Sand im Getriebe

TEXTE AUS GEGENSTANDPUNKT

Terrorkrieg – die Gegengewalt der Ohnmacht


1. Terrorkrieg – die Gegengewalt der Ohnmacht
2. Amerika ruft den „War against Terrorism“ aus Europa sagt: „Ja, aber...!“
3. Die Analyse des GegenStandpunkt-Verlags in Radio Lora vom 8. Oktober 2001

1.
Eine politische Analyse der gigantischen Anschläge auf die Zentrender amerikanischen Macht gehörte sich in den Tagen danach nicht. Werfragte, welche politischen Ziele die Attentäter verfolgen könnten,aus welchen Gründen sie eine so grundsätzliche Feindschaft gegendie USA hegen, geriet in den Verdacht, Verständnis für diese“Unmenschen” wecken zu wollen oder gar selbst mit dem Terror zu sympathisieren.Diese “menschenverachtenden Untaten” dürfen nicht als politische Tatenbeurteilt werden. Wer so argumentiert, verletzt – nach der gegenwärtigenpolitical correctness – die Gebote der Menschlichkeit. In Bezug auf die“feigen Selbstmord-Attentäter” gehört sich vollkommene Verständnislosigkeit:Das müssen “kranke Gehirne” sein, die an “sinnlosen Wahnsinnstaten”Gefallen finden, sich gezielt gegen “Unschuldige” richten und sich durchSelbstmord auch noch der gerechten Strafe für ihre “teuflischen Pläne” entziehen.
Was die Menschlichkeit verlangt, teilen uns die Verantwortlichen inder Regierung und den Medien mit. Sie organisieren die “völlig unpolitische”,persönlich empfundene Trauer und Betroffenheit des deutschen Staatsbürgers,der gar nicht betroffen ist. Eine radikale Mitleids-Berichterstattung schultden Fernsehzuschauer darin, sich in die Lage der Opfer in den Türmendes World Trade Center und in den Schmerz ihrer Familien hineinzufühlen,damit die gewünschte distanzlose Parteinahme für das wahre Opferdes Terrors herauskommt: die USA.
Arbeitgeber und Gewerkschaften, Bundesregierung und Kirchen ordnenSchweigeminuten, Arbeitsniederlegungen und Solidaritätsdemonstrationenan. Dabei verknüpfen die amtlichen Solidaritätsredner dasGedenken an die Opfer der Anschläge bruchlos mit der “Solidaritätmit Amerika” und schwören ihr Publikum so auf das Opfer ein, auf dases anzukommen hat, die “ins Mark getroffene Weltmacht”. “Heute sind wiralle Amerikaner” verkünden sie und äußern jedes Verständnisfür das Bedürfnis nach Vergeltung, zu der “die USA jedes Rechthaben”. So kurz ist der Weg vom unpolitischen menschlichen Mitleid zurBefürwortung von neuer Gewalt und noch mehr Tod – nun aber organisiertvon den befugten Tätern und absehbarerweise mit den richtigen Opfern,die unser Mitleid dann nicht verdienen.

2.
Die eigentlich Betroffenen – so erfährt man also aus den Medien – sind nicht die Opfer der Anschläge und deren Angehörige, sondern die Vereinigten Staaten selbst: Dieser Staat, der alles dafür tat, vor jedem Angriff von außen gefeit zu sein, ist verwundbar. Dem gilt das öffentliche Entsetzen in den USA. Wie es dazu kommt, dass Amerika sich solche Feinde zuzieht, interessiert nicht. Die Frage: Wieso hat Amerika solche Feinde? Oder gar:
Wodurch hat sich Amerika solche Feinde geschaffen? wird gar nicht erst in Erwägung gezogen.1 Die einzigen Fragen, die Amerika beschäftigen, lauten: 1. Wie war es möglich, dass erstmals seit 1812 ein kriegerischer Akt das amerikanische Kernland treffen konnte? Und 2. Was muss Amerika tun, dass sich so etwas nie mehr wiederholt? – Allein schon das verrät einen maßlosen Standpunkt: Die USA wollen absolute Unverletzlichkeit. Die Supermacht fühlt sich schwach und schutzlos, solange sie nicht sicher gestellt hat, dass selbst zu Selbstmordattentaten bereite Geheimbünde keine Chance mehr haben. Es darf in der Welt niemanden geben, der sich traut, die USA anzugreifen, und dem das auch noch gelingt. Dieser maßlose Standpunkt – kein Terrorakt soll mehr gegen die USA möglich sein – wird zum Maßstab für eine neue Sicherheitsdoktrin ausgerufen, die Bush in “America’s New War” durchsetzen will.

3.
Dabei verrät die Art des Angriffs durch gekaperte Verkehrsflugzeuge schon, wie unangefochten die Weltmacht ist. Für die Waffen der meisten Staaten ist dieser Kontinent schlicht unerreichbar; einem militärischen Gegenschlag Amerikas hätten sie nichts entgegenzusetzen. Umgekehrt haben sich die USA ein Arsenal zugelegt, das es ihnen erlaubt, überall auf der Welt mit überlegenen militärischen Mitteln zuzuschlagen, wenn es einem Staat einfallen sollte, einen Krieg gegen den Willen der USA zu führen. Zusätzlich verfügen sie über militärische Mittel, ihr eigenes Land weitgehend gegen militärische Angriffe von außen zu schützen. Darüber hinaus arbeiten sie an einem Raketenabwehrschirm, um ihre Unverletzlichkeit für künftige Kriege zu garantieren. Diese Unverwundbarkeit der Supermacht ist keineswegs nur defensiv gemeint. Amerika will sich damit vielmehr die einseitige Freiheit zum Krieg sichern. Alle anderen sollen verletzbar sein, sollen sich also vor den USA fürchten müssen. Umgekehrt will Amerika vor keinem potenziellen Gegner Angst haben. Die USA wollen das Risiko ausschließen, selbst entscheidend getroffen zu werden. Sie wollen sich nie in einer militärischen Lage befinden, in der sie sich möglicherweise selbst von einem Krieg abgeschreckt sehen, den sie für geboten halten. In dieser Weltlage ist es für alle anderen Staaten ratsam, sich mit Amerika nicht anzulegen, auch wenn ihre nationalen Rechnungen nicht aufgehen. Wie es einem Staat geht, der das trotzdem tut, das hat die Weltmacht im Krieg gegen den Irak exemplarisch vorgeführt: Dem Irak wurde nicht nur sein militärisches Arsenal zerstört, er wurde auch noch auf den Stand eines Entwicklungslandes zurückgebombt.2

4.
Mit dieser eindeutig geklärten Weltlage wollten sich die Urheber der Anschläge nicht abfinden. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass all ihren Ambitionen – welche auch immer das sein mögen – immer die überlegene ökonomische und militärische Macht der USA im Wege steht. Sie haben in der Weltmacht den Feind ausfindig gemacht, ohne dessen Schwächung nichts von dem geht, was sie sich als die Rechte ihrer Nation oder Völkerschaften einbilden. Aus der amerikanischen Überlegenheit über staatliche Feinde haben sie offenbar den Schluss gezogen: Wenn die USA vor militärischen Angriffen durch Staaten sicher sind, dann geht nur noch eines: Feinde der USA müssen sich nichtstaatlich, also privat als geheime NGOs ohne Adresse organisieren. Angriffe aus der Position der Ohnmacht kommen nur als überraschende Terrorangriffe aus dem Hinterhalt gegen einen militärisch haushoch überlegenen Gegner durch: Kapern von Linienmaschinen durch Selbstmordkommandos und deren Umfunktionierung zu Massenvernichtungswaffen.
Mehr als ein Kriegsersatz ist das allerdings nicht. Sie haben zwar wie in einem richtigen Krieg ökonomische und militärische Schaltzentralen der Weltmacht getroffen. Sie haben gigantische Schäden angerichtet und Tausende von US-Bürgern getötet. Sie haben damit das normale Funktionieren des ökonomischen und politischen Lebens gestört. Aber dem Kriegsersatz fehlt das Wesentliche eines Krieges: Wozu sie die USA mit derartigen Aktionen erpressen wollen, welchen Willen der amerikanischen Regierung sie durch Terror brechen, welchen sie ihr aufzwingen wollen, bleibt im Dunkeln. Mit der Organisierung als Geheimbund fehlt ihnen eben nicht nur die Adresse, sondern auch die zur normalen Kriegführung gehörige Diplomatie mit Forderungen, die mit den Gewaltschlägen durchgesetzt werden sollen. Was die Urheber der Anschläge auf das Welthandelszentrum und das Pentagon bewirkt haben, ist daher “nur” – das aber radikal erfolgreich – ein Schaden. Allerdings einer, den die Weltmacht nicht mehr – wie die Anschläge auf die Botschaften in Nairobi und Daressalam – unter die Kollateralschäden ihrer weltweiten Freiheits- und Friedensstiftung abbucht. “Schock” und “Entsetzen” ergeben sich aus einer tatsächlichen Erschütterung der Weltmacht Nr. 1: Sie selbst, die doch sonst alles Aufbegehren zur Ohnmacht verdammt, ist angreifbar: Die kleinste Lücke in ihrer Abschreckungsmacht, sogar die Verwundbarkeit durch private Organisationen, lassen Zweifel in die Haltbarkeit ihres weltumfassenden Ordnungssystems auftauchen, wenn sie darauf nicht überlegen und jeden Widerstand entmutigend antwortet. In Außerminister Fischers Worten: “Man darf die Weltmacht nicht ungestraft angreifen, sonst ist die ganze Ordnung gefährdet.” So beschaffen ist das also, was man Weltfrieden nennt: Nur wenn die Abschreckungsmacht der USA umfassend ist, dann herrscht Frieden. Und genau dieser Frieden ist die Bedingung dafür, dass Vermehrung von Geld und Kredit, dass weltweiter Kapitalismus der unausweichliche “Sachzwang” für die gesamte Welt ist.

5.
Die USA haben aus dem Terroranschlag auf ihr unverwundbar geglaubtes Territorium die Lehre gezogen, dass sie auch noch das letzte “Fenster der Verwundbarkeit” schließen müssen. Wenn das amerikanische Gewaltmonopol über die Welt und die Unangreifbarkeit der USA durch Staaten schon so weit gediehen ist, dass sich nur noch private Geheimbünde anzugreifen trauen, dann müssen die USA ihr Gewaltmonopol auch noch auf das Innenleben der anderen Staaten ausdehnen. Sie erklären sich für ohnmächtig, solange sie “bloß” die Staaten im Griff haben. Ihre Macht ist erst dann fertig, wenn sich niemand – auch keine privaten Geheimbünde – mehr gegen die amerikanische Weltordnung aufzulehnen traut. Also beanspruchen sie auch unterhalb der staatlichen Ebene den direkten Zugriff auf alle Länder, um sicher vor antiamerikanischen Kommandos zu sein. Mit dem maßlosen Anspruch totaler Sicherheit vor allen terroristischen Angriffen geht Amerika künftig auf die Welt los: Alle Staaten werden in die Pflicht genommen, die Feinde der USA zu verfolgen und auszurotten. Sie haben die eigene Souveränität dafür zu benutzen, die Übermacht Amerikas über den Globus und damit über sich selbst zu zementieren. Den Staaten wird der Widerspruch zugemutet, ihre Souveränität nicht zur Mehrung ihrer eigenen Macht und ihres eigenen Reichtums einzusetzen, sondern dafür, dass niemand von ihrem Boden aus einen Kampf gegen die amerikanische Weltordnung führt, die ihre Macht und ihren Reichtum beschränkt. Sie werden daran gemessen, ob und wie sie diesem Auftrag nachkommen. Wer sich diesem Anspruch verweigert, ist künftig ein Feind und steht unter einer Kriegsdrohung von Seiten der USA.

In der kommenden Woche beschäftigen wir uns mit der Antwort der USA auf den Terrorangriff und mit der doppeldeutigen Solidarität ihrer europäischen Bündnispartner.

1 Die Frage, ob Amerika durch die “Globalisierung” und in seinen Kriegen nicht viel mehr Opfer auf dem Gewissen habe, die mittlerweile in Talkshows, Leitartikeln und Leserbriefen rhetorisch aufgeworfen wird, um sie im Sinne einer moralischen Aufrechnung mit ja zu beantworten, hat nichts zu schaffen mit der Frage nach den Gründen der Feindschaft, aus der heraus die Angriffe auf das World Trade Center und auf das Pentagon geflogen wurden. Die Flugzeugentführer waren ja offensichtlich keine verelendeten Opfer der “Globalisierung”, sondern politische Überzeugungstäter, Kämpfer gegen die amerikanische Weltordnung.
2 Dies gilt in dieser Härte nur für Staaten vom Kaliber eines Irak oder Jugoslawiens. Die Erklärung, warum sich auch Staaten wie Russland und China der Weltordnung der USA unterordnen, sprengt den Rahmen dieses Radio-Beitrags. Deren Kalkulation – eine Rechnung mit Vor- und Nachteilen:
mit Vorteilen, die sie sich aus der Einordnung in die “Sachzwänge” des Weltmarkts und aus guten Beziehungen zur “letzten verbliebenen Supermacht” versprechen, und mit Nachteilen, die ihnen aus einer Feindschaft mit den militärisch und ökonomisch überlegenen USA erwüchsen – wird bei Gelegenheit zu erklären sein. Laufend wird das vierteljährlich im GegenStandpunkt analysiert.
Die Analyse des GegenStandpunkt-Verlags in Radio Lora vom 17. September
2001. www.gegenstandpunkt.com

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