Projektwerkstatt Saasen

MEDIEN, INTERNET & CO.

Wikipedia: Kontrollierter Mainstream


1. Wikipedia: Kontrollierter Mainstream
2. Löschen, Löschen, Löschen ... bei Wikipedia
3. Wikipedia unter Kontrolle
4. Wikipedia unter Zensur: Seiten aus der Projektwerkstatt
5. Wikipedia unter Zensur: Unerwünschter SeitenHieb-Verlag
6. Autoritäre Strukturen im Internet: Mehr Beispiele

Die Qualitäten offener Medien sind eigentlich bekannt. Zwar ist das Gezetere von ideologischen Demokrat*innen bis Anhänger*innen des Autoritären groß, doch alle Untersuchungen zeigen immer wieder dasselbe: Offenheit schafft und sichert Qualität. Ein beeindruckendes Beispiel war und ist Wikipedia. Es begann weitgehend offen und unkontrolliert. Die Folge: Hohe Qualität. Dann zog Zensur ein, unter dem Deckmantel der Qualitätssicherung. Die Folge: Abnehmende Qualität.

Beides wurde mehrfach durch Untersuchungen bestätigt.

Aus "Googles Gegner", in: FR, 28.12.2007 (S. 48)
Während Kritiker immer wieder an der Seriosität der "anarchischen Wiki-Welt" zweifelten, fanden Studien heraus, dass die Einträge durchaus mit althergebrachten Lexika mithalten konnten, wenn nicht sogar besser waren.


Online-Enzyklopädie startete einst hoffnungsvoll als hierarchiearmer Raum. mutierte dann aber zu einem der bestkontrolliertesten Orte im Internet. Inzwischen dominieren auf Wikipedia neben den Lobbyist*innen vor allem technophile Emporkömmlingen, die den angepasst-fortschrittsgläubigen Mainstream mit Wahrheit verwechseln. Bei denen ist unabhängiges, politisches Engagement per se verdächtigt (in deren Sprache: NPOV), während die - im Kapitalismus immer profitorientierte - Wissenschaft die umworbene Autor*innenschaft darstellt.

Im Original: Ausladung an einen Schreiberling
Wenn Du ein Problem mit der Exekutive, Legislative und/oder judikative von D hast solltest Du Dir vielleicht überlegen ob Wikipedia das richtige Projekt für Dich ist.

Gelebte Demokratie: Wikipedia als Abbild herrschender Diskurse
Das Konzept von Wikipedia entspringt dem weit verbreiteten Irrtum, zu jedem Ding könne es nur eine Wahrheit geben. Der Rest seien Abweichungen. Die Wahrheit sei nicht immer leicht zu bestimmen, aber möglich. Das Gegenmodell, dass alles Wahrnehmungen von Menschen mit unterschiedlichen Blickwinkeln ist, hat bei Wikipedia wenig oder gar keinen Platz. Letzteres müsste zu einer völlig anderen Form der Darstellung führen, nämlich der Gegenüberstellung unterschiedlicher Auffassungen. Wikipedia ist die Organisierung von Einheit aus einer Menge von Menschen. Das ist die Idee von "demos", Volk, Schwarmintelligenz, Plenum und andern Begriffen der Masse als Gesamtwille. Aus der Vielfalt und Differenz wird etwas Einheitliches destilliert (meist unter massiv hierarchischem Zugriff der Privilegierten). Insofern ist Wikipedia gelebte Demokratie und ein gutes Beispiel, dass diese Gesellschaftsform ein Typus der Beherrschung ist - nämlich der Unterschiedlichkeit der Vielen durch die Hegemonie des geformten Gesamtwillen (Diskurse, Hierarchie, Norm, hegemoniale Begriffe usw.). Ein Wikipedia-Nutzer stellte fest, "dass sich in den Artikeln langfristig diejenigen Positionen durchsetzen werden, die in der Gesellschaft gerade dominant sind. Allerdings noch nicht einmal in der Gesamtgesellschaft, sondern in der Gruppe der Wikipedia Autoren, also vor allem der jungen, gut gebildeten, männlichen Naturwissenschaftler. Sie stellt die meisten Benutzer und Administratoren." Damit "trägt Wikipedia dazu bei, die gerade herrschende Ordnung zu legitimieren". Den hegemonialen Kreisen von Wikipedia wird die Kritik Ansporn sein. Sie wollen Abbild der herrschenden Elitenmeinungen sein - nicht umsonst werden erhebliche Ressourcen investiert, um Menschen mit tollen Titeln für Wikipedia anzuwerben und ihnen dort die Mitarbeit attraktiv zu gestalten. Das geht vor allem über Privilegien.

Im Original: Abbild des Mainstreams: Wikipedia
Aus BENUTZER:NE0N02: "Wikipedia: Eine kritische Sicht", in Wikimedia Deutschland e.V. (2012), "Alles über Wikipedia", Hoffmann und Campe in Hamburg (S. 43ff.)
Die Wikipedia ist ein Projekt, das alle gedruckten Universalenzyklopädien sowohl in der Artikelzahl als auch im Umfang weit hinter sich gelassen hat. Auch wenn die Artikelqualität schwankt, bestätigen zahlreiche Untersuchungen, dass zufällig ausgewählte Wikipedia Artikel in puncto Richtigkeit, Vollständigkeit, Aktualität und Verlässlichkeit mit den gedruckten Enzyklopädien durchaus mithalten können bzw. diese sogar übertreffen. Chris Anderson, der Chefredakteur der amerikanischen Technologie Zeitschrift Wired, weist darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit für einen fehlerfreien und zutreffenden Artikel sehr hoch ist, auch wenn einzelne Artikel durchaus Fehler, Vandalismus etc. enthalten können.
Zu Recht steht auf der Startseite: "Wikipedia ist ein Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie ... ", also noch nicht die Enzyklopädie selbst. Gemessen am eigenen Anspruch, das gesamte Wissen der Welt zu sammeln, steht Wikipedia erst am Anfang, sowohl quantitativ als auch qualitativ: Von den Millionen Lebewesen haben zum Beispiel erst die wenigsten einen Artikel, noch nicht einmal alle in Mitteleuropa vorkommenden Baumarten sind abgedeckt. Im Bereich der Popkultur hinkt die deutsche Wikipedia der englischen weit hinterher. In letzter Zeit wurde häufiger kritisiert, dass gerade bei Überblicksartikeln wie "Frühmittelalter" noch große Mängel bestehen. Wikipedia ist ein Generationenprojekt. Die meisten Artikel sind bereits heute sachlich richtig und beinhalten keine gravierenden Fehler. Es wird aber wahrscheinlich noch weitere Jahrzehnte dauern, bis sie alle ein stilistisch und inhaltlich zufriedenstellendes Niveau erreicht haben.
Die Wikipedia leidet aber meiner Meinung nach an einigen vermeidbaren Problemen, die ihre Weiterentwicklung erschweren: Das Hauptproblem ist die jetzige Definition von "NPOV" (Neutral Point of View Neutraler Standpunkt). Wikipedia-Gründer Jimmy Wales hat sich bei der Aufstellung dieses Prinzips an einem eng positivistischen Wahrheitsbegriff orientiert, der in den Naturwissenschaften noch akzeptabel sein mag, aber in den Sozialwissenschaften, wo soziale Interessen Forschungsprogramme und Erkenntnisse beeinflussen, große Probleme bereitet. Nicht zufällig drehen sich die großen Methodendebatten in der Soziologie um Fragen der möglichen oder unmöglichen Werturteilsfreiheit. Da in Wikipedia abgestritten wird, dass sozialwissenschaftliche Erkenntnisse immer auch durch bestimmte soziale Interessen beeinflusst werden, können diejenigen Benutzer, deren Meinung mit dem gerade existierenden Mainstream übereinstimmt, behaupten, sie verträten die reine Wahrheit, während alle anderen "POV Pusher" oder "Men on a Mission" seien, die von Wikipedia ferngehalten werden müssen. Nur derjenige, der aus der Position der gesellschaftlich dominierenden Ideologie bzw. des dominierenden Wissens spricht, also der Doxa im Sinne von Bourdieu, kann diesen Vorwurf äußern. Das bedeutet, dass sich in den Artikeln langfristig diejenigen Positionen durchsetzen werden, die in der Gesellschaft gerade dominant sind. Allerdings noch nicht einmal in der Gesamtgesellschaft, sondern in der Gruppe der Wikipedia Autoren, also vor allem der jungen, gut gebildeten, männlichen Naturwissenschaftler. Sie stellt die meisten Benutzer und Administratoren. Während die Enzyklopädie von Diderot und d'Alembert die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit noch kritisierte, trägt Wikipedia dazu bei, die gerade herrschende Ordnung zu legitimieren.
Das bewirkt auch eine offene Flanke nach rechts außen. In einigen Artikeln wie "Polenfeldzug", wo die Schuld Nazideutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges durch Verweis auf angebliche polnische Aggressionen relativiert wird und Revisionisten wie Alfred de Zayas als reputable Quellen gelten, ist offen rechtsextremes Gedankengut anzutreffen. Verbindungsglied zu weit rechts stehenden Positionen ist die in Wikipedia dominante Totalitarismustheorie.
Ein weiteres Problem ist der Umgang der Wikipedia Administratoren mit den gewöhnlichen Benutzern. Die Administratoren sind sich einig: "Wikipedia ist keine Demokratie." Bei ihrer Sanktionierung von normalen Benutzern entscheiden sie in der Regel nicht nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, sondern nach einem engen utilitaristischen Kosten Nutzen Kalkül für Wikipedia. Wenn sie davon ausgehen, einen unerwünschten Störer vor sich zu haben, der zudem mit ihrer Meinung nicht übereinstimmt, sperren sie häufig beim geringsten Anlass. Altgediente "Qualitätsautoren" können sich dagegen eine Menge herausnehmen und werden bestenfalls mit Wattebäuschchen beworfen. Diese Willkür führt aber zu einem vergifteten Arbeitsklima und schreckt viele Menschen von der Mitarbeit bei Wikipedia ab.
Die meisten Admins werden gewählt, weil sie in einem Fachgebiet Bedeutendes geleistet haben. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass sie besonders dazu geeignet sind, Konflikte zwischen den Usern zu lösen. Im Allgemeinen sind sie es nicht. Häufig verschärfen sie durch ihr Agieren diese Konflikte eher noch zusätzlich.
Nicht zuletzt dieses häufig unbefriedigende Arbeitsklima bewirkt, dass Frauen in der Wikipedia sehr unterrepräsentiert sind.
Auch unter einem anderen Gesichtspunkt sind die Folgen von Wikipedia zumindest ambivalent: Das Aufkommen von interaktiven Diensten des Web 2.0, wofür Wikipedia Vorreiter war, hat zwar die Möglichkeiten der Bevölkerung zur Meinungsäußerung und des kulturellen Ausdrucks entscheidend verbessert. Zugleich führt die Entprofessionalisierung von Berufen wie LexikonredakteurIn, Fotoreporterln, Journalistln zu einer zunehmenden Prekarisierung vieler Menschen.

Aus dem Artikel "Wie Wikipedia die Wahrheitsfrage ausblendet" von Werner Rügemer, in: Neue Rheinische Zeitung 5.4.2014
95 Prozent aller Abiturienten und Studenten nutzen Wikipedia, bei Journalisten dürften es mindestens fünf Prozent mehr sein. „Normalbürger“ freuen sich über das schnell konsultierbare, kostenlose Lexikon. So wurde Wikipedia zu einem wichtigen Akteur dessen, was heute Öffentlichkeit heißt: Die Tatsache, nach den Weltmarktführern Facebook und Google schon an 7. Stelle der am häufigsten genutzten Internetportale zu stehen, gilt als Beweis von Wichtigkeit. ...
Doch die naive Basisdemokratie ist ein Spielball der PR-Industrie. „Public Relations und Manipulation sind in Wikipedia allgegenwärtig“, heißt es in einer gut recherchierten Studie. Unter unscheinbaren Pseudonymen ließ Daimler den Einsatz von Zwangsarbeitern während des Faschismus ebenso löschen wie die Abordnung eines Leihmanagers ins Bundesverkehrsministerium, als der Vertrag über die LkW-Maut (Toll Collect) behandelt wurde. So verschiedene Akteure wie BMW, Ebay, Dell, der CIA, der Vatikan manipulierten Einträge. Von einer IP-Adresse im RWE-Konzern wurden Angaben zu Störfällen im AKW Biblis entschärft. CDU und SPD verschönten ihre Einträge, das FDP-Plappermaul Christian Lindner ließ über eine IP-Adresse im Düsseldorfer Landtag seinen Eintrag 40 mal ändern. Wikipedia eröffnet für PR-Agenturen ein dauerhaftes Geschäftsfeld. ...
Die Schwarmintelligenz wird zudem autoritär geführt. Der Verein Wikimedia betreibt das deutsche Wikipedia. Der Vorstand besteht aus einer Person: Pavel Richter. Er wird mit 90.000 Euro Jahresgehalt und erfolgsabhängigen Boni bezahlt. 76,9 Prozent der Autoren des deutschen Wiki haben seit ihrer Anmeldung höchstens 9 mal etwas in einen Artikel eingefügt. Dagegen hat Wikimedia-Mitbegründer Achim Raschka bisher 78.000 Bearbeitungen vorgenommen. Damit hat er auch gut verdient: Das Ministerium für Verbraucherschutz förderte das Wiki-Projekt „Nachwachsende Rohstoffe“ (318 Einträge) mit 234.000 Euro. Der pseudonyme Autor 7Pinguine, der von einer IP-Adresse des Leibinger-Konzerns arbeitet, hat es seit 2007 auf 15.000 Bearbeitungen geschafft, mit Manipulationen zugunsten von Nestlé und der FDP. Auf Nachfragen wegen der Manipulationen gibt Wikimedia keine Antwort. ...
Die vorgegebene Haltung der Autoren ist ebenfalls autoritär. Die Einträge stellen in der Regel erstmal die offizielle Version von Staaten, Unternehmen, Parteien, Organisationen, Finanzprodukten, Medikamenten usw. dar. Dann folgt an hinterer Stelle der gesonderte Abschnitt „Kritik“. Die beschränkt sich meist auf das, was in großen Medien veröffentlicht wurde. Eine Bewertung der Kritik findet in der Regel nicht statt, sie steht als pseudodemokratische Pflichtübung neben der offiziellen Version. ...
Das wesentliche Kriterium für das Verfassen von Wiki-Texten ist „Neutralität“ (Neutral Point of View, NPOV). Bisher einzige Ausschlusskriterien sind Scientology und nach Aussage des Wikipedia-Gründers Jimmy Wales der „gute Geschmack“. Der Welt-Vorstand in den USA konnte sich nicht durchringen, Pornografie als Ausschlußkriterium hinzu zu fügen. Als Alternative schlägt der Informatikprofessor Clemens Cap vor: Statt NPOV soll gelten EPOV = Every Point of View. So soll erstmal jede irgendwie erstellte Textfassung gelten; durch einen Zustimmungsfilter soll dann die beliebteste Fassung herausgefiltert werden. Beliebigkeit ist eine Variante der Neutralität. Man muß nur etwas genauer hinsehen, um zu entdecken: Das, was als „neutral“ gilt, ist die offizielle Selbstdarstellung eines Konzerns, eine Organisation, eines Staates, eines Mediums, eines Wissenschaftlers. Insbesondere Aussagen von Behörden gelten als grundsätzlich neutral. Allerdings werden linke Organisationen von vornherein kritisch dargestellt. Bücher und andere Veröffentlichungen aus Verlagen, die als „links“ beurteilt werden, gelten als nicht neutral. Bücher und andere Veröffentlichungen aus Wirtschafts- und konservativen Verlagen gelten dagegen als neutral. ...
Und dann stellen wir mal die einfache Frage: Wem gehört Wikipedia? Die „freie Enzyklopädie“ liegt in den Händen des Privatkapitals. Beim deutschen Trägerverein mit immerhin 47 hauptamtlich Beschäftigten hört sich das noch harmlos an: Er wird durch Spenden finanziert. Das Präsidiumsmitglied Robin Tech promoviert am Institut für Internet und Gesellschaft an der Berliner Humboldt-Universität: Google finanziert das Institut mit 4,5 Millionen Euro jährlich. Wikimedia muß einen Teil der Spenden an das Zentralkomitee abliefern, an die Wikipedia Foundation in den USA. Dort liegen die Rechte an allen Wiki-Artikeln weltweit. Selbst wenn durch ein deutsches Gericht Artikel gesperrt werden sollen, hat dies keine Wirkung. ... Wikipedia Foundation Inc. beschäftigt 142 Angestellte und hat gegenwärtig knapp 50 Millionen US-$ Einnahmen jährlich. Die Hauptfinanziers (major benefactors) des weltweiten „freien Wissens“ sind Unternehmens-Stiftungen: Stanton-Stiftung (Frank Stanton, TV-Unternehmer, der das erste TV-Duell der US-Präsidentschaftskandidaten organisierte), Sloan-Stiftung (Alfred Sloan, Ex-Chef von General Motors, der gut mit Hitler konnte), Arcadia-Stiftung (Erbin des Tetrapak-Konzerns), die Stiftung der Google-Gründer Sergey Brin und Anne Wojciki, Graig-Stiftung (Internet-Unternehmer), Knight-Stiftung (Zeitungskonzern) und das Scheichtum Katar. In der nächsten Spender-Kategorie „Patrons“ – Spenden bis 50.000 US-$ - finden sich u.a. Apple, Goldman Sachs, Google, Microsoft. Unter den kleineren Spendern sind American Express, Boeing, Chevron, Deutsche Bank, Bill und Melinda Gates, General Electric, IBM, Tikvah, Yahoo und weitere 200 namentlich genannte und 192 anonyme Unternehmer bzw. deren Stiftungen.

Pro ExpertInnen
Aus Marco Ternick: "Ausblick: Wikipedia 2012", in Wikimedia Deutschland e.V. (2012), "Alles über Wikipedia", Hoffmann und Campe in Hamburg (S. 317f.)
Für den Nutzer ändert sich das erst, wenn Professor Müller mit seinem guten Ruf dafür einsteht, dass der Artikel "Chemie" richtig und vollständig ist. Sollte also der Reputationsgewinn für Wikipedia das Ziel der geprüften Version sein, dann sollten nur ausgewiesene Experten als Prüfer für einen Artikel gewonnen werden. Die Qualifikation muss nicht unbedingt ein abgeschlossenes Studium sein, sondern kann auch durch die langjährige berufliche Beschäftigung mit dem Themengebiet bzw. für Artikel in Themenfeldern, die man weder studieren noch beruflich ausüben kann, entsprechend durch eine langjährige private Beschäftigung erbracht werden, vielleicht darüber hinaus auch durch Veröffentlichungen im Themenkomplex.

Böhmermann über Wikipedia

Die Entwicklung: Der bürgerliche Diskurs erfand und stärkte den Wunsch nach Kontrolle
Zunächst war Wikipedia ziemlich frei. Alle möglichen Menschen konnten ihr Wissen einbringen, Positionen anderer verändern oder ergänzen. Das führte mitunter zu chaotischen Streitereien um Formulierungen, sogenannten "Editwars". Aber insgesamt entstand nicht nur ein großes, sondern auch - verglichen mit Enzyklopädien in Buchform - recht fehlerfreies Online-Lexikon. Statt nun über Ursachen dieses bemerkenswerten Erfolges nachzudenken, machten z.B. bürgerliche Medien Druck auf Wikipedia und verbreiteten die Legende, dass angesichts der fehlenden Kontrolle das so erfolgreiche Projekt früher oder später schief gehen müsste.

Aus der Zeitschrift Zivildienst, 11/2007 (S. 34 f.)
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile - doch gelegentlich leidet eben dieses Ganze darunter, wenn es aus zu vielen Teilen zusammengesetzt ist. Diese Erfahrung musste in den vergangenen Jahren das wohl erfolgreichste Online-Projekt der Welt machen: Wikipedia. ...
Immer wieder macht Wikipedia mit falschen Informationen und kruden Einträgen Schlagzeilen. ...
In Misskredit hat Wikipedia das eigene Prinzip gebracht: Wenn jeder mitschreiben kann, kann auch jeder Fehler einbauen. Die Zahl der Autoren ist zu groß, als dass alle Artikel vor oder wenigstens kurz nach ihrer Veröffentlichung auf Fehler, Unterstellungen oder Manipulationen hin untersucht werden können.
Man habe keine Sicherheit, "dass Artikel einhundertprozentig korrekt sind", räumt Tim Bartel, Mitglied des deutschen Wikipedia-Presseteams, ein. "Deshalb weisen wir auch immer wieder darauf hin, dass es keine gute Idee ist, sich bei der Recherche ausschließlich auf Wikipedia zu stützen. Man sollte immer auch Primärquellen hinzuziehen!' Obwohl die Kritik an fehler- oder lückenhaften Einträgen richtig sei, habe sich das Projekt "als durchaus erfolgreich erwiesen. Wir sind in vielen Bereichen sehr gut, oft sogar besser als konventionelle Enzyklopädien," ...


Obwohl Wikipedia besser war als die meisten anderen Enzyklopädien, wird gerade bei diesem Lexikon darauf hingewiesen, die Originalquellen zu prüfen. Klar - das ist immer richtig. Aber wird so auch vor dem Brockhaus gewarnt? Nach vorliegenden Stichprobentests war der nämlich fehleranfälliger als das Wikipedia zu den Zeiten offener Editierbarkeit. Überraschen konnte das jedoch nur die, die an das "Gute von oben", also durch Kontrolle und Verregelung glauben. Das ist die überwältigen Mehrheit. Ein genauerer analytischer Blick zeigte jedoch: Brockhaus & Co. waren nicht so gut, obwohl, sondern weil sie kontrolliert wurden. Denn wenn nur noch wenige Menschen, getarnt als ExpertInnen, an den Texten schrauben, steigt die Fehlerquote.
Die Wikipedia-MacherInnen gingen auf diesen Diskurs ein. Stück für Stück wurde immer mehr Kontrolle eingeführt. Was abzusehen war: Die Idee wurde zerstört - und die Qualität verschlechterte sich! Heute ist Wikipedia ein Top-Beispiel für Manipulation, z.B. durch Konzernlobbyist_innen oder Parteiapparate. Das ist keine Überraschung, sondern die logische Folge der Einführung von Regeln und Hierarchie.

Kontrolle ist gut, obwohl ihr Fehlen ein besseres Ergebnis lieferte!
Aus "Vorsicht Ente!", in: FR, 18.2.2009 (S. 36 f.)
Das Interessante ist: Die deutschsprachige Version von Wikipedia hat schon im Mai 2008 begonnen, eine kollektive Kontrollinstanz aufzubauen. Seitdem gibt es Aufpasser, die Artikel überprüfen und Schmierereien entfernen. ... Beiträge, in denen ihnen kein Vandalismus aufgefallen ist, werden mit einem gelben Auge gekennzeichnet. Das Siegel ist ein minimaler Qualitätsnachweis. Es signalisiert vor allem: Auf den ersten Blick ist mit diesem Text alles in Ordnung. Wenn das Sichter-Prinzip sich bewährt, könnte der nächste Schritt folgen. Dann würden die gesichteten Versionen inhaltlich geprüft. ...
Im Laufe der recht jungen Wikipedia-Geschichte zeigten verschiedene Untersuchungen, dass sowohl Brockhaus als auch Britannica nicht unbedingt besser sind als die Online-Enzyklopädie. Im führenden Wissenschaftsmagazin Nature erschien 2005 eine Studie, die bei Britannica-Artikeln im Durchschnitt drei und bei Wikipedia vier Fehler zählte - ein erstaunlich geringer Unterschied. Der Stern verglich den Netz-Auftritt von Brockhaus mit Wikipedia - und gab der selbstgemachten Enzyklopädie viel bessere Noten. Ihr großer Vorteil: Sie war fast immer aktueller. Allein bei der Verständlichkeit lag der Brockhaus vorn.


Sehr schön brachte das die bildungsbürgerliche taz auf den Punkt: "Natürlich gibt es Probleme. Weil jeder mitmachen kann, wird auch viel Falsches in Wikipedia-Artikel hineingeschrieben" (taz, 8.1.2011, S. 1). Das ist das typischen Denkschema der Gutmenschen: Kontrolle macht alles gut. Die Mächtigen sind schlau, die vielen sind seltsamerweise dagegen mit Fehlern behaftet - woher dieser Unterschied kommt, wir nie geklärt. Es ist eine trübe Soße das Glaubens, dass Eliten das Gute wollen. So hatte die taz auch keinen Schimmer, welcher Kontrollwahn inzwischen Wikipedia auszeichnet: "Der Organismus Wikipedia zeigt, das es funktionieren kann. ... Die Chance, mitzumachen - das ist die große Errungenschaft der Wikipedia". Wahrscheinlich in in den Kreisen von taz-AutorInnen noch nie jemand bei Wikipedia zensiert worden. Die haben auch keine Bekannten, die im Knast sitzen - folglich finden sie die Strafjustiz auch gut und notwendig. Das immer gleiche Spiel des Glaubens an das Gute von oben.

Überraschung: Sogar der Zeit hinterher ...
Eigentlich dominieren bei WIkipedia die technisch-digitalen Bildungseliten. Das ist keine neutral-ideologische Gruppe, sondern Anhänger*innen der Idee, dass rationale Politik, Marktmechanismen und Expertise das Geschehen bestimmen sollen. Die Menschen werden in diesem Denken zu Nummern. In solchen Kreisen dominieren Bildungseliten, die aus eher sozial besser gestellter Herkunft stammen. Männer überwiegen. Erwartungsgemäß verteidigen sie geltende Normen und wissenschaftliche Wahrheit. Doch zeigen sich die selbsternannten Elitemänner auch als Wissenschaftschauvis: Wikipedia ist eine der letzten Domänen des männlichen Sprachstils.

Zensur der gendergerechten Sprache

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