletzten zugrundelege und analysiere.

Zur konkreten Ablaufsbeschreibung von Walter
Vor dem Zugriff
  • POK Walter will erst gekommen sein, als die Demo schon lief. Sein Fahrer PK Fett berichtet das völlig anders: Schon länger vorher da. Erst lange nichts los, deutlich später kamen Demonstranten.
  • Walter gibt an, sie seien zunächst nur zu zweit gewesen – er und Herr Fett. Herr Fett sagte eindeutig aus, dass sie drei Beamte waren – Walter, er und Herr Neumann von der Wachpolizei, der mal „reinschnuppern“ wollte.
  • Obwohl Walter angibt, dass sie zunächst zu zweit vor Ort waren und erst nach einiger Zeit Verstärkung riefen, will POK Walter nichts vom „ Hasenkrug“-Vorgang mitbekommen haben. Dieser wird aber nicht nur übereinstimmend von den Zeugen Sch., J. und S. erwähnt, sondern auch von einem Beamten und in der Giessener Allgemeinen (Artikel von B. Altmeppen vom 13. Januar). Dieser Vorgang belegt auch, dass sogar die Polizei von einer zu schützenden Demonstration ausging. Nur POK Walter, obwohl anwesend und Einsatzleiter, will nichts mitbekommen haben.
  • Walter sagte aus, J.B. hätte über das Megaphon polizeiliche Maßnahmen abgeprangert, auch eine „angeblich willkürliche Hausdurchsuchung der Projektwerkstatt“. Diese Aussage wird von dem Angeklagten sowie dem Zeugen S. bestätigt. Damit hat Walter zum zweiten Mal den Charakter einer Demonstration selbst beschrieben und auch selbst mitgeteilt, dass die Demonstration aus einem Anlass war, der erst wenige Stunden (eine Nacht) zurücklag. Also eine legale Spontandemonstration.
  • POK Walter sagte während seiner Vernehmung in der hiesigen Hauptverhandlung: „Innenminister Bouffier ließ über den Polizeipräsidenten Meise mitteilen, dass die Versammlung aufzulösen sei.“ Diese Aussage deckt sich mit seinen Angaben aus der ersten Instanz und ist eine der wenigen, die als glaubwürdig zu betrachten ist.
  • Sie deckt sich mit der Aussage des Beamten Fett, der etwas flapsig formuliert hatte, dass Polizeipräsident Meise ihnen gesagt hätte, das mit dem Transparent sei nicht in Ordnung, da müsste mal was gemacht werden. Er erwähnt zudem, dass auch Bouffier persönlich sie aufgefordert hätte, in der Sache aktiv zu werden.

Summa summarum: Es war eine Demonstration und das war auch den Polizisten klar, die im Einsatz waren – und zwar einschließlich POK Walter, der anderes behauptete, von Beginn an. Der Angriff auf die Demonstration, den ich im folgenden beschreibe, war folglich illegal, d.h. auch der konkrete Angriff auf den Angeklagten B. ist schon aus diesem Grunde rechtswidrig gewesen, denn das Handeln des Angeklagten war durch das Demonstrationsrecht gedeckt. Es ist aber noch schlimmer – das Verhalten der Polizei im folgenden verstößt auch im Detail gegen die Grundsätze von Recht- und Verhältnismäßigkeit, zudem führt die Polizei einen gewalttätigen Angriff auf eine Demonstration durch, ohne das diese irgendwie beendet oder aufgelöst war, dass von dort Straftaten begangen wurden u.ä. Ein solcher gewalttätiger Angriff steht nach Versammlungsrecht sogar unter Strafe!

Also die nächsten Episoden des 11.1.2003, die Angriffe auf zwei Teile der Demonstration ...

Angriff 1: Weg mit dem Transparent
  • Zeuge Walter behauptet, bei der Attacke auf das Transparent gar nicht dabei gewesen zu sein, weil diese Massnahme und die Attacke auf das Megaphon gleichzeitig gewesen wären. Das entspricht nicht einmal seinen eigenen Vermerken in den Akten und ist auch unwahrscheinlich, da es nur wenige Beamte waren, die sich nicht mehr aufteilen konnten.
  • Die Zeugen B., J. und S. beschreiben auch klar und übereinstimmend, dass es zuerst einen Zugriff auf das Transparent gegeben hat.
  • Der Polizeibeamte Ernst sagte ebenfalls aus, dass erst das Transparent sichergestellt wurde, d.h. auch er widerspricht POK Walter.
  • Wo die irrwitzige Idee herkam, ein Stück Stoff störend zu finden und deshalb eine Demonstration zu attackieren, berichtet der Beamte Fett. Er erklärte, dass Polizeipräsident Meise, der neben Innenminister Volker Bouffier stand, ihnen mitgeteilt hätte, „dass mit dem Transparent sei nicht in Ordnung, da müsse was gemacht werden“.
  • In seiner Strafanzeige vom 11.01.2003 (Blatt 2 - 5) beschreibt aber sogar auch POK Walter selbst, dass erst das Transparent sichergestellt und in einen „Funkwagen“ verbracht wurde. In der Anzeige heißt es: „Bei deren Eintreffen (eine Streife der Pst. Gießen-Nord, -drei Kollegen-, eine Streife der Pst. Gießen-Süd und eine weitere Streife des KDD) sollte zunächst das Transparent sichergestellt werden.“ (Blatt 3)
  • In der hiesigen Hauptverhandlung behauptete Walter nun, die Sachen mit Transparent und Megaphon seien „zeitgleich passiert“. Zudem gab Walter an: „Ich weiß nicht, warum das Transparent beschlagnahmt wurde.“ (Widerspruch zum Anzeigentext)
  • Die Aussage eines Kollegen zeigt, dass Walter an dieser Stelle noch mehr gelogen hat: Der Beamte Ernst gab an, Walter hätte selbst angeordnet, dass das Transparent zu beschlagnahmen sei. 5-6 Beamte seien daraufhin zu der Transparent-Gruppe gegangen. Und eben POK Walter habe dort die Leute aufgefordert, das „Tuch“ abzugeben. Als das nicht passierte, hätten seine Kollegen das Transparent ergriffen und gewaltsam weg gezogen
  • Der Zeuge J. sagte dazu aus, es habe keine Nennung von Gründen gegeben – das Transparent sei einfach mit Gewalt und ohne Angabe von Gründen entfernt worden.

Angriff 2: Zugriff auf Megaphon und dessen Träger
a. Rechtsgrundlagen bzw. POK Walter's wechselnde Begründungen

POK Walter bietet auch hier wieder von sich aus mehrere Varianten seiner Märchenstunde an:
  • Alte Version, Anzeigentext von Walter (Blatt 3): „Da davon ausgegangen werden mußte, dass der Beschuldigte keine behördliche Erlaubnis zur Benutzung eines Megaphons hatte, sollte dieses sichergestellt werden.“ An dieser Stelle zeigt sich bereits die obrigkeitsstaatliche Denkweise Walter’s, die wenig mit dem Versammlungsrecht gemein hat. In seinem Kopf müssen sich BürgerInnen ihre Meinungsäußerung von Behörden erlauben lassen. Das Versammlungsrecht sagt eindeutig: Versammlungen müssen nicht genehmigt, nur angemeldet werden. Die Versammlungsbehörde sollte in Kenntnis gesetzt werden, um sich auf die Versammlung einzustellen – eine Erlaubnis für Demonstrationen ist jedoch nicht vorgesehen. Das aber war ja auch nur die alte Version, warum POK Walter das Megaphon haben wollte.
  • Neue Version: In der hiesigen Hauptverhandlung sagte Walter aus: „Damit die Wahlkundgebung der CDU nicht weiter gestört werden konnte.“ Das ist wohl der eher wahrscheinliche Hintergrund der vom Wahlkämpfer Bouffier veranlassten Aktion, dürfte allerdings als rechtliche Grundlage wenig taugen. Noch ist es nicht soweit, dass in dieser Republik Gesetze bestehen, die Regierungsparteien grundsätzlich vor Kritik schützen – auch wenn da manche von träumen mögen und offensichtlich willigen Vollstreckern der Regierenden es schon so vorkommt, als gäbe es diese Rechtsgrundlage ... vor allem wenn ihr König, hier der Innenminister persönlich, auch noch zuguckt.
  • Zusätzlich führte Walter an: Nach „ Gefahrenabwehrlärmverordnung“ habe J.B. mit dem Megaphon die Ruhe gestört. Von diese Verordnung war auf hiesiger Seite zuvor nichts bekannt und konnte auch bisher nichts gefunden werden. Ein Polizist, der sich das Gesetz, nach dem er handelt, nicht nur vom Inhalt, sondern jetzt neuerdings ganz komplett selbst erfindet? Gießener Verhältnisse ...

b. Am Anfang des Zugriffs: „Überfall“ oder rechtlich einwandfreie Maßnahme?
  • Walter behauptet, er habe B. aufgefordert, dass Megaphon abzugeben. B. hat sich daraufhin „versteift“, anschließend ging er in eine gebückte Haltung. Walter weiter: „Daraufhin habe ich erklärt, dass er in Gewahrsam genommen würde.“
  • Diese Aussage steht deutlich im Widerspruch zu der Beschreibung, die andere Zeugen abgeben. Am deutlichsten beschreibt der Zeuge J. die Situation: „ Urplötzlich“ hätten sich mehrere Beamte auf B. „gestürzt“, es sei „überfallartig“ abgelaufen und die Beamten seien „eher von der Seite“ auf B. zu gekommen. Sein Gesamteindruck: „Es hat mich ein bisschen an Footballspiele erinnert.“
  • Staatsanwalt Vaupel hielt J. vor, dass der sich getreten fühlende POK Walter angegeben hatte, dass er B. mehrfach aufgefordert habe, das Megaphon heraus zu rücken. Das schloss Zeuge J. klar aus: „Dann hat er von einem anderen Vorfall berichtet“, spottete er in deutlicher Form.
  • Auch der Beamte Hinkel sagte aus, dass B. aufgefordert worden sei, dass er das Megaphon abgeben sollte. Dass sei nicht geschehen. Da die Situation vor Ort nicht mehr zu klären war, sei versucht worden, B. aus dem Tumult zu entfernen. Hinkel sagte wörtlich: „Es ging in erster Linie darum, dass Megaphon weg zu nehmen.“ An keiner Stelle erwähnt er, dass es eine Erklärung der Festnahme gegeben habe. Und die Frage von Demonstrationsrecht gibt es auch längst nicht mehr, als die Polizei sich auf das Megaphon stürzt unter den Augen ihres Polizeipräsidenten und des Innenministers ...

c. Form des Abtransportes: Nur zwei Beamte oder deutlich mehr?
  • POK Walter will den Angeklagten B. alleine mit Herrn Ernst getragen haben.
  • Der Zeuge Krömker sagte dazu, dass je ein Beamter pro Gliedmaße eingesetzt wurde, um B. zu tragen. Auf den Vorhalt der abweichenden Aussage Walter's reagierte Krömker mit: „Es waren definitiv 4, die B. getragen haben.“
  • Ähnlich deutlich äußerte sich auch der Zeuge Br. - wörtlich: „Es waren immer 4 – 5 Beamte an seinem Körper.“
  • Auch der Zeuge Sch. sagte aus, dass vier Personen B. getragen hätten. Er beschrieb zudem, dass ein weiterer Beamte B. von hinten getreten habe. Auch nach dem Hinweis, dass B. dieses nicht geschildert habe, hielt Sch. an seiner Beobachtung fest: „Ich habe das gesehen, auch wenn Herr B. davon nichts mitbekommen hat.“ Das belegt die Glaubwürdigkeit des Zeugen, was die Beschreibung der Abläufe anbelangt.
  • Auf den Bildern zu dem Zugriff auf B. sind deutlich mehr, wenigstens fünf Beamte zu sehen
  • Der nachnominierte Beamte Hinkel bestätigte eher die Version, nach der mehr als zwei Beamte B. abtransportierten: So sagte Hinkel aus, dass zwei oder drei B. gezogen hätten. Er sei dabei an Armen und Beinen erfasst worden. Die beschriebene „Trage-Technik“ deckt sich mit den Beschreibungen des Angeklagten sowie der bereits genannten Zeugen.
  • Auch in einem direkt nach dem Vorfall erschienen Artikel in der Giessener Allgemeinen vom 13. Januar 2003 schreibt Autor Bernd Altmeppen, der bekannt für seine ablehnende Haltung gegenüber B. und der Projektwerkstatt ist: „B. musste schließlich von vier Beamten zu einem Polizeiwagen geschleift und wegtransportiert werden.“

d. Zwischenfälle oder Pausen während des Transports?
Weitgehend übereinstimmend beschreiben alle Zeugen mit Ausnahme von Herrn Hinkel, dass sich B. während des gesamten Abtransports zwar versteift, aber passiv verhalten habe. Der Polizist Ernst sagte wörtlich: „Sie haben sich nicht gewehrt. Sie haben sich einfach schleifen lassen.“ Als „Gerangel“ oder „tumultartige Situation“ wird die Gesamtsituation drumherum beschrieben. Alle Polizeizeugen gaben an, dass andere DemonstrantInnen an ihnen „gezerrt“ hätten. Deutliche Unterschiede gibt es zur Frage, ob es während des Abtransports Pausen oder Unfälle gab.
  • POK Walter behauptet, dass es während des Transports keine Pausen gab
  • Allerdings sagte er aus, dass es „ Übergriffe“ aus der „Sympathisanten-Gruppe“ gegeben habe. „Dadurch kamen wir mehrfach ins Straucheln“, sagte Walter wörtlich. Er wisse aber nicht, ob das vor Tschibo oder dem CDU-Stand passiert sei.
  • Der Zeuge Krömker berichtete detailliert, dass ein Beamter vor dem Schuhhaus Waldschmidt ins Straucheln gekommen sei und neu angesetzt worden sei, um B. wegzutragen
  • Der Beamte Fett bestätigt diesen Vorfall: Sein Kollege Ernst sei während des Abtransports von B. in der Nähe vom Schuhhaus hingefallen.

Schritt 3: Das Einladen und der angebliche Tritt
a. Hinkel mutiert zu Dietermann
  • Bemerkenswert ist, dass POK Walter nach zwei Jahren „bemerkt“, dass der ihm angeblich beim einladen helfende Beamte nicht mehr Hinkel, sondern Dietermann heißt
  • Dietermann gab an, dass er und Walter sich auch vor dem Einsatz schon kannten
  • Auch Hinkel gab an, er und Walter würden sich kennen
  • Da sich die Beamten offenbar kannten, wirkt es eher unglaubwürdig, dass Walter zwei ihm persönlich bekannte Polizisten grundlos verwechselt und das nicht einmal über eine Gerichtsverhandlung hinweg bemerkt – denn wir befinden uns ja in der Berufung, während Walter in der ersten Instanz bei der alten Version blieb. Somit bleibt ein Verdacht, dass Walter bewusst eine Person „eingewechselt“ hat, die seine Version deckt. Was allerdings nicht gelang, denn nach einigen auswendig klingenden Passagen weicht auch Dietermann von den Geschichten des POK Walter ab.

b. der Einladevorgang
Überstimmungen in den Zeugenaussagen finden sich lediglich in der Art, wie der Angeklagte B. in den Wagen befördert wurde: Er sei in Rückenlage mit dem Kopf voran in den Wagen gehoben oder geschoben worden und dort zwischen den Sitzen auf dem Boden zum Liegen gekommen – eine etwas merkwürdige Form der Beförderung von Personen in einem mit Sitzen ausgestatteten Fahrzeug. Das zeugt aber eher davon, wie überfordert die Beamten mit allem waren.

Der Rest des Hineinheben oder –zwängens in den Transporter wird von den Zeugen extrem unterschiedlich beschrieben:
  • POK Walter sagte aus, nur er und Dietermann hätten B. in den Wagen eingeladen
  • Dietermann konnte nicht ausschließen, ob weitere Kollegen beim Einladen dabei waren
  • Der Zeuge Krömker gab an, dass 3-4 Personen B. ins Auto gehoben hätten. Zwei Beamte hätten versucht, die Beine von B. von außen in den Wagen zu bekommen. B. habe sich in dieser Phase mit der linken Hand an der offenen Seitentür des Wagens fest gehalten. Krömker sagte aus, das Bugsieren in den Wagen hätte den Beamten erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Es habe so ausgesehen, als versuche man, einen Eichenschrank durch eine zwei Meter zu kleine Öffnung zu schieben. Die Beschreibung von Krömker weist viele Details auf, die für eine genaue Beobachtung, gute Erinnerung und eine hohe Glaubwürdigkeit sprechen

c. Tritt
Auch der vermeintliche Tritt selbst mutiert in Akten und Aussagen zu immer neuen Varianten.
  • Keine Körperverletzung im ersten Bericht von PK Ernst erwähnt (Blatt 8). Das ist seltsam, denn in der Verhandlung hier hat er gesagt, von dem Tritt und der Verletzung etwas mitbekommen zu haben – wenn auch sein Auftritt hier nicht gerade das Vertrauen in seine Person und seine Aussagen stärkte.
  • Die Version aus der Akte von Seiten des POK Walter lautete dann zunächst so: „Schon fast gänzlich ins Fahrzeuginnere verbracht, kam es zur aktiven und heftigen Gegenwehr des Beschuldigten. Es gelang ihm, seine Beine aus dem Griff / Umklammerung durch den Unterzeichner zu entziehen. Durch einen seiner plötzlichen gezielten Tritte mit beiden Stiefeln (Kampfstiefel mit aufgenageltem Metallbesatz an der Schuhspitze) in Richtung des Unterzeichners, der sich –situationsbedingt- in leicht gebückter Haltung befand, wurde dieser durch einen dieser Tritte an der Stirn getroffen und verletzt.“ (Strafanzeige von Walter, Blatt 4)
  • In der Hauptverhandlung war es dann nur noch ein Tritt mit einem Fuß. Beim Einladen, und zwar ganz am Anfang, habe „B. seinen Fuß lösen“ können. Zitat von Walter: „Es gab einen Tritt gegen meine Stirn.“ Das ist an der entscheidenden Stelle eine groteske Abweichung. Allein dieser seltsame Wandel von „gezielte Tritte mit beiden Stiefeln“ zu „ein Tritt mit einem Fuß“ und von „schon fast gänzlich ins Fahrzeuginnere verbracht“ zu „beim Anheben“ wäre Grund genug für einen Freispruch wegen totaler Verwirrung beim wichtigsten Belastungszeugen und vermeintlichen Verletzten.
  • Der genaue Zeitpunkt kann aber nicht nur von POK Walter, sondern auch von Herrn Dietermann nicht benannt werden obwohl auch letzterer behauptet, den Tritt gesehen zu haben.
  • Eine athletische Erklärung für den Tritt hat POK Walter nicht – wörtlich antwortete er auf die Frage, wie der Tritt athletisch vorstellbar sei: „Dass habe ich mich auch gefragt“. D.h. er kann sich gar nicht erklären, wie das passiert sein soll. Wenn alles so ablief, wie er es beschrieb, war der Tritt in der Tat nicht möglich. Walter findet auch keine Erklärung
  • An dieser Stelle schaltet sich das Gericht ein und bietet Walter eine Erklärung an: Nämlich dass ich vielleicht unbemerkt kurzzeitig mit dem Gesäß auf der Eingangsstufe des Transporters zum Sitzen kam. Diese Version stammt aus keinem Aktenvermerk und aus keiner Vernehmung. Es ist eine freie Überlegung des Gerichts, mit der es dem offensichtlich in Widersprüche verhedderten Polizeibeamten an der entscheidenden Stelle hilft, eine wenigstens für dieses Detail noch schlüssige Story zu schreiben. Die Zeugenaussage ist aber wegen dieser auch die Unabhängigkeit des Gerichts in Frage stellenden Hilfeleistung beim Erfindungen von Abläufen deutlich abgewertet. Ohne Hilfe der Vorsitzenden Richterin hätte POK Walter offensichtlich seinen Widerspruch, eine athletisch unmögliche Handlung zu beschreiben, nicht aufgelöst.
  • Walter sagte aus, er habe sich in dieser Situation „subjektiv allein“ gefühlt
  • Walter behauptete, keine körperliche Reaktion auf den Tritt gezeigt zu haben. Er habe auch nicht darüber geredet.
  • Der angeblich beim in den Wagen heben unmittelbar beteiligte Beamte Dietermann sagte aus, Walter habe sich an die Stirn gegriffen – Widerspruch zu Walter's Aussage
  • Der Beamte Ernst sagte aus hingegen, Walter sei aufgestanden und habe sich an den Kopf gegriffen. Das steht in auffälligem Kontrast zur Aussage Walter’s, er habe keine körperliche Reaktion gezeigt. Offensichtlich ist, dass Ernst sich diese Handlung ausgedacht hat, um Walter zu stützen – da er ja den Tritt nicht gesehen haben will.
  • Der Beamte Hinkel, der angab, keinen Tritt gesehen zu haben, sagte allerdings aus, Walter hätte in der Situation gesagt: „Ich bin verletzt Am Kopf.“
  • Der beim Einladen angeblich beteiligte Beamte Dietermann sagte, es habe einen Moment „Überraschung“ bzw. Bestürzung bei ihnen gegeben wegen des Tritts. Das muss, wenn nicht erfunden, auch für Außenstehende erkennbar gewesen sein
  • Zwei Zeugen, die den gesamten Einladevorgang aus nächster Nähe verfolgt haben, sagten aus, dass es keinen Tritt gegeben habe: Der Zeuge S. sagte aus, beim Einladen 2 m von dem Wagen entfernt gestanden zu haben. Er habe die Situation die ganze Zeit im Auge gehabt. Einen Tritt hätte er bemerkt. Es habe nie eine ruckartige, gegenläufige Bewegung entgegen der eingeschlagenen Bewegungsrichtung gegeben. Einen Tritt außerhalb des Wagens könne er ausschließen
  • Der Zeuge Krömker gab an, auf 5 Meter Entfernung bis zum Auto vorgegangen zu sein, als B. vor dem Wagen abgesetzt wurde. Den Einladevorgang beschreibt er sehr präzise. Einen Tritt schließt Krömker aus – nicht jedoch, dass POK Walter gelogen haben könnte.

Schritt 4: Nach dem Abtransport weiter im Dienst?
Der Verdacht, dass die ganze Geschichte erlogen ist, verstärkt sich noch angesichts des Umgangs von POK Walter mit der Frage, ob und wie er (trotz vermeintlicher Verletzung) Dienst geschoben hat.
  • Walter gab zuerst an, er sei nach dem Vorfall auf die Dienststelle gefahren, dort geblieben, habe den Arzt verständigt und eine Anzeige geschrieben
  • Die Festnahme von B. war um 13.10, das Attest entstand erst um 17.55
  • Erst auf mehrmalige Nachfrage gab er an, dass es einen Anruf von Meise gab, der noch mal eine Streife anforderte. Daraufhin sei er wieder zum CDU-Stand gefahren
  • Er sei also auf den Anruf von Polizeipräsident Meise noch mal zum CDU-Stand gefahren. Dort sei aber keiner mehr gewesen, er sei dann zurück gefahren.
  • Einer von POK Walter selbst unterzeichneten Meldung (Blatt 13) vom 11.01.2003 ist zu entnehmen, dass die Streife mit der Besatzung „ Walter-Fett-Neumann“ um 13:25 angefordert wurde. Der Grund – wörtliches Zitat: „Herr Polizeipräsident Meise braucht dringend Unterstützung im Seltersweg.“ Dort steht wörtlich: „Bis zum Abbau gg. 15.00 verblieb die Streife an diesem Infostand.“
  • Walter reagierte auf diesen Vorhalt mit der Lüge, es seien zwei Streifenwagen da gewesen, die andere sei am Ort verblieben
  • Sein Kollege Fett an während der Vernehmung an, nach dem Einsatz hätte Meise sie noch mal zum CDU-Stand angefordert, weil sich dort noch nicht alles beruhigt hätte. Sie seien dort bis zum Ende des Abbaus des Standes geblieben. Er sagte auch aus, dass sie die einzige Streife vor Ort waren. Damit bestätigt er die von Walter unterzeichnete Meldung – nämlich die, dass Fett, Neumann und Walter mindestens bis 15h weiterhin im Dienst waren.

Falschaussagen
POK Walter
An dieser Stelle verzichte ich auf eine akribische Auflistung offensichtlicher Falschaussagen von POK Walter. Einfacher ist eine Zusammenfassung seiner wahren Aussagen:
1. POK Walter war an diesem Tag im Dienst.
2. Innenminister Bouffier ließ POK Walter über Polizeipräsident Meise mitteilen, dass jegliche abweichende Meinung zur CDU „abgeräumt“ werden sollte.

Der Rest der Aussagen von POK Walter ist überwiegend frei erfunden, voller Widersprüche oder nicht schlüssig. Seine Vernehmung war ein dramatisches Ereignis in Hinblick auf die Frage, wer bei der Gießener Polizei so alles als Einsatzleiter fungiert bei politischen Protestes.

Zeuge Ernst
Herr Ernst will der Polizist gewesen sein, der zusammen mit POK „Versionen“-Walter den Angeklagten B. durch den Selterweg „geschleift“ habe.
  • Während der Zeugenbefragung zeigte PK Ernst Aggressivität gegen die Angeklagten und wenig Bereitschaft, Fragen zu beantworten. Zum Teil reagierte er mit zynischen Sprüchen
  • Ansonsten ließ er sich gerne die Worte in den Mund legen, um mit seinem Lieblingsausspruch „Ganz genau!“ weiteren Fragen auszuweichen.
  • Interessant ist Ernst's Aussage, POK Walter habe die Leute aufgefordert, das Transparent abzugeben – Walter selbst hatte angegeben, dass er bei diesem Vorgang überhaupt nicht dabei war.
  • Ins Abseits der Glaubwürdigkeit manövrierte sich Ernst durch seine Aussage zur „Verletzung“ von Walter: So beschrieb Ernst zu Beginn der Vernehmung, Walter habe eine – wörtlich -„ klaffende Wunde“ an der Stirn gehabt. Später wurde er erneut zu dieser Situation befragt – und siehe da, Ernst sagte nun aus: Walter habe sich an den Kopf gegriffen, er habe – ich zitiere – „eine Rötung auf der Stirn“ gesehen. Angesprochen auf den offensichtlichen Widerspruch behauptete Ernst zunächst, dass nicht gesagt zu haben. Sowohl ein Angeklagter, als auch die Vorsitzende Richterin hatten sich aber den präzisen Wortlaut seines Eingangsstatements notiert. Daraufhin sagte Ernst: „Dann verbessere ich mich. Es war keine klaffende Wunde, es war eine Rötung auf der Stirn.“ Allerdings gab es weitere Nachfragen zu dieser erheblichen Abweichung in seiner Aussage. Ernst wich aus und wiederholte die Aussage („Es war keine klaffende Wunde, es war eine Rötung auf der Stirn.“). Er gab an, keine Erklärung dafür zu haben, warum er das so gesagt hatte.
  • Hinterfragt habe er die Einsatzbefehle von POK Walter nicht: „Wir haben die Maßnahme durchgezogen, die er gesagt hat.“ Auch was sie da aufgelösten, interessierte ihn offenkundig nicht: „Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht, ob das eine Versammlung ist.“ Polizist halt.

Falschaussagen von Ernst
  • Die „ klaffende Wunde“, die später zu einer Rötung auf Walter’s Stirn wurde, ist eine klare, vorsätzliche Falschaussage. Ernst hat hier gezielt gelogen, um Walter als Opfer zu stilisieren.
  • Die zweite, erhebliche Falschaussage passt dazu: Walter sei nach dem Tritt, den er nicht gesehen habe, aufgestanden und habe sich an den Kopf gegriffen. Das steht in auffälligem Kontrast zur Aussage Walter’s, er habe keine körperliche Reaktion gezeigt. Offensichtlich ist, dass Ernst sich diese Handlung ausgedacht hat in der Hoffnung, Walter und dessen Strafanzeige zu stützen. Er wollte verdeutlichen mit einer neuen Erfindung, dass es diesen Tritt gegeben habe und es doch nun alle glauben sollen.

Zeuge Fett
Herr Fett brachte während der Vernehmung mehr eine persönliche Nacherzählung, was die Vorgänge rund um den CDU-Stand. Auch er hatte Widersprüche in seiner Darstellung, hinter denen aber weniger Absicht als eher Unsicherheit und Erinnerungslücken erkennbar wurden. Insgesamt wirkte er durch seine unbekümmerte Art in vielerlei Hinsicht eher authentisch und bemüht, nach bestem Wissen und Gewissen zu antworten.
  • Deutlich als andere Zeugen arbeite er die Rolle von Meise und Bouffier heraus. Er schildert glaubwürdig, dass Herr Meise zwei mal zu ihnen gekommen sei, um die „Wünsche“ des Innenministers zu überbringen. Wörtlich sagte er, dass Meise ihnen in Bezug auf das Megaphon erzählt habe, „der Innenminister hätte gerne, dass die Störung unterbunden wird“. Zudem sei der Innenminister kurz vor dem Zugriff persönlich auf sie zu gekommen mit der Bitte, „dass da was geschieht.“ Diese Informationen sind wichtig, denn der Druck der persönlich zuguckenden, weit über der niedrigrangigen Einsatzgruppe stehenden Führungsspitze von Polizei und sogar dem Innenminister persönlich kann ein wesentlicher Grund dafür sein, dass die Polizeitruppe im folgenden hektisch und übereifrig zu Werke ging, immer in Angst vor dem Versagen, vor dem strafenden Blick des Ministers, der hier politische Gegner weggeräumt haben wollte.
  • Nach dem Einsatz hätte Meise sie noch mal angefordert zum CDU-Stand, weil sich dort noch nicht alles beruhigt hätte. Sie seien dort bis zum Ende des Abbaus des Standes geblieben. Auf Nachfrage erklärt er, dass sie definitiv die einzige Streife vor Ort waren – damit war eine „Version“ von POK Walter hinfällig ... dieser hatte bei seiner Aussage eine zweite Streife erfunden, um seine Behauptung zu retten, dass man nur kurz noch mal am Einsatzort gewesen sei. Selbst in solchen Nebenaspekten hatte Walter folglich gelogen.

Zeuge Dietermann
Herr Dietermann ist der Beamte, an den sich POK Walter erst nah drei Jahren wieder „erinnern“ kann und der in der ersten Instanz „Hinkel“ hieß. Er soll Walter beim Einladen von B. in den Wagen unterstützt haben und will den angeblichen Tritt von B. gesehen haben – allerdings komplett ohne Erinnerung, wann der gewesen sein soll in der Phase des Hereinhebens durch die Tür des Wagens.
  • Beim Anheben habe es einen Tritt gegen den Kopf von Walter gegeben. Walter sei in leicht gebückter Haltung gewesen. Es habe einen Moment „ Überraschung“ bzw. Bestürzung bei ihnen gegeben wegen des Tritts, denn an und für sich habe B. sich passiv verhalten.
  • Die Beschreibung des konkreten Ablaufs stärkt nicht gerade die Glaubwürdigkeit des Zeugen: Wie der Tritt ausgeführt worden sein soll und in welcher Phase des Hebens der Tritt erfolgte, kann er nicht mehr sagen. Zitat: „In diesem ganzen Geschehnis gibt es keine abteilbaren Phasen.“
  • Zudem behauptete Dietermann, Walter habe sich an den Kopf gefasst – entgegen dessen Darstellung, er habe keine körperliche Reaktion gezeigt. Dietermann sagt aber wiederum, dass Walter in der Hocke blieb, als er sich an den Kopf fasste – was dann wiederum dem Polizeizeugen Ernst widerspricht.
  • Vollends verwirrend wird alles, als Dietermann vom Angeklagten B. gefragt, in welcher Phase des Durchhebens durch die Tür der vermeintliche Tritt geschah. Plötzlich weiß Dietermann das nicht, obwohl er doch den Tritt gesehen haben will. Aber ob noch draußen oder erst drinnen im Wagen – Dietermann kann sich an nichts erinnern. Da kann schon der Eindruck entstehen, dass jetzt einfach die abgesprochene Story zuende war und Dietermann unsicher wurde, weil hierzu die Verabredung fehlte, wer was sagt.
  • Dietermann gab an, dass er und Walter sich am Tag des Einsatzes schon kannten („ Wir kennen uns“). Das wirft kein gutes Licht auf den Mann mit den „Versionen“ – warum benennt Walter Dietermann erst nach so langer Zeit und „tauscht“ ihn gegen Hinkel aus? Dass sie sich gut kannten, macht unwahrscheinlicher, dass Walter ihn tatsächlich verwechselte ... aber wahrscheinlicher, dass er ihn für eine ihn bestätigende Aussage gewann.

Zeuge Hinkel
Der letzte der vernommenen Zeugen brauchte seine Version der Abläufe – und auch bei ihm häuften sich die Widersprüche. Um den Angeklagten B. zu belasten und die Geschichten des POK Walter irgendwie auch ein bisschen zu unterstützen, sagt er zweierlei:
  • Der Angeklagte B. hätte sich während des gesamten Ablaufs mit Armen und Beinen gewehrt ... eine allen anderen Zeugen komplett widersprechende Story.
  • POK Walter hätte ihm gegenüber zu erkennen gegeben, dass er verletzt sei. POK Walter sagte aber, genau das hätte er gegenüber keinem Beamten getan.
  • Zeuge Hinkel gehörte zu den Polizisten, die im Transporter mitfuhren, mit dem der Angeklagte B. abtransportiert wurde. B. hätte zwischen den Sitzen auf dem Boden gelegen, Hinkel hätte während der gesamten Fahrt auf ihm gekniet. Giessener Polizeiverhältnisse und offensichtlich nicht nur ohne Rechtsgrundlage, sondern bis ins Detail unverhältnismäßig.

Den sog. Tritt hat es also nie gegeben. Möglich ist dagegen, dass POK Walter, wenn er denn verletzt war, sich selbst verletzt hat. Unklar ist aufgrund seiner schwammigen Aussagen, wann das geschehen ist. Vorstellbar aber ist es bei Stürzen während des Tragens oder an der Autotür. Denkbar ist sogar, dass er beim Stürzen oder beim Durchzwängen des Angeklagten durch die Autotür tatsächlich auf bzw. gegen den Stiefel fiel. Davon hat der Angeklagte B. aber dann nichts mitbekommen, es hat auch kein Zeuge solches berichtet.

Soweit zu den Abläufen und der unglaublichen Fülle an Falschaussagen.

Gesamtbewertung
Es stellt sich die Frage, was aus all dem folgt.
  • POK Walter ist quantitativ unzweifelhaft der König der Falschaussager in diesem Prozess. Die Menge an absurdesten Erfindungen und auch die Schnelligkeit, wie er in seiner Vernehmung auf jede Widerlegung eine neue erfundene Geschichte brachte, prädestiniert ihn für einen Eintrag ins Guinessbuch der Rekorde, aber nicht als Beleg für einen Fusstritt des Angeklagten B.
  • Sein Kollege Ernst brachte zwar weniger Falschaussagen, weil er vor allem viele Frage blockte und nicht antworten wollte. Aber er präsentierte die auffälligsten Erfindungen über die Abläufe. Seine blumige Erzählung über den POK Walter, wie er aufstand und sich an die Stirn fasste, konnte Mitleid erregen. Zu dumm nur, dass POK Walter selbst schon den Starken gemimt hatte und aussage, auf den Tritt gar nicht reagiert zu haben. Gleiches für seine andere Erzählung, die Krönung der vielen Falschaussagen in diesem Prozess, die „klaffende Wunde“. Dumm, dass er sogar selbst später von was anderem redete. Aber man kann es ja mal probieren, klingt doch nicht schlecht ...
  • Alle Polizeizeugen versuchten mit ihren Berichten, den Angeklagten zu belasten und die Erfindung des Trittes irgendwie zu stützen. Allerdings erfanden sie alle völlig andere Stories. Das stärkt den Verdacht, dass der Tritt der Phantasie entspringt. Es hat ihn nie gegeben.
  • Es nützt auch nichts, alle anderen Polizeizeugen als gedächtnisschwach zu erklären oder andere Tricks anzuwenden, um die Situation zu retten. Die Aussage von POK Walter ist auch alleinstehend keinerlei Basis für eine Verurteilung, sondern ein einziges Chaos von Widersprüchen und offensichtlichen Erfindungen.
  • Gänzlich egal können an dieser Stelle sogar die verschiedenen Zeugen sein, die aus teilweise sehr guter Position die Situation am Transporter beobachteten und keinen Tritt sahen trotz in intensiver Beobachtung. Staatsanwalt Vaupel wird zwar wie üblich nachzuweisen versuchen, dass sie irgendwie wegen einer vorbeifliegenden Taube oder was weiß ich eine Zehntelsekunde mal nichts gesehen haben könnten, während die gigantischen Widersprüche und Absurditäten der Polizeizeugen ihm immer keine Bauchschmerzen machen. Aber auch das nützt nicht. Es muss nicht bewiesen werden, dass es keinen Tritt gab. Sondern es muss nachgewiesen werden, dass es ihn gab. Das ist nicht gelungen. Und zwar deutlich nicht. So deutlich, dass die Unschuld des Angeklagten als erwiesen angesehen werden sollte.

Es bleibt aber die Frage, warum das Ganze so inszeniert wurde. Wahrscheinlich wird das nie so richtig geklärt werden. Aber einige Dinge liegen nahe:
  • Die Polizeitruppe war definitiv völlig überfordert. Es waren unerfahrene, schlecht ausgebildete einfache Polizeibeamte, die einer politischen Gruppe entgegengestellt wurden, die in den Wochen davor von Staatsschutz, Bereitschaftspolizei usw. attackiert wurde. Nur an diesem 11.1.2003 waren die alle nicht da. Oder vielmehr: Nicht sichtbar. Das ist seltsam. Denn das Vorspiel des 11.1.2003 musste einiges erwarten lassen. Der damalige Staatsschutzchef Puff hat hier in seiner Aussage auch klar ausgesagt, dass die Aktionen erwarteten nach den Festnahmen und der Attacke auf die Projektwerkstatt mit technischer Zerschlagung. Außerdem sind mit Meise und Bouffier zentrale Personen am CDU-Stand, an denen sich der Ärger entladen könnte. Doch obwohl bei weniger hochgeputschten Aktionen immer riesige Kontingente hochqualifizierter Polizei das Umfeld der Projektwerkstatt beschatten, ist diesmal niemand zu sehen. Nur ein ganz paar der Schutzpolizei.
  • Die Schutzpolizei wird dann vor Ort von Innenminister Bouffier und Polizeipräsident Meise unter Druck gesetzt, endlich was zu machen. Sie agieren chaotisch und auf eigene Faust. Sie fordern einfache Streifenwagen an. Noch mehr Polizisten dieses schlechten Ausbildungsgrades kommen. Weiterhin – zumindest nicht offiziell – keine Bereitschaftspolizei, kein Staatsschutz, auch keine Führungspersonen Gießener Polizei wie sonst immer. Die wenigen, für so etwas definitiv nicht ausgebildeten, im Demonstrationsrecht völlig unerfahrenen und unwissenden Beamten stürzen sich ins Getümmel – mit dem bekannten Ergebnis.
  • Es fällt schwer, das Ganze in dieser Version zu glauben. Die Gießener Polizei hat so noch nie gearbeitet. Ein Innenminister wird nicht mal einfach einem solchen Risiko ausgesetzt – und das auch noch wissentlich. Es dauert sonst nicht so lange, bis handlungsfähige, trainierte Polizisten da sind. Wenn Projektwerkstättler agieren, sind die immer schon vorher da. Auch die zivile Polizei, sonst immer der „Schatten“ der Projektwerkstättler (wie auch ihr Chef KHK Urban hier berichtete), fehlte.

Nein, es könnte auch ganz anders gewesen sein. Ich hielte es für angemessen, die Untersuchung über den 11.1.2003 einmal umfangreicher anzugehen. Das übersteigt die Möglichkeiten der Angeklagten und auch dieser Gerichtsverhandlung. Ist es nicht denkbar, dass hier eine Eskalation zielgerichtet herbeigeführt werden sollte? Der Blick auf die Abläufe legt das doch nahe, die Bewertung ist aber reine Spekulation:
  • Die Polizei, sicherlich in Rücksprachen mit anderen Kreisen, hat am 9. und 10.1.2003 versucht, die hier Angeklagten für länger aus dem Verkehr zu ziehen und die Projektwerkstatt zu zerschlagen.
  • Das ist, wie bekannt, deutlich nicht gelungen.
  • Daraufhin inszeniert die Polizeiführung, mit wem auch immer zusammen. die Begegnung im Seltersweg. Die Anwesenheit von Bouffier wäre kein Zufall, wer dürfte mindestens beteiligt gewesen sein, wenn nicht gar ein Drahtzieher der Ereignisse. Auf der einen Seite der Protest, auf der anderen die Schlüsselreize: Parteien, besonders die CDU ... und passgenau – wer will an Zufall glauben? – daneben wie Figuren in der Schießbude, der Polizeipräsident und der Innenminister. Zu ihrem Schutz: Zwei schlecht ausgebildete Schutzpolizisten. Vielleicht rechnete die Polizei und das Innenministerium mit dem Chef Bouffier, der ja auch in Gießen die erste Geige in seiner Partei spielt, schon hier mit einer Attacke. Gründe hatten sie ja gegeben. Aber die ProtestlerInnen bleiben besonnen, trotz dem ganzen angestauten Ärger. Da versucht die Führung mehr. Sie setzt die armen Beamten, die wahrscheinlich von all dem gar nichts ahnen, dass auch sie hier nur als Setzfiguren, d.h. als Köder einer fiesen Inszenierung, im Spiel sind und verheizt werden, unter Druck, selbst anzugreifen, in der Hoffnung, dann endlich würden die Projektwerkstättler ausrasten. Das wäre auch verständlich gewesen, aber die Projektwerkstättler und auch die Angeklagten bleiben immer noch ruhig – egal ob der FWGler Hasenkrug seine Mätzchen macht oder das Transparenz mit Gewalt attackiert wird. Der Plan klappte nicht, auch der Angeklagte B. hielt zwar sein Megaphon fest, andere ProtestlerInnen zerrten an Polizisten herum – aber eine Eskalation gab es nicht.
  • Kann es sein, dass die Polizei durchaus vor Ort war? Dass hinter Fenstern Videokameras surrten und auch andere Polizeitruppen bereitstanden – aber das Wichtigste war, endlich einen Grund für harte Polizeizugriffe und weitere Kriminalisierung zu haben?
  • Und als das alles nicht funktionierte – und zwar genau weil die Protestgruppen zwar entschieden, aber im Gegensatz zur überforderten Polizei besonnen agierten – da haben dann der Herr Puff und der Herr Walter wenigstens noch die beiden Anzeigen geschrieben und die Verletzungen erfunden, um dieses Verfahren hier zu provozieren, wegen dem wir hier zusammensitzen?

Ich habe keine Beweise für diese oder irgendeine ähnliche Version. Aber ich habe vor allem keine sonstige Erklärung für die Vorgänge vom 11.1.2003. Die spröde Aussage von Staatsanwalt Vaupel vom ersten Prozesstag, man wolle doch keine Verschwörung unterstellen, finde ich zu billig. Ich will das nicht unterstellen, aber ich habe eine Menge Fragen und finde keine Antworten außer solchen, wie ich sie eben und vielfach anders gestellt habe. Und, Herr Vaupel, ihre ständigen Vertuschungsmanöver und Kriminalisierungsbemühungen führen auch nicht dazu, dass ist von dem Verdacht abkomme, dass hier nicht gezielte Kriminalisierung läuft. Und dass Sie als einer der Hauptakteure mitten drinstecken in diesem widerlichen Sumpf!

Formale und weitere Aspekte
  • Walter sagte aus, er habe sich in dieser Situation „ subjektiv allein“ gefühlt. Das ist auch der Grund, warum er an dieser Stelle den Tritt erfindet – schließlich fühlt er sich ja ohne weitere Zeugen, die etwas anderes behaupten könnten als er.
  • Im Formular für den Gewahrsam wird nur Widerstand, aber keine Körperverletzung erwähnt. Angesichts der Stimmung bei der Polizei wäre ein solcher Tritt sofort skandalisiert worden! Zumal Polizist Ernst die Anzeige schrieb, der ja von dem Tritt gewusst haben will.
  • Wäre der Tritt mit einer Waffe (!) erfolgt, wäre wohl die Waffe sichergestellt worden. Nichts dergleichen ist passiert. Sähe doch schlecht aus für mich, wenn hier jetzt eine Stiefel als Waffe präsentiert würde mit einem Untersuchungsergebnis mit Hautteilen an der Spitze. Gibt’s nicht, weil’s den Tritt nicht gab!
  • Zumindest einige Anhaltspunkte sprechen dafür, dass vielmehr Walter und andere erhebliche und unverhältnismäßige Gewalt angewendet haben. Über den Angeklagten aber sagt selbst Walter, dass er sich nicht gewehrt hat. Wieso dann aber der Tritt in der „unsinnigsten“ Situation, als alles vorbei war? Dabei hat dann POK Walter mit dem Griff in die Genitalien erhebliche Gewalt ausgeübt, eine plötzliche Bewegung in diesem Moment kann ich nicht ausschließen als Reaktion auf Schmerzempfindung. Allerdings hat kein Polizist in dem Moment auf irgendetwas reagiert.
  • Der Angeklagte hat in der spezifischen Lage, in der er war (auf dem Kopf) gar nicht gezielt treten können – aus athletischen Gründen. Das gab selbst POK Walter zu, dass er keine Erklärung für den vermeintlichen Tritt hat, wie der überhaupt zustande gekommen sein soll.
  • POK Walter ist hinterher im Streifenwagen gefahren (Blatt 13) zu einem weiteren Einsatz am Ort. Und er hat das in der Vernehmung zu vertuschen versucht, was Bände spricht darüber, was er hier eigentlich versucht hat.

Versammlungsrecht: Die gesamte Polizeiaktion war rechtswidrig, unverhältnismäßig und selbst eine Straftat
  • Es handelte sich um eine spontane Demonstration gegen die weniger als 48 Stunden zurück liegenden Polizei-Aktionen – die unbegründete und unverhältnismäßige Festnahme in Grünberg sowie die rechtswidrige Hausdurchsuchung der Projektwerkstatt in Saasen. Letztere war sogar nur wenige Stunden zuvor, es war nur eine Nacht seitdem vergangen.
  • POK Walter schilderte den Ablauf als offensichtlich erkennbare Demonstration mit inhaltlichem Bezug zum Vortag, er nannte u.a. die Hausdurchsuchung in der Projektwerkstatt als Inhalt der von B. gehaltenen Reden.
  • Die Polizei selbst hat das Demonstrationsrecht anerkannt. Der vom Angeklagten und mehreren Zeugen (u.a. J., Sch. und S.) beschriebene „Glühwein“-Vorgang, bei dem die Polizei den B. anmachenden und störenden Stadtparlmentarier Hasenkrug zur Seite drängte, hat dies deutlich untermauert. Die TeilnehmerInnen der Versammlung inklusive dem Angeklagten wurden berechtigterweise in ihrer Überzeug gestärkt, dass ihr vom Grundrecht garantiertes Versammlungsrecht gegen Störungen verteidigt wird. Kein einziger Polizist berichtet jedoch davon, dass der Demonstration als solcher die Auflösung der Versammlung erklärt wurde.
  • Walter bestätigte auch in der zweiten Instanz: Bouffier befahl Angriff auf Demo, ein anderer Beamter sagt sogar, Bouffier hätte ein zweites Mal nachgefragt und gedrängelt. Das ist rechtswidriger Befehl, nämlich von einem Wahlkämpfer, für einen rechtswidrigen Angriff.
  • „Da die Versammlung nicht angemeldet war, sollte sie aufgelöst werden, das forderten sowohl Herr Bouffier und auch Herr Meise“. So steht es im Protokoll der ersten Instanz, S. 14, 3. Absatz). Und inhaltlich übereinstimmend sagt POK Walter es auch in dieser Verhandlung. Die Rechtsauffassung von POK Walter ist irrig, aber auch er zweifelt gar nicht daran, dass es sich hier um eine Versammlung handelte.
  • Selbst bei einer nicht spontanen Demonstration wäre die Auflösung unverhältnismäßig und rechtswidrig gewesen - das Fehlen einer Anmeldung ist keine Rechtsgrundlage für eine solche Handlung. Das sei aber nur am Rande bemerkt, da hier kein Zweifel besteht, dass am 11.1.2003 eine formal korrekte, spontane Demonstration stattfand.
  • Der Angriff auf Transparent und Megaphon dagegen war insgesamt und in allen Details unrechtmäßig, da eine spontane Demonstration angegriffen wurde, ohne sie aufzulösen. Dafür hätte auch kein Grund bestanden.
  • Es wurden während des Verfahrens von keinem Zeugen stichhaltige Gründe genannt, die eine Auflösung einer Versammlung gerechtfertigt hätten – wie z.B. Aufrufe zu Gewalt oder von der Versammlung ausgehende Straftaten. Es wurde ja auch nie versucht, sie aufzulösen. Warum auch.
  • POK Walter war in Sachen Demorecht völlig ahnungslos
  • Die genannten Begründungen von POK Walter („verbotene Demonstration“, „Ruhestörung“) bieten keine Rechtsgrundlage für eine Auflösung einer Demonstration. Insbesondere die erwähnte „Ruhestörung“ kann nicht als Begründung für den Zugriff dienen. Zum Wesen von öffentlichen Demonstrationen gehört, dass dabei der Protest in einer Form kundgetan wird, die über den Kreis der VersammlungsteilnehmerInnen wahrnehmbar ist – z.B. mit Hilfe eines Megaphons. Es gibt eindeutige Urteile, dass, wer sich wie die CDU in der Öffentlichkeit präsentiert, damit rechnen muss, dass KritikerInnen diese Öffentlichkeit ebenso nutzen, um ihre Meinung kund zu tun.
  • Ich verweise an dieser Stelle ausdrücklich auf ein Urteil des VG Berlins ins Bezug auf eine Versammlung, die sich gegen ein öffentliches Bundeswehr-Gelöbnis richtete: Die Versammlungsbehörde wollte die Gegendemonstra tion in einen durch einen Gebäudekomplex vom Platz der Vereidigung getrennten Bereich abdrängen. Das VG Berlin aber hat die Veranstaltung auf einem Platz zugelassen, von dem aus der Protest bei Verwendung von Lautsprechern auf der Vereidigung zu hören war. Die Entscheidung wurde unter Berufung auf das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) damit begründet, die Bundeswehr müsse, wenn sie die Öffentlichkeit für eine wir kungsvolle Darstellung nutzen will, damit rechnen, daß Kriti ker ihre Einwände am selben Ort öffentlich zu erkennen geben. Die Bundeswehr könne nicht beanspruchen, das Gelöbnis auf einem öffentlichen Platz vor einem ihr wohlgesonnenen Publi kum durchzuführen. Kritische Äußerungen seien zu ertragen, solange nicht der Ablauf der Veranstaltung konkret beeinträch tigt wird; gewisse Beeinträchtigungen der angestrebten Würde und Feierlichkeit seien hinzunehmen.
  • Eine Ruhestörung liegt nur dann vor, wenn aus der Demonstration heraus zielgerichtet und dauerhaft nur der CDU-Stand beschallt worden wäre, die – eine solche Behauptung hat aber weder Walter, noch ein anderer Beamter gemacht, der die Maßnahmen gegen B. durchgeführt hat. Die Megaphon-Ansprachen haben nach Aussage von POK Walter (Seite 1 der Strafanzeige, Blatt 3) wenige Minuten gedauert und seien nach einer kurzen Pause wiederholt worden. Ähnlich beschreibt der Zeuge J. die Abläufe. Ausführungen zur Zielrichtung der Beschallung sind seinen Aktenvermerken und Aussagen vor Gericht nicht zu entnehmen.
  • Formal bedeutet dass: Der Angriff war rechtswidrig, es liegt auch daher kein Widerstand vor, wenn eine Verhaftung rechtswidrig ist (siehe dazu: Urteil des Amtsgericht Frankfurt 31.3.2004) und § 113, Abs. 3 des StGB.
  • Der Angriff ist nicht nur rechtswidrig, sondern selbst eine Straftat nach Versammlungsgesetz! Dort heißt es im § 21: „Wer in der Absicht, nichtverbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
  • Zudem ist die Festnahme des Angeklagten B. rechtswidrig und unverhältnismäßig selbst dann, wenn man nicht akzeptiert, dass es eine legale Demonstration war. POK Walter hat in seiner Vernehmung zugegeben, dass er das niedrigschwelligere Mittel „ Platzverweis“ nicht angewendet hat, weil er davon ausging, dass „sich eh niemand dran halten würde“. So kann die Polizei nicht vorgehen. Die Polizeigesetze sind ohne eine Katastrophe und gegen der Polizei unglaubliche Macht. Aber sie muss sich dran halten und kann nicht selbst entscheiden, ob sich jemand an einen Platzverweis halten würde. Darum ist die Festnahme rechtswidrig, weil ein Platzverweis dem Ziel der Ruhe für den CDU-Stand auch gereicht hätte.

Der 11. Januar ist fester Teil eines von absurden Polizeiaktionen bestimmten Wochenendes. Am Anfang stand die rechtswidrige Verhaftung der beiden Angeklagten. Es folgte die vom Landgericht Giessen als rechtswidrig erklärte, sogenannte „Hausdurchsuchung“ der Projektwerkstatt, die tatsächlich der Versuch war, ein politisches Zentrum technisch zu zerschlagen. Die Lage bei der Polizei war denkbar angespannt – sämtliche Amtshandlungen des Wochenendes tragen die „Handschrift“ einer von Hass und Verzweiflung geprägten Stimmung innerhalb des Polizeiapparates.

Die Anzeige von Walter ist Teil der gezielten Kriminalisierung unerwünschter Protestgruppen in Folge der eskalierende Ereignisse rund um den 9.-11.01.2003. Als Beleg dafür sei auch genannt, dass POK Walter im Nachhinein auch noch versuchte, weitere Repression gegen den Angeklagten B. zu organisieren (OWi durch Stadt, siehe Blatt 14)

Die Verwirrung der PolizistInnen war unübersehbar groß. Ebenso ihre technische Überforderung mit der Situation. Der Zeuge Krömker sagte mehrfach aus, die Beamten hätten sich sehr ungeschickt angestellt. Es ist polizeitaktisch völlig unverständlich, warum an diesem Tag völlig überforderte Beamte eingesetzt wurden und nicht etwa Beamte der Bereitschaftspolizei, die im Umgang mit Demonstrationen aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung viel souveräner mit der Situation hätten umgehen können. Zudem beherrschen sie Tragetechniken, bei denen tatsächlich zwei Personen ausreichen würden, um eine andere Person abzutransportieren.

Gewalt ging vor allem von der Polizei aus – und von noch einer Seite: Mehrere CDU-Mitglieder schlugen auf DemonstrantInnen ein. Das hat nicht zu Festnahmen oder Ermittlungsverfahren geführt, obwohl Polizei und Staatsanwaltschaft Kenntnis davon hatten.

Innenminister Volker Bouffier war unmittelbar in die gesamten Vorgänge verstrickt. Unklar ist, auf welcher Grundlage er die Anweisungen erteilt hat, Transparent und Megaphon zu entfernen. Nach den Schilderungen der Zeugen ist nur eine Erklärung schlüssig: Bouffier hat als Wahlkämpfer der CDU agiert. Dabei wollte er keinen Protest oder Kritik an den politischen Positionen der CDU zulassen. Er hat sein Amt als Innenminister gezielt instrumentalisiert, um abweichende Meinungen aus dem Seltersweg zu verbannen – nur die „law and order“-Parolen seiner Partei sollten öffentlich wahrnehmbar sein. Es ergibt sich von selbst, dass die offizielle Aufgabe der Polizei nicht darin besteht, den Wahlkampf von Parteien vor kritischen Äußerungen zu schützen.

Freispruch
Aus allem ergibt sich eine völlig klare Konsequenz: Freispruch. Und zwar nicht wegen Zweifeln an der Schuld des Angeklagten, sondern weil klar nachgewiesen ist, dass der Angriff auf die Demonstration und damit auch der auf den Angeklagten B. rechtswidrig war, dass Widerstand gegen die Staatsgewalt also gar nicht strafbar wäre, aber auch eindeutig nicht vorkam. Und dass der Tritt nicht stattgefunden hat. Ein klarer Fall – außer hinsichtlich der Frage, wer auf Seiten der Polizei und anderer Institutionen hier eigentlich welches Spiel gespielt hat ... und ob da nicht viele Dinge dabei waren, die politisch unerträglich, aber auch schlicht strafbar waren. Ich empfehle statt einer Verurteilung hier einen Untersuchungsausschuss für den 11.1.2003 bzw. das ganze Wochenende.

Eine Ironie der Geschichte ist der vergleichbare Vorgang am 11.4. vor dem Landgericht Gießen am sechsten Prozesstag ...
Ich werde darauf noch zum Abschluss eingehen.

Links
  • Download dieses Plädoyers als .rtf
  • Übersichtsseite zum Plädoyer-Freitag am 11. Verhandlungstag
  • Übersichsseite zur Berufungsverhandlung
  • Übersicht zum Rahmenprogramm des Verfahrens (u.a. Veranstaltungsreihe zu Repression, Knast und Justiz)
  • Polizeidoku Giessen- über Fälschungen und Hetzte seitens Polizei, Presse und Politik

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