Sand im Getriebe

DIE ZIELE UND LEITBILDER DER ENTSCHEIDUNGSFINDUNG VON UNTEN

Startaufstellung für den Weg zur Entscheidungsfindung von unten


1. Einleitungskapitel im "HierarchNIE!"-Reader
2. Welchen Zielen dienen dient die Entscheidungsfindung von unten?
3. Ein Blick auf Hierarchien und Dominanzverhältnisse
4. Startaufstellung für den Weg zur Entscheidungsfindung von unten
5. 5 Leitbilder der Entscheidungsfindung von unten

In diesem Abschnitt wird erläutert, welche grundsätzliche Haltung die Entscheidungsfindung im Idealfall voraussetzt und welche typischen Hindernisse und Holzwege umgangen werden sollten.

4.1 Grundlegende Annahmen und Haltungen
Die Herrschaftsverhältnisse in politischen Zusammenhängen sind vielfältig, komplex, überlagern sich und verstärken sich gegenseitig. So sind oft die, die auch gesellschaftlich als "stark" konstruiert sind diejenigen, die zusätzlich noch, bewußt oder unbewußt, dominantes Verhalten ausstrahlen oder formale Hierarchien einführen. Dem gegenüber steht die Schaffung herrschaftsfreier Verhältnisse als das grundlegende Ziel emanzipatorischer politischer Arbeit. In der politischen Arbeit lassen sich Binnen- und äußere Verhältnisse nicht trennen, denn jede Gruppe oder Vernetzung ist immer auch Teil der Gesellschaft und keine Insel. Folglich gilt der emanzipatorische Anspruch auch im Binnenverhältnis. Der Abbau aller Formen von Dominanzen ist innerhalb jeder emanzipatorischen Gruppe oder Vernetzung und auch während aller Aktivitäten Ziel der politischen Arbeit und nicht nur eine beliebig austauschbare Methode.

4.1.2 Hierarchiefreiheit als Ziel, nicht als Voraussetzung
Der Abbau von Herrschaft im Binnenverhältnis als ständiges Ziel der politischen Arbeit muß als ein permanenter Veränderungsprozeß betrachtet werden. Angesichts der tiefgreifenden Verankerung von Dominanzverhältnissen in den politischen Bewegungen, in der Gesellschaft und in der Psyche aller Menschen wäre es eine Überforderung für Gruppen und Vernetzungen, Hierarchiefreiheit als Voraussetzung für politische Arbeit zu betrachten. Ganz im Gegenteil ist wichtig, ständig die Dominanzverhältnisse zu beobachten und Stück für Stück abzubauen - der unbefleckten Herrschaftsfreiheit kann man sich annähern, sie wird aber aufgrund ihrer Abhängigkeit von den veränderlichen, individuellen Wünschen und Erfahrungen in letzter Konsequenz immer Utopie bleiben.

4.1.3 Hierarchieabbau braucht Ressourcen, Reflexion und Kritikfähigkeit
Der Prozess des Herrschaftsabbaus hat bestimmte Voraussetzungen. Die Gruppe oder Vernetzungen muß sich vereinbaren, emanzipatorische Prozesse anzustreben und sie muß Zeit und Aufmerksamkeit bereitstellen, um diesen Prozeß zu reflektieren, d.h. auf Intransparenzen, dominantes Verhalten, Verfilzungen, unterschiedliche Zugänge zu Ressourcen u.ä. abzuklopfen. Denunziationen und Diffamierungen sind dabei zu vermeiden und unnötig. Denn "Zielscheibe" von Kritik sind nicht Personen, sondern ihr Verhalten - in der Praxis oft genug das aller Beteiligten, die auf verschiedene Art Dominanz ausüben bzw. Dominanzverhältnisse aufrechterhalten, aufbauen oder provozieren.

Es ist ein emanzipatorischer Prozess, zu lernen und zu üben, Kritik am eigenen Verhalten oder der eigenen Arbeit aushalten zu können, also Kritik nicht als Urteil über die (eigene) Person mißzuverstehen. Da aber eine solche Kritikfähigkeit nicht vorausgesetzt werden kann, muß bei der Formulierung von Kritik auch darauf geachtet werden, daß der Lernprozesses nicht durch eine persönliche Verletzungen des Gegenübers behindert wird. Es gilt, sensibel und einfühlsam, also freundschaftlich mit anderen umzugehen und den Beteiligten Wertschätzung und Respekt entgegen zu bringen, ohne jedoch auf die Kritik zu verzichten - eine notwendige Gradwanderung. Wenn die Zusammenarbeit mit einer Person überhaupt nicht mehr gewünscht ist, sollte dies direkt gegenüber dieser Person thematisiert werden, anstatt diesen Wunsch durch unterschwellig ausgrenzendes Verhalten zu realisieren.

4.2 Hindernisse und Holzwege
Aus dem folgenden wird deutlich, vor welchem Hintergrund und durch welche Kritik die Entwicklung der Entscheidungsfindung von unten voran getrieben wurde. Es handelt sich um eine unvollständige Aufzählung mehr oder minder hierarchieförmiger, typischer Verhaltensweisen in linken, bewegungsnahen und dem Anspruch nach oftmals auch emanzipatorischen politischen Zusammenschlüssen.
Der aktuelle Umgang mit Dominanzverhältnissen in politischen Gruppen und Vernetzungen eignet sich oft nicht, einen Hierarchieabbau zu bewirken, weil ...
  • ... die Reaktion auf dominantes Verhalten meist die Diffamierung der als dominant wahrgenommenen Person oder Gruppe ist, nicht jedoch ihr Verhalten kritisiert. So versucht man hierarchische Gruppen auszugrenzen oder diskriminierend auftretende oder so wahrgenommenen Personen zu diffamieren, anstatt gegen das konkrete Dominanzverhalten zu intervenieren. Auf diese Weise kann der herrschaftsfeindliche Anspruch selbst zum Mittel der Dominanz werden und die Notwendigkeit der Veränderung der Rahmenbedingungen wird verdrängt.
  • ... das Entgegentreten gegenüber Dominanzen auf sehr wenige Bereiche beschränkt bleibt (z.B. dort, wo es zu Solidarisierungen mit Betroffenen kommt etwa vieler Frauen mit einer sexistisch angegriffenen Frau oder einer ganzen Gruppe bei einem Angriff auf "ihr" Mitglied, usw.). Andere Formen von Dominanzen werden dabei mangels Lobby oft völlig "vergessen" (z.B. bevormundender Umgang mit Kindern). So bleibt der umfassende emanzipatorische Anspruch wenig glaubwürdig und konsequent.
  • ... die Kritik an Dominanz mit der Forderung nach neuen Dominanzverhältnissen, z.B. Gremien, zentralen Entscheidungen (in Plena, Orga-Zirkeln u.ä.) oder Moderation, verbunden wird. Damit wird Dominanz erhalten und nur verlagert. Es nährt zudem den Verdacht, das das Hauptansinnen mindestens eines Teils der Beteiligten genau in dieser Veränderung der Machtverhältnisse liegt, um selbst durchsetzungsfähiger zu werden.
  • ... selbst in den wenigen Bereichen des Versuchs von Dominanzabbau kein kontinuierlicher Prozeß vorhanden ist, sondern in der Regel besonders krasse oder aus anderen Gründen veröffentlichte Fälle zu kurzzeitigem Bemühen um emanzipatorische Prozesse führen; diese werden dann beendet und müssen im nächsten Fall oft wieder am Anfang losgehen.
  • ... oftmals das Plenum aller und eine extrem bürokratische Basisdemokratie als Lösung empfunden wird; in dem Trugschluß, daß dann, wenn alle alles entscheiden können, auch die Gleichberechtigung am größten ist. Der Trugschluß besteht darin, daß die Regel "alle entscheiden über alles" eine Orientierung hin zu zentralen Entscheidungen bedeutet, die den dominant auftretenden Personen oder Gruppen/Zirkeln erst die Möglichkeit zur Dominanz (dann sogar über alle!) schafft. Basisdemokratie in diesem Sinne fördert Dominanzen wie jede andere Zentralisierung auch. Wird sie noch mit verregelten Entscheidungsverfahren (Moderation, Konsens u.ä.) verbunden, steigert sich diese Wirkung. Verregelungen werden meist am effektivsten von denen benutzt, die dominantes Verhalten beherrschen.

Dominanzabbau und Aufbau herrschaftsfreier Entscheidungsverfahren bedürfen ganz anderer Strategien. Es kommt nicht auf den spektakulären Einzelfall oder die bürokratische Verregelung an (diesem Irrtum unterliegen schon die Nationalstaaten, die ursprünglich mit immer mehr Regeln immer freiere Verhältnisse schaffen wollten), sondern auf die Entwicklung eines kontinuierlichen Prozesses. Dieser entsteht aber nicht von selbst, sondern bedarf konkreter Handlungsformen. Derer sind bislang zu wenige entwickelt. Die wichtigste Forderung ist daher, überhaupt mit dem Probieren, kreativen Denken und dem Experimentieren mit hierarchiefreien Formen von Diskussion und Entscheidungsfindung zu beginnen. Das Know-How, neue Möglichkeiten und der auf anderen Feldern bereits bestehende Erfahrungsschatz kann nur dadurch entstehen.

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