Projektwerkstatt Saasen

KONSUMKRITIK-KRITIK: VOM IRRTUM DER VERBRAUCHER_INNENMACHT

Gutes Gefühl für Reiche - Niedermache der Armen


1. Einleitung
2. Die Machtfrage ausblenden: Selbstreduzierung aufs Konsument*innendasein
3. Wirkung der Kaufentscheidung wird stark überschätzt
4. Risiken und Nebenwirkungen: Die Kommerzialisierung des Guten
5. Ausblendungen: Die Bio-Tomaten auf den Augen und Ohren
6. Gutes Gefühl für Reiche - Niedermache der Armen
7. Kritik, Zweifel, aber keine grundlegende Analyse
8. Statt Ablasshandel und Schmieren der Getriebe: Aneignung der Verhältnisse
9. Irrtümer der Konsumkritik und Gegenmittel an Beispielen
10. Links und Materialien

Selbst wenn etwas dran wäre an der These, dass Geld Gutes schaffen kann, bliebe eine weitere Kritik bestehen - zumindest aus emanzipatorischer Sicht. Denn dann wäre Konsum ja ein Steuerungsmittel gesellschaftlicher Fragen. Schon beim Wählen an der Wahlurne ist die behauptete Wirkungsmacht reine Propaganda. Aber dort haben die Wahlberechtigten (andere nicht) wenigstens noch die gleiche Anzahl an Stimmen (meist eine oder wenige, z.B. Erst- und Zweistimme oder mehrere vom Kumulieren). Beim Konsum aber hätten nicht alle eine Stimme, sondern unterschiedlich viele. Die Reichen bekämen mehr "Stimmzettel" als die Armen. Solange nicht alle gleichviel Geld haben, wäre das vermeintliche Steuerungsmittel ungleich verteilt. Das Gerede von der Konsument_innenmacht blendet aber auch dies Frage aus und zeigt sich so ein zweites Mal hochkompatibel mit der Idee der Kapitalismus: Herrschaft über Geld (Kapital). Sozial blinde Konsumkritik verstärkt die soziale Schieflage im Land. Wer mehr ausgibt (also die Reichen), hätte bei einer Steuerung von Produktionsverhältnissen über den Konsum mehr zu sagen. Die Konsum-schafft-heile-Welt-Propaganda will die Reichen noch mächtiger machen.

Im Original: Wer sind die Öko-Konsument_innen?
Milieu von Bioladen-EinkäuferInnen nach den Mediadaten von Schrot&Korn von 2010 (aktuelle Mediadaten):
Wer Bio kauft, hat sich entschieden für seine Gesundheit, die Umwelt, Zukunftssicherung und Qualität etwas mehr auszugeben. Bio-Käufer sind überdurchschnittlich ausgebildet, beruflich etabliert und finanziell gut situiert.

Postmaterielle – Kernmilieu für Naturkost mit hohem Potenzial
Altersspektrum von Anfang 20 bis zu der Generation der „jungen Alten“. Qualifizierte und leitende Angestellte und Beamte, überdurchschnittlich viele Freiberufler. Definieren sich weniger über ihren Besitz als ihren Intel-lekt und die eigene Kreativität. Sie engagieren sich sozial, politisch oder kulturell. Eine Chance hat alles, was sie herausfordert, das Oberflächliche lehnen sie ab, die Ansprache muss Witz haben und Informationen trans-portieren, es darf nichts untergeschoben werden.

Moderne Performer – Entwicklung zum zweiten Bio-Milieu
Altersschwerpunkt unter 30. Deutschlands jüngstes Milieu. Sie sind die junge, unkonventionelle Leistungselite und verfügen meist über ein geho-benes Haushaltsnettoeinkommen. Ehrgeizig, mobil, flexibel und erlebni-sorientiert streben sie nach Selbstverwirklichung, legen Wert auf Qualität und sind bereit, dafür Geld auszugeben. Ungewöhnliche Werbeformen werden hier stärker wahrgenommen, allerdings haben sie ein feines Gespür für Authentizität. Aufgesetzte oder unehrliche Werbeaussagen werden schnell entlarvt.

Experimentalisten – an Bio interessiert
Die jüngste Zielgruppe, wird auch als neue Bohème bezeichnet. Sie leben in vollen Zügen, sind individualistisch, kritisch, kreativ und ver-antwortungsbewusst aber auch widersprüchlich. Materieller Erfolg und Status spielen keine besondere Rolle. Aufgrund ihrer Werte haben sie eine Affinität zu Bio, ihrem Einkommen nach liegen sie eher im Mittelfeld der Bio-Käufer. Kaufentscheidend ist, ob etwas zu ihrer Persönlichkeit passt. Werbung muss originell, ästhetisch und interessant sein.

LOHAS
Die Lohas sind in den Marketingabteilungen die „üblichen Verdächtigen“, wenn es darum geht, neue Potenziale im Wachstumsmarkt Nachhaltigkeit zu erschließen. Dabei sind sie im Grunde weitgehend eine Zusammen-fassung der Bio-Käufer-Milieus. Eine Studie von Sinus-Sociovision und Karma Konsum zeigt, dass die Lohas in den Milieus der Postmateriellen, Etablierten und Modernen Performer wurzeln. Sie deuten Nachhaltigkeit aber vor dem Hintergrund des jeweiligen Milieustils anders. Die Erkennt-nis der individuellen Motive ist auch hier wichtiger Erfolgsfaktor bei der Wettbewerbsprofilierung und Ansprache.



Links: Aus den Mediadaten von Schrot&Korn 2010. Im Text (siehe oben) ist angegeben, aus welchen Schichten die BioladenkäuferInnen stammen - das ist hier mit der grünen Linie übertragen worden.

Aus Boris Grundl (2011), „Diktatur der Gutmenschen“ (S. 39)
Die Gutmenschen haben einen regelrechten Markt geschaffen, auf dem sie Helferglück aus zweiter Hand erhalten. Sie sind fleißige Konsumenten von Idealismusangeboten. Das Edle, Hilfreiche und Gute gibt es längst auch im Abo. Die Mitgliedschaft bei Amnesty International garantiert moralische Amnestie – regelmäßig und für kleines Geld, ein Schnäppchen. Und zum Glück gibt es Bio-Produkte, die genauso edel und teuer sind wie die Produkte aus dem Feinkostgeschäft, mit denen man aber das Ideal der reinen, unberührten Natur unterstützen und damit ein gutes Werk tun kann. Also kommen der Bio-Käse, der Bio-Chardonnay und der Bio-Lachs hinten in den Achtzylinder-Geländewagen, und man rollt als echter Umweltschützer nach Hause.

Wo der Konsum entscheidet, stehen die Reichen an den Steuerknüppeln
Wer kaum Geld hat, hat nicht nur wenig Einfluss, sondern auch kaum Optionen in diesem Spiel
Wer viel Geld hat und deshalb mehr Gelegenheit hat, durch Kaufen vermeintlich die Welt zu retten, ist ein guter Mensch. Wer nicht "bio" einkauft, kein teures Hybridauto fährt, weder bei Langstreckenflügen in den Urlaub Ablass-Euros für die Klimaschutz-NGO Atmosfair draufzahlt noch eine Photovoltaik als Statussymbols aufs Eigenheim schrauben lässt, gehört nicht zu diesen Guten. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich an bisher unbekannten, neuen Baustellen. Damit aber werden große Massen vom Kampf um die bessere Welt ausgeschlossen. Es ist das Gegenbild zur Arbeiter_innen-Marxismus (in der dogmatisch-traditionellen Form oft ohne das "_innen"), bei dem nur die Arbeiter_innen (ob Sportschaufan, Nazi oder was auch immer) als revolutionäres Subjekt in Frage kommen. Doch, zumindest weltweit betrachtet, ist die Wirkung der Reichen an den Ladenregalen schon wegen ihrer begrenzten Masse fraglich.

Aus Ralf Hoppe: "Der Kunde als Krieger", in: Spiegel 36/2008 (S. 62)
Eine neue Art des Ablasshandels sei das Ganze, die Erste Welt spendiere der Dritten Welt ein paar Prozente. Wer durch seinen Konsum wirklich die Welt verändern wolle, so der Einwand, der müsse weniger konsumieren, besser kein Auto als ein Drei-Liter-Auto. Zudem sei politischer Konsum in Wahrheit unpolitisch, weil er grundsätzlich nichts verändere. Weil sich nur die Besserverdienenden den korrekten Konsum leisten könnten, seien die ökonomischen und sozialen Effekte zu gering, um über den Markt die Gesellschaft zu verändern.

Das Propagandamärchen der besseren Welt durch stilsicheres Einkaufen macht das Geld der reich gewordenen Ex-Ökos und Bildungsbürger_innen, nicht primär deren Umweltbewusstsein, zur Zieladresse. Das hat Folgen. Die Themen regieren, die für Reiche wichtig sind: Gesundheit, Wellness, hohe Mobilität und Rendite. Klassische Natur- und Umweltschutzthemen gehen hingegen eher unter. Windenergie und Solaranlagen, Ökoreisen und Gentechnikfreiheit … alles wird zu Kommerz und reißt das mit, was mal mit politischem Anspruch gestartet ist.

Im Text "Kornkraft statt Kernkraft" blickt Autorin Helma Heldberg zurück auf die Anfangszeit der Bioläden und die Veränderungen (BioBoom Sommer 2011, S. 7): "Aus der Nische wurde eine Branche. 1994 öffnete der erste Bio-Supermarkt, Discounter beginnen, "Bio"-Eigenmarken einzuführen. Politische Motive rücken immer mehr in den Hintergrund. "Bio kaufen", das tat man in erster Linie für sich selber. Es hatte sich herumgesprochen: Bio-Tomaten schmecken bsser als unreif geerntete Tomaten aus holländischen Gewächshäusern. Die neue Kundengeneration wählte nicht zwangsläufig die Grünen, glaubte nicht unbedingt an die Wirksamkeit von Sitzblockaden. Bio-Kunden suchen den besonderen Genuss, wollen Gesundheit konsumieren, sogar als Statussymbol taugt der Bio-Einkauf mittlerweile.

Wo Reiche die Zielgruppe der Kaufkampagnen sind, geht es nicht um Umweltschutz oder fairen Handeln. Hier wird ein Produkt verkauft: Gutes Gewissen - angeboten für gutes Geld. Der Mehrpreis ist eine Art Spende, gezahlt an Firmen, die dafür eine heile Welt versprechen. Das Preis-Leistungs-Verhältnis mag stimmen, aber es hat wenig mit einer besseren Welt zu tun. Bezahlt wird das gute Gefühl - eben nur das Gefühl, dass es Gutes passiert. Nirgends gibt es Prüfungen und nur sehr wenig Transparenz, ob das tatsächlich stimmt. Ein Film wie die arte-Produktion "Bio-Illusion" ist die Ausnahme. Wer Biobrot kauft, erhält ein Brot und ein gutes Gefühl. Da ist der Aufpreis gut investiert. Mensch gehört zu den Guten. Es hilft fürs Gutfühlen, alles Weitere gar nicht so genau wissen zu wollen.

Milieu von Bioladen-EinkäuferInnen nach den Mediadaten von Schrot&Korn von 2010 (aktuelle Mediadaten):
Wer Bio kauft, hat sich entschieden für seine Gesundheit, die Umwelt, Zukunftssicherung und Qualität etwas mehr auszugeben. Bio-Käufer sind überdurchschnittlich ausgebildet, beruflich etabliert und finanziell gut situiert.

Im Original: Aus der Studie "Naturbewusstsein 2011" des BMU

Zusammenhang zwischen Reichtum und Öko-Orientierung: Naturwert (oben) und Aktivsein (unten)


Noch deutlicher wird das in der Tabelle zu eigenem Verhalten (gekürzt, vollständig):


Aus Umweltbundesamt, 2002: "Umweltbewusstsein in Deutschland 2002" (Studie, Berlin)
Eine Gruppe von 20% der Bevölkerung ist besonders umweltengagiert und bildet eine Art Pressure Group für den Umweltschutz. Sie sind z.B. Mitglied einer Naturschutzgruppe oder eines Umweltschutzverbandes, spenden Geld für den Umweltschutz, sind generell zahlungsbereiter als der Durchschnitt. Sie fühlen sich selbst stärker durch Umweltprobleme belastet. Ihr soziodemographisches Merkmalsprofil komm einer Beschreibung der Neuen Mitte nahe: Sie verfügen sehr häufig über einen Hochschulabschluss, sind Freiberufler, leitende Angestellte oder im öffentlichen Dienst beschäftigt. Sie wohnen seltener an Hauptstraßen, häufiger in Ein- und Zweifamilienhäusern. Sie gehören nicht den niedrigen Einkommensklassen an, sondern verfügen überdurchschnittlich häufig über ein mittleres bis hohes Einkommen (jedoch nicht über ein sehr hohes). ...
Die Umweltengagierten sind keineswegs mit den Anhängern der Grünen gleichzusetzen, denn nur etwas jede fünfte Person dieser Gruppe würde Bündnis 90/Die Grünen wählen, wenn nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. Damit ist der Stimmenanteil der Grünen in dieser Gruppe zwar überproportional hoch, doch erreichen CDU (25,5%) und SPD (23,8%) höhere Anteile. Die FDP würde nur von 2,6% der Umweltengagierten gewählt. Im Osten sieht es anders aus, dort würden 27,3% der Umweltengagierten PDS wählen, 20% CDU, 12,7% SPD, 10,9% Bündnis 90/Die Grünen und 1,8% FDP. (S. 12)
Die Umweltengagierten sind alles andere als eine Gruppe von Benachteiligten: Sie verfügen sehr häufig über einen Hochschulabschluss, sind Freiberufler, leitende Angestellte oder im öffentlichen Dienst beschäftigt. Sie wohnen seltener an Hauptstraßen, häufiger in Ein- und Zweifamilienhäusern. Sie gehören nicht den niedrigen Einkommensklassen an, sondern verfügen überdurchschnittlich häufig über ein mittleres bis hohes Einkommen (jedoch nicht über ein sehr hohes). Man könnte fast vermuten, hier werde eine Beschreibung der so genannten Neuen Mitte vorgenommen. (S. 94)


Dem ganzen liegt ein jahrelanger Trend zugrunde. Aus Umweltschützer_innen und "Ökos", die gegen Castoren und Wachstumswahn wetterten, wurden edle Bürger_innen mit dem Design der Umweltbewussten. In manchen der sich so neu formierenden sozialen Schichten sollte dann auch der Name nicht mehr an die politische Vergangenheit erinnern. Die, die im Laufe der Zeit gutes Geld verdientne und mit dem schnöden Öko-Image nicht mehr viel anfangen konnten, ernannten sich zu "Lohas", den"Lifestyles of Health and Sustainability".

Im Original: Aus der Internetseite www.lohas.de ...
Die Währung der Zukunft heisst: VERTRAUEN

Definition
Lifestyles of Health and Sustainability, was etwa bedeutet: "Ausrichtung der Lebensweise auf Gesundheit und Nachhaltigkeit".
Neue Werte, neues Bewusstsein, die Bedürfnisse der Menschen richten sich nach Innen, eine Umkehr der Lebensweise nach Selbstkenntnis, nach Stressfreiheit und Entschleunigung, Gesundheit, Nachhaltigkeit und Beständigkeit. Dies alles mündet in eine Nachfrage von wirtschaftlich, gesundheitlich und ökonomisch sinnvollen Produkten und Dienstleistungen.
Wir möchten dazu beitragen, eine breitere Gesellschaftsschicht anzusprechen und im deutschsprachigen Raum Angebote zu kanalisieren, die unserer Meinung nach den Kern von Veränderungen (Umdenken) ausmachen. Der Beginn von jeglichen Veränderungen ist in uns selbst. Bei uns finden Sie Angebote, Informationen und Kontakte.


Werbung für Lohasguide.de

Gut fühlen und Wirtschaft ankurbeln
Ob Bosch, Henkel, Allianz, Telekom, Bayer oder alle deutschen Automobilunternehmen, nur wer Produktleistung und Qualität bei größtmöglicher Umweltverträglichkeit langfristig sichert, setzt sich am Markt durch.

Reich, unpolitisch und trotzdem besser als die ganze Ökobewegung?
Selbsteinschätzung der LOHAS im Öko-Schickimicki-Magazin eve 2009 (S. 22ff)
Bescheidenheit ist nicht angesagt bei dieser Marketingströmung, mit der viele hoffen, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. ...
Der Öko-Protest der 70er Jahre sei zwar der Treiber für den Hedonismus der LOHAS in den 90ern gewesen, aber wahre Bedeutung erlange erst die Massennachfrage nach ökologisch korrekten Produkten aktuell und in den kommenden Jahren. "Moral ist gut, aber Nachfrage real", so Albrecht. ...
Die jüngste vom November 2008 wurde im Auftrrag de Berliner Nachhaltigksagentur Stratum und der Deutschen Bundestiftung Umwelt von der Hamburger Agentur Eequity durchgeführt und bringt Ernüchterung in die Euphorie. "Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach." Da machen die LOHAS-People keine Ausnahme", sagt Eequity-Chefin Cordula Krüger. "Der gute Wille ist da. Aber Bequemlichkeit und Eigennutz fordern ihren Tribut." ...
Auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft wird aus dem Konzept "Nachhaltigkeit", so die Autoren, ein Lebensstil, der vor allem "konservativ, naturromantisch, unpolitisch, ästhetisch, anspruchsvoll, harmoniebetont, näheorientiert und ichbezogen ist." Wer Nachhaltigkeitsmarketing betreibe, sollte nicht allzu chic und trendy rüber kommen, so der Rat der Forscher. Die Zielgruppe der 40- bis 60-jährigen LOHAS-nahen Konsumenten wolle nicht verunsichert und aufgereizt werden. Sie sei ausreichend damit beschäftigt, die Balance ihres Lebensstils zwischenGut-leben-wollen und Gesinnungsethik aufrecht zu erhalten.


Profitorientierung führt zu mehr Ausbeutung und Umweltzerstörung - auch im Ökobereich!
Mehrfach verpackter TeebeutelDer Kapitalismus erobert alles, was mensch ihm lässt. Im Ökobereich ist ihm - nach anfänglichem Zögern - nicht nur alles überlassen, sondern aktiv in ihn hineingestopft worden. Die Gedanken von Selbstorganisierung und Autonomie, die Absage an Profitorientierung und Ausbeutung, die oftmals am Anfang einer Idee einige Beteiligte erfüllen und antreiben, werden von der Wucht der kapitalistischen Übernahme lässig aufgesogen oder zerquetscht. Der Siegeszug von Profitabilität, Markt- und Marketingorientierung gelingt deshalb spielend, weil die Fragen nach den Grundlagen von Ausbeutung und Zerstörung nicht gestellt werden. Das wären solche nach Herrschaft, Eigentum und der Verwertung von allem und jedem - unangenehme, anstregende, aber nötige Fragen. Werden sie ausgeblendet, macht der Kapitalismus aus jeder guten Idee eine neue Form von Ausbeutung und Zerstörung. Energiewende und Bioland - das waren und sind gute Ideen, deren Umsetzung im Zuge einsetzender Profitgier inzwischen deutlich mehr auf Kosten von Mensch und Natur geht als es notwendig wäre. Die Skandalmeldungen über Billiglöhne in Bioläden oder Insolvenzen in der Solarindustrie sind keine Überraschung.

  • Rechts: Mehrfach verpackter Teebeutel - auch das eine Folge der Kommerzialisierung der Biobranche.
  • Umfangreicher Artikel "Alles Bio, oder was?" über die Kommerzialisierung und ihre Folgen in der Bio-Branche ... in: Spiegel 36/2007 (S. 24ff, als PDF)

Aus "Bio reicht nicht mehr", in: WirtschaftsWoche, 21.2.2015
Ray Archuleta, Bodenexperte im US-Landwirtschafts-Department (USDA), ließ die Bio-Konsumenten in den Staaten kürzlich wissen, dass die meisten Böden der großen Öko-Bauern extrem zerschunden seien. Der Grund dafür: Es wird zwar weniger Chemie gespritzt, aber nicht völlig darauf verzichtet.
Abgesehen davon verfährt der Ökolandbau jedoch nach den gleichen Prinzipien wie die herkömmliche Landwirtschaft (exzessive Wassernutzung, maschinelles Pflügen, landwirtschaftliche Monokulturen, Schädlingsbekämpfung, die wichtige Mikroben ausrottet, Winterruhe, die das Ökosystem Feld abtötet).


Aus "Spitzer Bleistift in grün - Der Ökolandbau in konventionellen Zwängen", in: Bauernstimme Febr. 2017 (S. 12)
Aber längst hat auch im Ökolandbau das Diktat des spitzen Bleistifts Fruchtfolgen verschlankt, Ställe vergrößert, Stückkosten optimiert. Schon seit einigen
Jahren bestimmt Aldi die Preise für Ökokartoffeln. Seit neuestem bestimmt der konventionelle Lebensmittelhandel im Bundesverband ökologische Lebensmittelwirtschaft (BOLW) mit. Über all 200 diese Entwicklungen hat es immer mal wieder Diskussionen gegeben, Änderungen an der Konventionalisierung des Ökolandbaus und des Marktes kaum. ...
Aber was ist mit immer wieder auftauchenden Geschichten darüber, dass deutsche Biovermarkter hinter den Grenzen, in Rumänien, im Baltikum, Betriebe mit dem Versprechen unkomplizierter Zertifizierung und garantierten Absatzes auf dem deutschen Biomarkt für eine Umstellung gewinnen? Oder den vertraglichen Abnahmeangeboten von Verarbeitern an Bauern für Getreide, aber nur oberhalb einer gewissen Hektargrenze? Den Staffelfolgenpreisen innerhalb von Erzeugergemeinschaften und Verbänden, die Kostendegression durch größenbedingte Rationalisierungseffekte noch belohnen, statt sie gegenüber kleineren Mitgliedern auszugleichen?
Alle Entwicklungen passierten auch so, weil das existierende Wirtschaftssystem nicht angezweifelt werde, sagt Christian Schüler, lange Jahre Mitarbeiter am Lehrstuhl für ökologische Landwirtschaft an der Universität Kassel in Witzenhausen.


Aus "Ideologien über Konsum und Konsument in der Marktwirtschaft". in: Gegenstandpunkt 2/2010 (S. 67ff, als PDF)
Ein ordentlicher Gewinn aus der beschränkten Kaufkraft der angesprochenen Klientel lässt sich selbst im Biosegment herauswirtschaften, wenn nur die Kosten entsprechend gesenkt werden. Also kaufen Bio-Produzenten neuerdings in der Ukraine Hühnerfutter auf, das sich mit seinem sensationell günstigen Preis wohltuend in der Bilanz und mit seinem Dioxin weniger zuträglich in Bio-Eiern bemerkbar macht. So kommt es auch, dass die größten Anbieter von Biogemüsen ihre Produkte von spottbilligen Tagelöhnern in Marokko fertigen lassen und mit dem enormen Wasserverbrauch ihrer Plantagen die ortsansässige Bevölkerung um bezahlbares Trinkwasser bringen.
Wer es etwa mit dem Klima hält – ein anderes Beispiel – und die Verbesserung seiner privaten CO2-Bilanz zum Dreh- und Angelpunkt verantwortungsvoller Konsumtion erhebt, verzehrt im Norden ab sofort keinen Spargel mehr aus mediterranen Ländern, weil der wegen seines langen Transportweges zuviel Kohlendioxyd auf dem Kerbholz hat. Stattdessen empfiehlt sich der Kauf beim heimischen Spargelbauern, der das Konsumentengewissen von jeder CO2-Belastung frei hält. Jedenfalls, was den Transport des Produktes angeht. Sein Geschäftsmodell jagt stattdessen Massen von osteuropäischen Wanderarbeitern mit ihren CO2-Schleudern über die Autobahnen, damit sie für einen Hungerlohn die Ernte einbringen. Ganz abgesehen davon, ob der Skandal nun mehr in den massiven Rückständen von Verbrennungsmotoren oder in der schlechten Behandlung der Humanressource anzusiedeln wäre: Es ist offenbar gar nicht so einfach, als Konsument eine geschäftliche Rechnung zu durchkreuzen, die man nicht angreifen will.


Öko-Schickimicki und Öko-Spießertum ... die Unterhaltungsbranche für Wohlfühl-Weltverbesserung boomt
Vor dreißig Jahren waren Plastik- oder Betonblumenkübel ein Symbol für Spießigkeit und Entfremdung. Heute haben sie klangvolle Namen bekommen und erobern unter Begriffen wie Urban Gardening oder Transition Town auf der Beliebtheitsskala der Revolutionsromantik die Spitzenplätze. Sie passen zu einer Bürgerlichkeit, deren ökologischer Fußabdruck wegen des hohen Konsumspiegels katastrophal ist, die aber danach lechzt, mittels einfacher und wenig anstrengender Symboliken gefühlt zum Teil der Bewegung für eine bessere Welt zu gehören. Zusammen mit den Klicks auf die Fertig-Emails der Marken AVAAZ oder Campact (vielleicht passend und in Anlehnung an die Fast-Food-Branche wunderbar doppeldeutig als "Fast-Protest" zu betiteln) entsteht so das Zugehörigkeitsgefühl zu den besseren Menschen. Draußen wird immer mehr zubetoniert, zerstört, verhungern Hunderttausende, schießen NATO- und andere Bomber ganze Länder zusammen. "Wir Guten" hier aber haben ja Greenpeace gespendet, Grüne oder ÖDP. Vielleicht pflegen wir auch einen Plastikblumenkübel am Straßenrand. Auf jeden Fall reicht, um nicht als etwas Besseres zu fühlen als die vielen Anderen, die dann wohl die Verantwortlichen sind für die Gemetzel auf der Welt. Wenn eine Zeitschrift wie Landlust den Spiegel oder Focus in der Auflage überholt und inzwischen zig Nachahmer gefunden hat, wenn darin seitenweise teure Anzeigenschaltungen und Tipps für einen Öko- oder Bauerngärtner_innenschaft platziert werden, die aber vor allem eine Leser_innenschaft erreichgen, die gar keinen Garten hat, dann ist in diesem Land irgendetwas in den Köpfen ziemlich durcheinander geraten ...

Im Original: Kritik an Öko-Schicki-Micki und Firlefanz-Ablenkung
Blumenpflanzen als Revolutionsersatz
Aus Grosche, Mona: "Trend aus der Armut" in: Junge Welt, 12.7.2012 (S. 15)
Im Moment scheint jeder über "Urban Gardening" zu schreiben, der einen Stift in der Hand halten kann. Manch einem geht das Wort "Prinzessinnengarten" in den Zeitungen schon auf die Nerven. Offenkundig erfreut sich gerade größter Beliebtheit, was manche seit Jahrzehnten arglos auf ihren Terrassen und Höfen praktizieren, nämlich kleine, grüne Oasen im Beton zu schaffen. ... Urplötzlich betreibt "man" genau das, was "man" bislang stets als miefiges Spießertum abtat: Erde in Töpfe füllen, Unkraut jäten, gießen und düngen ...
Es bleibt fraglich, ob der Trend tatsächlich von diesem Wissen geprägt ist und all die neuen Gärtner mehr tun, als ab und an eine Gurke zu wässern. Falls hier wirklich politische Grassroots aus Kübeln und Töpfen sprießen – wunderbar. Aber wie ist es mit dem anhaltenden Trend zum Bio-Einkauf, hat der irgend jemanden politisiert? Das kapitalistische System wäre nicht so erfolgreich, wenn es sich nicht perfiderweise genau das nutzbar machte, was als Alternative zu ihm aufkeimt. ...
Soll man kein Apfelbäumchen mehr pflanzen, weil ja eh alles vom System vereinnahmt wird? Etwas mehr politisches Handeln braucht es schon.

Aus Annette Ohme-Reinicke (2012): "Das große Unbehagen", Herder in Freiburg (S. 163)
Im Jahr 2005 kam eine Zeitschrift auf den Markt, die den Titel "Landlust" trägt. Auf fast 200 bunten Seiten werden für 3,80 Euro Tipps für das Landleben gegeben. Man erfährt etwas über den Mistelzweig, über das Verhalten von Hunden im Schnee, die Einrichtung von Landhäusern oder Kakteen als Lebenskünstler. Wider Erwarten schnellten die Verkaufszahlen für diese Zeitschrift in kürzester Zeit in atemberaubende Höhen. Inzwischen ist die Auflage von "Landlust" annähernd so hoch wie die des "stern".
FN: Auflage der "Landlust" beträgt 810000, der "stern" verbucht 851000, "focus" nur 580000 und der "Spiegel" knapp eine Million.
Verleger rätseln über den Erfolg. Die Käufer der Zeitschrift leben vor allem in Großstädten, nicht auf dem Land. Hier zeigt sich offenbar eine diffuse Sehnsucht nach Natur und Ruhe, nach Innehalten und "natürlichen" Lebensformen Qualitäten, die in der Großstadt augenscheinlich zunehmend vermisst werden. Die hohen Verkaufszahlen jedenfalls geben einen Hinweis auf die subtile Unzufriedenheit mit dem Leben in den Großstädten und die Sehnsucht nach etwas Anderem.


Aus "Die Kraft der Konsumenten", in: SZ, 10.5.2014 (S. 24)
Schlagkraft entwickelt der Käuferstreik, wenn die Konsumenten ein prominentes Unternehmen herausgreifen. Entsprechend beschränken sich die Aufrufe für Byokotte meist auf große, bekannte Marken. Der Großteil des Geschehens bleibt aber im Dunkeln. Entsprechend sind Boykotte selektiv und immer auch in Stück willkürlich. So gehörte die Ölverladeplattform Brent Spar neben Shell auch dem Konkurrenten Esso, was allerdings in der damaligen Auseinandersetzung keine Rolle spielte. Der Miteigentümer Esso dürfte sogar von Verbrauchern profitiert haben, die Shell boykottierten.
Mit dem Einkaufswagen kann der Verbraucher auf dem Markt jedoch nur Druck auf Konzerne ausüben, wenn er deren Produkte kaufen kann. Das hat Konsequenzen. Wer genau hinschaut, bemerkt, dass es ziemlich viele Firmen gibt, die überhaupt keine Waren für den Endverbraucher herstellen - dort sind Boykottaufrufe sinnlos. Diese Lektion lernten als Erstes Gegner des Vietnamkriegs, als sie in den 60er Jahren gegen Dow Chemical protestierten, den Hersteller grausamer Waffen wie Napalm und Agent Orange. Machtlos sind Konsumenten auch heute bei allen Firmen, deren Kunden nur Staaten oder Unternehmen sind. Dazu zählen neben Waffenschmieden auch viele Rohstoffunternehmen oder Hersteller von Chemikalien. ... Verbraucher laufen kritischen Entwicklungen reegelmäßig hinterher. Sie boykottieren eine Firma, um dann einige Jahre später festzustellen, dass ihre neue Bezugsquelle ebenfalls fragwürdig agiert.

Umwelt retten vom Sofa aus - "schön"!
Aus einer Presseinformation des Öko-Geldanlagevermittlers UDI am 1.3.2013
"Auf unserer Homepage kann jeder Besucher am Tag des Baumes eine animierte E-Card an Freunde, Bekannte und Kollegen senden," erklärt Georg Hetz, Geschäftsführer der UDI aus Nürnberg. "Und für jeden Kartenversand pflanzen wir einen Baum! Es ist doch schön, wenn man so einfach und ganz ohne Spaten einen kleinen Beitrag zum Klimaschutz leisten kann."

Aus "Landlust und Sparlust", in: Süddeutsche Zeitung vom 26.6.2014
Ausgerechnet einem Landwirtschaftsverlag aus dem Münsterland ist gelungen, wovon die führenden Köpfe der Medienszene träumen. Er hat die Zeitschrift Landlust entwickelt, ein Magazin, dessen Auflage in kürzester Zeit auf mehr als eine Million gestiegen ist und den Spiegel längst überholt hat. Dabei bietet die Zeitschrift keinerlei Neuigkeiten; nur Bilder von lavendelfarbenen Feldern, Gebinden aus Trockenblumen, Weidenkörben voller Kartoffeln oder Gurken, grasenden Kühen, freilaufenden Gänsen und hier und da einer Milchkanne mit Patina. So also muss Landwirtschaft aussehen, damit Menschen ins Schwärmen geraten. Offenbar wächst gerade in Zeiten von Informationsflut und permanenter Erreichbarkeit die Sehnsucht nach einer ländlichen Idylle ...
Die Verbraucher kritisieren das allerdings auch nicht ernsthaft. zwar geben sie in Umfragen häufig an, wie wichtig ihnen das Wohl der Tiere sei. Im Supermarkt aber greifen die meisten dennoch zum billigsten stück Fleisch oder der billigsten Milch. Das mag zum Teil daran liegen, dass es ihnen sehr leicht gemacht wird auszublenden, unter welchen Bedingungen die Tiere gelebt haben. Allerdings scheinen sie daran auch kein allzu großes Interesse zu haben. Viel lieber glauben sie den Bildern auf den Verpackungen, auf denen lachende Kühe, umhertollende Schweine oder fröhliche Hühner abgebildet sind. Die Interessen decken sich also: Während die Landwirte gut damit leben, dass man ihnen nicht allzu genau in die Ställe schaut, sind die Verbraucher dankbar, wenn sie mit den Details der Herstellung verschont werden. Denn nur so können sie auch weiterhin unbeschwert Fleisch genießen - und gemütlich in der Landlust blättern. Die Frage aber, ob auch tiere das Recht auf ein gutes Leben haben, stellt in dieser Situation besser niemand.


Artikel "Vom Glauben an den ökologischen Weihnachtsmann", in: Printzip 12/2015 (S. 22)
Vom Glauben an den ökologischen Weihnachtsmann
Oder: Warum die Welt nicht durch Geld gerettet werden kann

Alle Jahre wieder … treibt das ekstatische Kaufen rund um den 24. Dezember auf seinen Jahreshöhepunkt zu. Der kollektive, von seltsamen religiösen Geschichten umwaberte Rausch erreicht dann ein beeindruckendes Ausmaß. Selbst viele auf ihren Öko-Gefühlspegel achtende Durchschnittsdeutsche vergessen im letzten Monat des Jahres alle imperialen Auswirkungen des Rohstoffverbrauchs, ebenso die Qual der Tiere vor ihrem Stadium in der Pfanne und die gigantischen Müllberge nach Auspacken und kurzer Freude.
Mit all dem zeigt Weihnachten allerdings nur besonders auffällig, dass profitgetriebene Produktion im Kapitalismus mit den Ideen einer menschen- und umweltfreundlichen Welt nicht vereinbart ist. Ökonomische Gewinnmaximierung entstand immer schon durch eine schärfere Ausbeutung von Mensch und Natur. Mehr Profit entsteht auch heute durch noch billigere, ausgequetschte Arbeitskraft und kostenlos ruinierte Natur. Jede Hoffnung, durch bewusstes Geldausgeben diesen Widerspruch zu überwinden, ist genauso absurd wie das Bemühen grüner Parteien oder NGOs, mit sog. ökologischem Wirtschaften die Welt zu retten. Die Macht der Konzerne soll bleiben, die einzelnen Menschen werden als Konsument_innen für die ökologische Wende verantwortlich erklärt – in ihrer Machtlosigkeit aber belassen. "Dass die Macht der VerbraucherInnen viel stärker und größer ist als die der Regierung und es nur darum geht, das nötige Bewusstsein in der Gesellschaft zu entwickeln, um den schon längst überfälligen Wandel hin zu wahrhaftiger Nachhaltigkeit und Transparenz voranzubringen", phantasiert etwa Raphael Fellmer schreibt in seinem Buch "Glücklich ohne Geld" – und mutiert ausgerechnet mit einem solchen Unsinn zum Medienstar der Konsumgesellschaft. Wie viele andere verschleiert er so die Ausbeutungsverhältnisse in der Welt. Dort ist der privilegierte Zugang zu Produktionsmitteln das Schwert in der Hand derer, die Gesellschaft nach ihren Interessen gestalten. Berge von Büchern, Kino- und Fernsehfilmen, Talkshows usw. thematisieren den Wunsch vieler Menschen nach Erhalt einer lebenswerten Umwelt, verschieben aber den Fokus auf den Bereich des Konsums. Es dürfte den Herrschenden eine wahre Freude sein, wenn statt ihnen die Verbraucher_innen zu Hauptverantwortlichen in Sachen Weltrettung erklärt und statt einer notwendigen Revolte für runderneuerte Reifen, kontrolliert angebautes Essen und ethische Geldanlagen gewonnen werden. Alle Vorschläge ziehen den Menschen weiteres Geld aus der Tasche – sogar mit höherer Gewinnspanne, denn ein gutes Gewissen wirkt als Schmieröl des Konsums. Dabei sind viele der in den letzten Jahren die Märkte flutenden Konsumhelfer im Detail nützlich. Wenn z.B. Jörg Zipprick in "Die Supermarktlüge" (2013, Ullstein in Berlin, 254 S., 9,99 €) die Methoden der Lebensmittelindustrie durchleuchtet oder Martina Hahn und Frank Herrmann in "Fair einkaufen – aber wie?" (5. Auflage 2015, Brandes&Apsel in Frankfurt, 388 S., 29,90 €) fleißig Informationen über Zertifikate zum fairen Handel, Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit und verschiedenen Produktgruppen von Nahrungsmitteln über Kleidung, Elektronik bis zum Reisen zusammentragen, kann das beim kritischen Hinterfragen oder praktischen Handeln helfen. Doch kritische Berichte sind selten, selbst dann, wenn (wie im zweiten Buch) staatliche Institutionen samt den eher fragwürdigen Institutionen imperialer Interessendurchsetzung vorgestellt werden. Spektakulär schlecht ist das Ende in Jörg Zippricks Buch. Als einzige Idee schlägt er vor, "dass auch wir unser Einkaufsverhalten ändern". Kein Wort von Protestaktionen, von solidarischer Landwirtschaft oder zumindest dem Recht auf Einsicht in die Akten von Überwachungsbehörden. Die zwei Werke stehen stellvertretend für den Zeitgeist in Sachen ökologischen Alltagsverhaltens: Kleinklein ist hipp. Mit ordentlichen Preisaufschlägen wird das Produkt und ein gutes Gewissen verkauft – durchaus eine Win-win-Situation. Denn für ein oder zwei Euro das gute Gefühl einzukaufen, auf der Seite der Guten zu stehen, ist den Preis wert. Den Firmen hilft es sowieso. Nur der Umwelt und einer fairen Weltwirtschaft nicht. Es ist eher ein Ablasshandel. Und so plädiert dieser Text auch nicht für einen umweltbewussten Geschenkekauf oder Konsum zu Weihnachten. Lecker-veganes Kochen statt zu Fleischmaschinen degradierte Tiere aus der Massentierhaltung, reparaturfreundliche Geräte, Reparieren statt kaufen, die Wegschmeißkultur überwinden, Atom- und Kohlestrom abbestellen, Fahrrad fahren und so vieles mehr sind keine Sache für einen (Fest-)Tag, sondern für alle 365 Herausforderungen jeden Jahres.
Wer die Welt verändert will, darf nicht (nur) in den Geldbeutel greifen, sondern muss die Machtfrage stellen: Nicht nur Bio-Lebensmittel, am Ende noch aus fernen Ländern und unter Ausbeutungsbedingungen gewonnen, umweltbelastend transportiert und aufwändig verpackt, sondern konkrete Schritte weg vom Eigentum am Produktionsmittel Boden und hin zur gemeinsam geplanten Produktion für konkrete Bedürfnisse. Solidarische Landwirtschaften können ein solcher erster Schritt sein. Statt Kampagnen für Ökostrom-Firmen könnten Stromnetze und –anlagen selbst aufgebaut oder politisch erobert werden. Dass das geht, beweisen seit Jahrzehnten die Elektrizitätswerke Schönau. Warum nicht, wenn schon das Schenken sein muss, Eintrittskarten, Anteile oder Ähnliches verbreiten für solche Projekte, die die Machtverhältnisse verschieben? Dann verharrt Schenken nicht im langweiligen Durchschnittsgrau, sondern bietet Anstöße – z.B. ein Gutschein für einen passenden Kinofilm, einen Ausflug zu Orten, die sonst vergessen werden, oder zu spannenden Seminaren. Oder verschenken Sie ein Probeabo in einer solidarischen Landwirtschaft (vielleicht machen die Solawi sogar mit und stellen für solche Schnupperideen ein paar Monatskontingente bereit), den Genossenschaftsanteil im örtlichen Kulturprojekt, das Abo einer regionalen, alternativen Zeitung oder die Beteiligung an einer selbstverwalteten Solar- bzw. Windenergieanlage. Wer die Welt vor dem Moloch Kapitalismus retten will, darf dem Drachen nicht ständig neues Geld in den Rachen werfen, nur weil dieser gelernt hat, sich mit einem grünen Mäntelchen zu umgeben und jedes politische Wollen in eine neue Geldquelle umzudeuten.
Literaturtipp: Jörg Bergstedt (2014): "Konsumkritik-Kritik", SeitenHieb-Verlag


Aus Philipp Oehmke, "Großstadtneurotiker", in: Spiegel, 21/2016 (S. 51f mit Bezug auf die Situation in den USA)
Wer sich in diesen Kreisen bewegt - es sind dieselben, die sich für Vintage-Möbel, Transgender-Politik, Neofolk, Hitlerjugend-Frisuren in Kombination mit Erster-Weltkriegs-Vollbärten, Bernie Sanders, die Romane von Dave Eggers sowie die Zeitschrift "Modern Farmer" interessieren -, gewinnt den Eindruck, es gehe seit einigen Jahren um nichts anderes mehr als um entweder besonders gesundes oder besonders exklusives Essen. In beiden Fällen ist dieser "Foodamentalismus", wie diese Haltung in den USA heißt, Ausdruck des Wunsches, sich in womöglich schwieriger werdenden Zeiten etwas Gutes zu tun: nur die gesündesten Stoffe für den Körper, nur den besten Treibstoff. Nach Botox und Detox, Pilates und Öko-Spas ist das "richtige Essen" nun der letzte Schritt in der Selbstoptimierungskette. ...
Was sich bäuerlich gibt, ist in Wahrheit ein Elitenphänomen. Es ist Ausdruck einer antiindustriellen, oft auch antikapitalistischen Haltung der Bessergestellten, einer wohlhabenden, gebildeten, kulturaffinen Schicht, die wenig andere Probleme kennt. ...
Hippieorte und Ökokommunen sind nichts Neues. Neu ist bloß ihre soziale Umwertung. Sie sind jetzt schick und teuer.


Der Sache hilft es wenig oder gar nicht
Warum ist der ökologische Fußabdruck der meisten Öko-Konsument_innen so schlecht, d.h. ihr Alltag so umweltbelastend? Sind die Ex-Ökos, Gutmenschen und Lohas einfach reicher und konsumgeil, so dass ihr ständiges Kaufen die Umwelt belastet? Oder führt gutes Gewissen beim Einkaufen sogar zu mehr Konsum und damit zum Gegenteil des Suggerierten? Letztlich ist das gleichgültig. Denn dass die Öko-Konsument_innen trotz Hybridautofahrt in den Biosupermarkt einen verheerenderen ökologischen Fußabdruck haben als die ärmeren Schichten, die einfach nicht so viel kaufen können, ist Warnsignal genug. Und wird leider nur selten öffentlich diskutiert. Ein Biomarkt, der ehrlich plakatiert, dass die umweltfreundlichste Form die des Verzichts auf Konsum (zumindest in dessen kapitalistischer Form) wäre, wird wohl schnell von der Bildfläche verschwinden.

Im Original: Reich = umweltschädlich
Aus klimaretter.info am 7.8.2016
Das Einkommen beeinflusst den Energie- und Ressourcenverbrauch viel stärker als das Umweltbewusstsein. Das hat eine in dieser Woche vorgestellte Studie des Umweltbundesamtes (UBA) ergeben. Über die persönliche CO2-Bilanz der Bundesbürger entscheiden demnach vor allem die Nutzung von Flugzeug und Auto sowie die Größe und der Heizbedarf der Wohnung. Auch der Fleischkonsum spielt eine Rolle.
Das Überraschende: Ob jemand sich selbst für umweltbewusst hält oder nicht, ist dabei egal, es kommt nur auf das Einkommen an. "Menschen aus einfacheren Milieus, die sich selbst am wenigsten sparsam beim Ressourcenschutz einschätzen und die ein eher geringeres Umweltbewusstsein haben, belasten die Umwelt am wenigsten", stellten die UBA-Forscher fest.


Aus "ÖkologischesWirtschaften" Dez. 2016 (Vorwort und 1. Artikel)
Nicht das Umweltbewusstsein entscheidet über die Ökobilanz der Deutschen, sondern das Einkommen. Wohlstandsabhängige Konsum- und Verhaltensmuster seien besonders ausschlaggebend für die individuelle Umweltperformance, so etwa Flugreisen, Fleischkonsum oder Heizkosten für große Wohnräume. Das zeigt eine repräsentative Erhebung des Umweltbundesamtes (UBA).
Aus der Umfrage geht hervor, dass einkommensstarke Bevölkerungsgruppen trotz positiver Umwelteinstellung einen außergewöhnlich hohen Pro-Kopf-Verbrauch an Energie und Ressourcen haben. Weitere Ergebnisse: Frauen leben im Durchschnitt umweltfreundlicher als Männer und der Energieverbrauch nimmt mit dem Alter weitgehend zu.


Ein gutes Beispiel für den Zusammenhang von Reichtum und Umweltzerstörung ist der Heizenergieverbrauch. Der liegt im Westen Deutschlands deutlich höher als im Osten, obwohl der Ausbaustand von Wohnungen im Westen höher sein dürfte. Doch größere Wohnungen und mehr Luxus drücken auch hier auf den ökologischen Fußabdruck (Quelle: DIW, September 2019).

Aus "CO2-Preis trifft Geringverdiener", auf: tagesschau.de, 17.10.2019
In einer neuen Studie des DIW heißt es zur CO2-Bepreisung: "Die privaten Haushalte mit niedrigen Einkommen werden dabei deutlich stärker belastet als die hohen Einkommen." Die Studie liegt dem ARD-Hauptstadtstudio exklusiv vor. DIW-Umweltökonomin Claudia Kemfert zieht ein ernüchterndes Fazit: "Das jetzige Klimapaket ist aus verteilungspolitischer Sicht sozial ungerecht und es erfüllt die Klimaziele nicht."
Die Wissenschaftler haben berechnet, dass auf Haushalte mit niedrigerem Einkommen im Durchschnitt eine Belastung in Höhe von teils mehr als einem Prozent ihres Nettoeinkommens zukommt. Das oberste Zehntel der Haushalte hat demnach hingegen im Durchschnitt nur eine Mehrbelastung von 0,4 Prozent seines Nettoeinkommens zu erwarten. Zwar ist der CO2-Ausstoß von reicheren Menschen tendenziell höher, doch auch ärmere Menschen müssen beispielsweise im Winter heizen. Gemessen an ihrem Einkommen trifft sie eine CO2-Bepreisung proportional mehr. ...
Während von niedrigeren Strompreisen gerade auch Geringverdiener etwas haben, hilft die Pendlerpauschale vor allem höheren Einkommensgruppen. Da sie mehr verdienen, haben sie auch einen höheren Steuersatz und profitieren deshalb mehr von den Steuererleichterungen für Pendler. Die DIW-Forscher plädieren deshalb stattdessen für ein einheitliches Mobilitätsgeld, das pro Kilometer ausgezahlt werden soll. Davon würden die unteren Einkommensschichten deutlich mehr profitieren, so Umweltökonomin Kemfert.


Autofahren fürs Klima - Reportage aus der Realität
Die Grünen hatten eingeladen, die Medien große Ankündigungen verbreitet: In Grünberg sollten zwei aus der Region stammende Männer, einer zum Politiker, der andere zum Wissenschaftler ausgestiegen, über Mythen der Klimawandelleugnung aufklären. Ich erwartete zwar kaum Neuigkeiten für mich, steckte ich in dem Thema doch selbst einigermaßen intensiv drin, aber die Gelegenheit schien mir günstig, für den bevorstehenden Verkehrswendetag im Wiesecktal zu werben – fand die Sache doch in der Grünberger Schule statt, also dem Gebiet, für den wir unseren Verkehrswendeplan erarbeitet hatten. Ich schwang mich auf mein Fahrrad und radelte los. Am Ortseingang von Grünberg, von Göbelnrod kommend, stieß ich auf einen Stau. Die Autos standen bis zum westlichen Ortsrand. Hohes Verkehrsaufkommen aus Richtung Gießen war zwar zu dieser Zeit nicht völlig ungewöhnlich, aber so lang hatte ich den noch nicht gesehen. Als Verstopfungspunkt kannte ich bisher vor allem die zentrale Ampelkreuzung in der Grünberg. Da sich der Stau kaum bewegte und Fahrradstraßen oder auch nur Fahrradwege in dieser Stadt weitgehend fehlen, schlug ich mich über Nebenstraßen zu eben benannten Kreuzung durch. Doch Überraschung: Der Stau zog sich über diese hinweg und ging auch danach weiter. Ich suchte wieder Nebenstraßen, im irgendwie voranzukommen – aber auch am östlichen Ortsrand blieb alles verstopft. Die B49 war nur auf dem Fußweg passierbar. Unfall auf der Bundesstraße Richtung Mücke? Ich radelte an den Autos vorbei bis zur schon außerhalb der Stadt liegenden Abzweigung zur Schule. Und dann wurde mir klar: Der Stau war die Klimaschutz-Veranstaltung. Dort angekommen, bestätigte sich das: Die Aula war völlig überfüllt, große Menschenmassen scharrten sich bei sonnigem Wetter auf Bänken, gepflasterten und Grasflächen um das Gebäude. Die Veranstalter hatten Lautsprecher nach draußen gestellt, damit alle der Veranstaltung folgen konnten. Grüne, einige NGOs und das aufstrebende XR nutzten die Gelegenheit zu Verbandswerbung – wie üblich frei von Inhalten oder konkreten Aktivitäten. Ungefähr 30 Fahrräder standen zwischen riesigen Automassen, aus denen verzweifelt nach Parkplätzen suchende Menschen stiegen. Später erfuhr ich, dass es noch viel mehr Autos waren, aber viele umkehren mussten, weil ein Heranfahren in die Nähe des Veranstaltungsortes gar nicht mehr möglich war. Alle Straßen waren komplett zu, nur Wenden und Zurückfahren noch möglich. So sieht moderner Klimaschutz aus – nicht ohne das übliche Hätscheln der FridayForFuture-Schüler*innen, die sich naiv und wie üblich vom gut situierten Bildungsbürger*innentum in deren Propaganda einbauen ließen. Solche Gegner*innen möchte ich als Kohle- oder Automobillobby haben: Antiradikal, redend statt handelnd, auf hohem Umweltverbrauchsniveau und einer Partei zugeneigt, die als einzige noch daran glaubt, dass 50 Millionen neue Autos und neues Wirtschaftswachstum Lösungen der durch selbige hervorgerufene Probleme sei. Die beiden Referent*innen standen dem in Nichts nach und mischten, nach einer ziemlich absurden Einleitungs-Viertelstunde über gemeinsame Schülerstreiche, ziemlich platte Beschimpfungen der – fraglos weitgehend quellenlos agierenden und oft von einschlägigen Konzernen gepushten – Klimawandelleugner*innen in ihren nur phasenweise gehaltvollen Vortrag. Brav sangen sie das Lied der Grünen, als sie ihren Gegner*innen vorwarfen, die Lüge zu streuen, die Grünen hätten der Abholzung des Hambacherforstes zugestimmt. Nun – so weit entfernt von der Wahrheit liegt diese Auffassung nicht, denn die rot-grüne Landesregierung hat in der Tat gemeinsam den Tagebau Garzweiler 2 beschlossen, und der Chef der räumenden Polizei im Hambacherforst war auch immer ein Grüner, bis heute. Aber das hat die Partei immer geschafft: Ihrer Wähler*innenschaft vorzugaukeln, dass sie um Umweltschutz und Frieden bemüht seien, während die von ihnen gestellten Minister*innen Angriffskriege anzettelten, Flughäfen und Autobahnen bauen ließen, Gentechnik förderten und Regeln erließen, die massenhaften Autoneukauf erzwangen. Der Abend in Grünberg war eine Art Nabelschau des dekadenten Zustandes sogenannter Bewegungen, bei denen aber vor allem eines fehlt: Bewegung.

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