Sand im Getriebe

STRAFE

Wem dienen die Strafgesetze?


1. Einleitung
2. Welchen Sinn macht Strafe?
3. Wem dienen die Strafgesetze?
4. Strafe und Soziales
5. Schöner Schein: Behaupteten und verborgene Motive des Strafens
6. Satire: Vorschlag für ein ehrliches Strafgesetzbuch ...
7. Strafe überwinden!
8. Doch trotzdem heißt es überall: Mehr Strafe!
9. Kritisches zu Strafe
10. Verlautbarungen gegen Strafe und Knast
11. Religiöser Fundamentalismus und Strafe
12. Links und Materialien

"Der Staat bestraft den Mord, sichert sich aber das Monopol darauf."
Bert Brecht

Wen schützen die Strafgesetze? Ein Blick in das Strafgesetzbuch
Die folgende Statistik basiert auf dem Strafgesetzbuch, der allgemeinen Sammlung von strafbaren Handlungen mit Angaben zur Höhe der Strafe. Nicht in die Rechnung eingeflossen sind alle allgemeinen Paragraphen zu Beginn des Strafgesetzbuches, denn die beziehen sich auf alle weiteren Regelungen (§§ 1-79b). Die dann folgenden Paragraphen sind ausgezählt und in drei Gruppen geteilt worden: Die erste Gruppe umfasst Gewalttaten gegen Menschen und ihre körperliche Unversehrtheit. Diese Paragraphen behandeln Taten, bei denen unzweifelhaft das Selbstbestimmungsrecht von Menschen gebrochen wird. Die dritte Gruppe sind solche Taten, die ohne Zweifel ohne physische Gewalt gegen Menschen stattfinden - hier geht es um Angriffe gegen staatliche Symbole, Drogen- oder Eigentumsdelikte ohne damit verbundene Angriffe auf Personen. In der Mitte zwischen diesen beiden stehen die Paragraphen, bei denen eine eindeutige Zuordnung nicht möglich, d.h. vom Gesetzestext ist nicht klar, ob die jeweilige Handlung mit Gewalt gegen Menschen verbunden ist.

Insgesamt gibt es 339 Paragraphen mit Beschreibung von strafbaren Delikten. Davon behandeln mindestens 46 (= 13,57 Prozent gehören zur ersten Gruppen) und höchstens 103 (= 30,38 Prozent gehören zur ersten oder zweiten Gruppe) gewaltförmige Delikte. Die überwältigende Zahl von mindestens 236 (= 69,62 Prozent gehören zur dritten Gruppe) und höchstens 293 (= 86,43 Prozent gehören zur zweiten oder dritten Gruppe) betrifft nicht-gewaltförmige Delikte. Die Strafverfolgung dient bei ihnen also anderen Zielen als der Verhinderung bzw. - wohl realistischer - nachträglichen Abstrafung von Gewalt zwischen Menschen. Da vor allem Haft- und Geldstrafen die Wahrscheinlichkeit späterer Gewaltanwendung steigern, fördern alle Regelungen des Strafgesetzbuches die Gewalt zwischen Menschen. Insbesondere die Bestrafung von nicht-gewaltförmigen Delikten stellt oft den Beginn von kriminellen ,Karrieren' dar.

Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass das Strafgesetzbuch nur nebensächlich Gewalt zwischen Menschen ahndet. Allein die Schutzparagraphen für Staat und öffentliche Ordnung sind zahlreicher als alle Gewaltparagraphen selbst unter Einrechnung der unklaren Fälle vor. Eigentum und Markt sind durch ca. dreimal mehr Paragraphen geschützt als die Menschen vor Gewalttaten. Das zeigt bereits in den nackten Zahlen das politische Interesse des Systems ,Strafe' an. Deutlicher schlimmer fiele eine Betrachtung aus, die zusätzlich untersucht, wieviele sich immer gegen Menschen richtende Gewalttaten ohnehin straffrei sind - vom Krieg über Polizeigewalt, Hausarrest oder Zwangseinlieferung in Psychiatrie, Heime, Schule oder Elternhaus.

1. Gewalttaten gegen Menschen = 46 Paragraphen (13,57 %)
  • Gegen die sexuelle Selbstbestimmung: 174-181a und 182 = 15 Paragraphen
  • Gegen das Leben und die Gesundheit: 211-231 = 23 Paragraphen, 340 = 1 Paragraphen
  • Freiheitsberaubung 234-239b = 7 Paragraphen

2. Unklar, d.h. auch gewaltförmiges Verhalten in Kombination mit anderem möglich = 57 Paragraphen (16,82 %)
  • Nötigung u.ä.: 239c-241 = 3 Paragraphen
  • Raub, Erpressung u.ä.: 249-256 = 7 Paragraphen
  • Massive Sachbeschädigung mit Gefährdung von Menschen: 306-323c = 34 Paragraphen
  • Umweltdelikte: 324-330d = 13 Paragraphen

3. Rest = 236 Paragraphen (69,62 %)
  • 3.1 Schutz von Staat und öffentlicher Ordnung = 87 Paragraphen (25,66 %)
    • Gegen Staaten/den Staat und staatliche Abläufe (Wahlen ...): 80-121 = 65 Paragraphen
    • Gegen die öffentliche Ordnung: 123-145d = 25 Paragraphen
  • 3.2 Schutz von Eigentum, Wirtschaft, Markt und Profit = 66 Paragraphen (19,45 %)
    • Geldverkehr: 146-152a = 8 Paragraphen
    • Wirtschaftliche/materielle Taten: 242-248c = 10, 257-262 = 8, 263-266b = 10, 283-283d = 5, 284-297 = 13, 298-302 = 5, 303-305a = 7 Paragraphen
  • 3.3 Gegen nicht normgerechtes Verhalten = 56 Paragraphen (16,52 %)
    • Falschaussage u.ä.: 153-163 = 9 Paragraphen
    • Gegen Normen u.ä.: 164-165 = 2, 166-168 = 3, 169-173 = 5, 267-282 = 15 Paragraphen
    • Straftaten im Amt: 331-358 (außer 340) = 22 Paragraphen
  • 3.4 Sonstiges = 27 Paragraphen (7,95 %)
    • Sonstige Regelungen um Gewalttaten: 181b-184c (außer 182) = 8, 241a = 1 Paragraph
    • Nichtgewaltförmige Delikte gegen Menschen: 185-206 = 18 Paragraphen
    *Hinweis: Bei diesen Zahlen lag in anfänglichen Berechnungen ein Rechenfehler vor, der in einige Veröffentlichungen Eingang fand. Sorry!

Diese Tabelle zur Übernahme in andere Schriften, Flugblätter usw. als PDF (kann dann auch in Bildformat gewandelt werden ... PDF-Tipps hier).

Strafbar ist nicht die Handlung, sondern der Status der Verbotenheit. Wer eine Person umbringt, erhält lebenslänglich bei Feststellung der beschonderen Schwere der Schuld und anschließender Sicherheitsverwahrung. Wer 100 Menschen ermordet, erhält einen Orden.

Aus Ludger Schwerte (2012), „Vom Urteilen“ (S. 18)
Entscheidend ist das Auftreten einer neuen Figur, die im römischen Recht kein Vorbild besitzt: die des königlichen Prokurators - die Vorform des Staatsanwalts. Michel Foucault bemerkt hierzu: „Der procureur du roi präsentiert sich als Vertreter des in seinem Recht verletzten Herrschers. Es entsteht ein völlig neuer Begriff: der Gesetzesverstoß |...). Der Gesetzesverstoß ist kein Unrecht [...]. sondern ein Verstoß des Einzelnen gegenüber der Ordnung, dem Staat.

Aus Roth, Siegward (1991): „Die Kriminalität der Braven“. C.H. Beck München
Ein Soldat, der an der Front einen anderen Menschen in fremder Uniform tötet, kann ja nicht als Krimineller verstanden werden. Ähnlich verhält es sich auch mit der Erklärung des Krieges (oder besser: des Verteidigungsfalles) und mit den gewaltigen Zerstörungen und massenhaften Personenschäden, die durch einen Krieg in der Zivilbevölkerung angerichtet werden. Auch das wird normalerweise nicht als Kriminalität verstanden. ... (S. 112)
Eine Aufzählung aus einem kriminologischen Wörterbuch, die ich unter dem Stichwort "Kriminalität der Mächtigen" gefunden habe, kann einen groben Überblick über deren Inhalte geben: "Wahlbetrug, illegale Überwachungs- und Verhörmethoden, Folterungen, Körperverletzungen, Freiheitsberaubungen, Nötigungen im Amt, die Anstiftung zu oder Duldung von Polizeibrutalität bis hin zum ungerechtfertigten Schußwaffengebrauch mit tödlichem Ausgang, staatlich gelenkt und Terrorakte polizeinaher oder paramilitärischer Todesschwadronen." Dabei findet der politische Mord eben nicht nur in den Gefängnissen südamerikanischer Militärdiktaturen statt oder in den Konzentrationslagern der Nazis. Der politische Mord (nur durch Regierungen) hat allein in den 70er Jahren Hunderttausende von Opfern gefordert, und die Bedingungen für diese Art Kriminalität existieren grundsätzlich überall."
Als weitere Beispiele für die Rechtfertigungsstrategien der Großpolitik erinnere ich an die Argumentation nach der Inlandsspionage des Bundesnachrichtendienstes, die von dessen ehemaligem Mitarbeiter Heinz Felfe aufgedeckt wurde, und an den Sprengstoffanschlag auf die Umfassungsmauer der Strafvollzugsanstalt Celle, der vom niederländischen Landesamt für Verfassungsschutz geplant und von einer "Spezialeinheit der Polizei" durchgeführt wurde. Daß der zuständige Justizminister erklärte, durch diese Aktion seien keine Strafnormen verletzt worden, hat in der Tat zu vielfältigen Irritationen in der Bevölkerung geführt. Mir ist hier der Hinweis wichtig, daß der Minister selbst eben nicht irritiert war und bezüglich der Irritationen in der Bevölkerung erklären konnte, sie müßten hingenommen werden. Er verwies damit nachdrücklich darauf, daß in der großen Politik ganz eigene Gesetze gälten, zu deren Verständnis die Einsicht des Normalbürgers angeblich nicht tauge.
(S. 114 f.)

Aus Thomas Fischer, "Soll man mit dem Strafrecht Politik machen?", in: Zeit am 11.11.2015
Ist Strafrecht "neutral"? – Gewiss nicht. Es gibt viele Regeln seiner Entstehung, Auslegung und Anwendung. Stets aber gilt: In seiner jeweiligen historischen Form schützt es die jeweils Mächtigen und benachteiligt die Schwachen. Das gilt selbst dann, wenn "der Staat" sich wie ein Alleinherrscher über die Gesellschaft erhebt, wie dies in Militärdiktaturen der Fall ist. Aber das bedeutet nicht, dass man die Bemühungen um seine demokratische, freiheitliche Legitimation und Funktion aufgeben dürfte.

Wen schädigen die Strafgesetze?
Wenn die Polizei hinterrücks einen Rentner aus Wuppertal erschießt, weil sie ihn für einen gefährlichen Verbrecher hielt - so wird sie freigesprochen, weil sie sich in einem Erregungszustand befunden haben soll (realer Fall aus Nordthüringen). Dass sie auch noch in Panik weglief und den Angeschossenen verbluten ließ, was auch egal.
Wenn hingegen bei einem (bei der Polizei ungeliebten) Mitglied der "Hell Angels" eine Meute ohne Vorwarnung die Tür eintritt, der Bewohner des Hauses an einen Überfall rivalisierender Gruppen denkt und aus Angst schießt, so hagelt es 9 Jahre Haft.

Aus Roth, Siegward (1991): „Die Kriminalität der Braven“. C.H. Beck München (S. 122)
Gegen einen 31jährigen Deutschen, der einen 34jährigen Ausländer in brutaler Weise zu Tode geprügelt hatte, wurde ein Strafverfahren wegen "gefährlicher Körperverletzung" durchgeführt und eine Strafe von 15 Monaten Haft auf Bewährung ausgesprochen. Der Vertreter der Nebenklägerin (Ehefrau des Opfers) warf der Justiz vor, in einem so schweren Fall noch nicht einmal wegen Körperverletzung mit Todesfolge oder wegen Totschlags wenigstens angeklagt zu haben. Die Familie des Opfers wertet den Vorfall als Skandal und vermutet dahinter rassistische Motive.

Im Original: Die Entstehung der Freiheitsstrafe
Text "Strafvollzug im Wandel der Zeit" aus der Zeitung "Konturen" 6/2007 (S. 8 f.)
Die Rechtsprechung und das System staatlich angeordneter Sanktionen waren im Laufe der letzten Jahrhunderte einem starken Wandel unterworfen. Gefängnisse existierten zwar schon in der Antike und im Mittelalter, aber sie dienten in der Regel dazu, die Delinquenten bis zum Gerichtsverfahren bzw. der nachfolgenden Vollstreckung des Urteils in Gewahrsam zu nehmen.
Üblich waren in dieser Zeit für leichtere Vergehen z. B. Körperstrafen (Schläge, Spießrutenlaufen, Stäupen, u. Ä.), das Abscheren von Haar (bei Frauen) und Bart (bei Männern) oder das öffentliche Anprangern. Für schwerere Vergehen waren Leibesstrafen, wie das Abschlagen von Gliedmaßen (besonders Händen, Ohren, Nase) üblich. Vergehen, die als sehr schwer eingestuft wurden, wurden meist mit der Todesstrafe sanktioniert, wobei diese in der Regel öffentlich vollzogen wurde und der Verurteilte nicht selten einer Stunden andauernden, blutigen Folter unterzogen wurde. In weiten Teilen der Bevölkerung galten öffentliche Hinrichtungen als Spektakel, die nicht unbeliebt waren und zu denen auch durchaus die eigenen Kinder mitgenommen wurden.

Entstehung des Besserungsgedankens
Dieses System der Bestrafung änderte sich erst um die Zeit der französischen Revolution (1789 bis 1799) im Zuge der Aufklärung und der aufkommenden Industrialisierung. Im Zeitalter der Aufklärung gewann der Besserungsgedanke immer mehr an Boden. Besserung konnte aber nicht durch die Todes- und Leibesstrafen erreicht werden, sondern viel eher durch längere Freiheitsstrafen bei intensiver Arbeit und Zucht, sowie religiöser und weltlicher Unterweisung. Die ersten "Zuchthäuser" entstanden. Leibesstrafen wurden abgeschafft. Die Todesstrafe wurde zwar beibehalten, aber die Hinrichtungsarten geändert. Die neuen Verfahren folgten dem technischen Fortschritt: In Frankreich wurde 1792 die Guillotine als maschinelle Form des Enthauptens eingeführt und verbreitete sich von dort aus in Europa. Der französische Arzt und Politiker Joseph-Ignace Guillotin (1738-1814) hatte sie entwickelt, um die Hinrichtungen zu "humanisieren" und das Leiden der Hingerichteten zu verkürzen. Verglichen mit den vorher üblichen Praktiken, stellte die Guillotine eindeutig eine weniger grausame Form des Tötens dar. Hinzu kam seit Erfindung der Schusswaffen die Erschießung. Seit etwa 1890 setzte sich daneben der Strang durch.

Arbeitsteilung und Ökonomisierung
Auch die beginnende Industrialisierung spielte in diesem Prozess eine Rolle, denn es setzte eine Ökonomisierung des Denkens ein. Güter wurden nun nicht mehr ausschließlich auf Bestellung von einem in langen Jahren ausgebildeten Handwerker gefertigt. Manufakturen waren die Vorläufer von Fabriken, in denen noch ohne Maschinen gearbeitet wurde. Sie entstanden in der frühen Neuzeit, d.h. der Zeit zwischen Spätmittelalter und französischer Revolution, und produzierten Waren weit schneller und kostengiinster als ein einzelner Handwerksmeister oder Geselle. Die dort Angestellten waren jeweils nur für einen bestimmten Arbeitsgang zuständig und bezogen als ungelernte Arbeitskräfte weniger Lohn. Bei dein sich in der Wirtschaft durchsetzenden Ökonomisierungsgrad lag der Gedanke nicht fern, dass sich auch der Staat nun auch die Arbeitskräfte derer möglichst effizient zu Nutze machte, die ihn und seine Bevölkerung durch ihre Verbrechen geschädigt hatten. Arbeit war in den Gefängnissen die Regel, doch stand nicht allein das finanzielle Interesse der Anstalt im Vordergrund. Gleichzeitig sollten die Insassen durch Arbeit und zur Arbeit erzogen werden. Die Gefangenen hatten in der Regel ein bestimmtes Arbeitspensum zu erfüllen und erhielten dafür eine geringe Entlohnung, für die sie Nahrungsmittel oder Tabak kaufen konnten. Wer hingegen sein Pensum nicht erfüllte, oder schlechte Arbeitsergebnisse lieferte, dem drohten nicht selten Arbeitsstrafen, die z. B. aus besonders unangenehmer, harter Arbeit
bestanden oder aus einer Erhöhung des täglichen Arbeitspensums.

Normierungstendenzen in der Gesellschaft
Mit der Entstehung der Massenproduktion von Gütern in Manufakturen setzte ein Normierungsprozess ein: Nur wenn die Zwischenprodukte einheitlich gestaltet waren, konnte der nächste Arbeiter in der Produktionskette damit weiterarbeiten. Die Idee der Normierung und Systematisierung setzte sich ab der frühen Neuzeit allmählich auch in anderen Bereichen des täglichen Lebens durch. Menschen, die nicht der Norm entsprachen, liefen Gefahr eingesperrt zu werden und Zwangsmaßnahmen ausgesetzt zu sein:

  • Arbeitshäuser entstanden vermehrt im 17. und 18. Jahrhundert. Es handelte sich um Versorgungseinrichtungen, in denen vor allem von Armut betroffene Menschen untergebracht waren. In den Einrichtungen bestand Arbeitspflicht, die meist in den hauseigenen Manufakturen verrichtet werden musste. Es war keineswegs unüblich, dass vagabundierende Bettler gegen ihren Willen durch Razzien aufgegriffen und dort eingeliefert wurden. Der Wandel vom herumziehenden Bettler zum wirtschaftlich verwendbaren Untertan sollte hier durch Methoden der Arbeitserziehung erreicht werden. In Arbeitshäusern versammelten sich aber auch andere Außenseiter, die die frühe Neuzeit hervorgebracht hatte: Bettler, Dirnen, ehemalige Soldaten, Handwerker ohne Anstellung, Straffällige, verwahrloste Waisenkinder und geistig Behinderte. Ein Werk- oder Zuchtmeister führte die Aufsicht über die Insassen. Fast immer gehörte auch ein Geistlicher oder Prediger zum Personal.
  • Armenhäuser entwickelten sich aus den mittelalterlichen Hospizen und Spitälern. Sie waren oft gekoppelt mit einem Waisenhaus, einem Gefängnis, einem Krankenhaus und einem Arbeitshaus. Hier erhielten v. a. Alte, die nicht mehr selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen konnten, Kost und Logis. Die Armenhäuser nahmen nur verarmte Bewohner aus der eigenen Stadt auf. Finanziert wurden Armenhäuser in der Regel durch Spenden wohlhabender Bürger und durch kirchliche und staatliche Zuschüsse.
  • Waisenhäuser entwickelten sich aus den Findelhäusern des Mittelalters, verstärkt seit dem 17. Jahrhundert. Sie waren zunächst Erziehungsheime für Halb- oder Vollwaisen, sowie für schwer Erziehbare, die von den Eltern nicht die notwendige Fürsorge erhielten.
  • "Tollhäuser" waren die Vorläufer der "Irrenanstalten". Davor lebten psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen mitten in der Gesellschaft. Die Ernährung war unzureichend, die Betroffenen wurden angekettet und geschlagen und man versuchte, sie durch Folter "zur Vernunft zu bringen". Im 19. Jahrhundert reformierte der französische Arzt Philippe Pinel die Psychiatrie und sorgte für deren Anerkennung als eigenständiges Gebiet der Medizin.
  • Die Einrichtung der ersten "Irrenhäuser" begann zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als der Begriff noch nicht seine heute negative Bedeutung besaß. Davor waren psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen im Zuchthaus, Arbeitshaus oder Tollhaus untergebracht. In Irrenhäuser und Tollhäuser wurden mitunter auch jene eingewiesen, die sich den Forderungen des Zeitalters der Vernunft entzogen: Bettler, Vagabunden, Arbeitslose, politisch Auffällige, Dirnen, spielsüchtige Söhne und gefallene Töchter, mit „Lustseuchen“ Behaftete, depressive sowie psychisch kranke und behinderte Menschen. Sie alle wurden ohne Unterschied zusammen mit den anderen Insassen eingesperrt.

Normierungen im Justizwesen
Noch im Mittelalter war es nicht unüblich, dass Delinquenten ihrer Strafe entgingen. Der Polizeiapparat war noch nicht sehr entwickelt, die Aufklärungsquote für Kapitalverbrechen daher niedriger. Auch kam es nicht selten vor, dass überführte Täter trotz schwerwiegender Delikte begnadigt wurden, weil Richter oder Zuschauer bei der Hinrichtung Mitleid mit ihnen hatten. Nicht wenige hofften zu Recht, ihrer Strafe zu entgehen. Damit sollte nun Schluss sein, denn eine Bestrafung sollte jedem Täter zukünftig ohne Ausnahme gewiss sein. Gleichzeitig sollte die Strafe weniger grausam sein und Raum zur Besserung lassen. Im Zuge der Systematisierung und der Entwicklung wissenschaftlicher Verfahren wurde auch der Polizeiapparat effektiver gestaltet. Philip Purkinje entwickelte z. B. 1823 eine erste Klassifikation von Fingerabdrücken in neun Kategorien. Aber erst dem Naturforscher und Genetiker Sir Francis Galton gelang im Jahr 1888 der eigentliche Durchbruch. Er gilt als Begründer der Daktyloskopie.

Fazit
Unser heutiges Justizsystem und damit auch Gefängnisse, als Orte der Verbüßung - meist zeitlich begrenzter - Freiheitsstrafen, konnten kaum zu einem früheren Zeitpunkt in der Geschichte entstehen. Erst gesellschaftliche Ideen und Prozesse im Verlauf der früheren Neuzeit, wie Humanismus, Aufklärung und Vernunft, Industrialisierung, Normierung und Ökonomisierung schufen eine Basis für deren Entstehung.


Vieles dauert ewig, manchmal aber geht es sehr schnell ...
Wenn es den Herrschenden hilft, verschwinden Strafparagraphen überraschend schnell. Oder werden neu geschaffen. Bei anderen dauert es ewig, bis sie verschwinden.

Verschwunden: Strafparagraph zur Vorbereitung eines Angriffskrieges
Der § 80 StGB "Vorbereitung eines Angriffskriegs" ist seit 1. Januar 2017 gestrichen (siehe Bericht auf telepolis am 7.1.2017).

Ganz schnell erneuert: Maßregelvollzugs- und Psychisch-Kranken-Gesetze
2011 erklärte das Verfassungsgericht Fixierungen, Zwangsmedikamentierungen und andere Formen körperlicher Quälerei an Menschen für verfassungswidrig. Grund war nicht, dass damit folterähnliche Zustände vor allem in geschlossenen Psychiatrien herrschten, sondern allein, dass ein Gesetz fehlte, dass dieses explizit erlaubte. Also wurden die gemacht - binnen nur 2-3 Jahren.

Ganz langsam: Homosexualität - bestraft bis 1994
Aus "Schwulenverfolgung: Nachzügler BRD", in: Junge Welt, 11.3.2019
Bis 1994 stand männliche Homosexualität nach Paragraph 175 in der Bundesrepublik offiziell unter Strafe. Erst vor 25 Jahren, am 10. März 1994, beendete der Deutsche Bundestag das dunkle Kapitel der staatlichen Schwulenverfolgung und schaffte den Paragraphen ab. ...
Schon im März 1989 hatten 40 Abgeordnete und die damalige Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen einen Gesetzentwurf zur ersatzlosen Streichung des Paragraphen 175 StGB in den Bundestag eingebracht. Er wurde jedoch sowohl von den Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP als auch von der SPD abgelehnt. ...
Noch 1957 bezeichnete das Bundesverfassungsgericht den Paragraphen 175 in seiner Nazifassung als rechtmäßig. ...
Nicht wenige der nach Paragraph 175 verurteilten und verfolgten Opfer des faschistischen Terrors blieben auch nach ihrer Befreiung aus den Konzentrationslagern weiterhin inhaftiert, da der 175er auch in der BRD galt und Betroffene ihre Freiheitsstrafe noch nicht vollständig verbüßt hatten. Allein zwischen 1950 und 1969 kam es in Westdeutschland zu rund 100.000 Ermittlungsverfahren und etwa 50.000 rechtskräftigen Verurteilungen nach Paragraph 175. Bis zur Abschaffung des Schandparagraphen folgten etwa 14.000 weitere Verurteilungen. Noch 1994, im letzten Jahr seines Bestehens, wurden 44 Personen verurteilt.


Bis 1994 war männliche Homosexualität noch eine Straftat - und so ganz freiwillig änderte die BRD das auch nicht
Aus "Mit sozialistischem Gruß", in: Junge Welt, 8.6.2019 (S. 3)
Am 11. Juni 1994 jährt sich die ersatzlose Streichung des bis dahin gültigen Strafrechtsparagraphen 175, der Sexualität zwischen Männern in der BRD unter Strafe stellte. Der Paragraph 175 war bereits 1871/72 mit der Gründung des Deutschen Reiches eingeführt worden und wurde am 28. Juni 1935 von den Faschisten verschärft. Allein zwischen 1933 und 1945 wurden rund 100.000 Ermittlungsverfahren gegen Männer eingeleitet, die der Homosexualität bezichtigt wurden. Etwa 57.000 Männer wurden damals nach Paragraph 175 verurteilt. Insgesamt 6.000 Männer sollen explizit wegen ihrer Homosexualität in die Konzentrationslager der Nazis verschleppt worden sein. Zwischen 53 und 60 Prozent der Betroffenen, die mit dem »Rosa Winkel« als Homosexuelle gebrandmarkt wurden, kamen in den Vernichtungslagern ums Leben. Viele derer, die den Naziterror überlebten, waren körperlich und psychisch für ihr Leben gezeichnet. Eine unbekannte Anzahl schwuler Männer wurde von den Faschisten in psychiatrische Anstalten gesperrt, dort Opfer von Menschenversuchen und viele auf gerichtliche Anordnung hin zwangskastriert.
Keineswegs jedoch fand die staatliche Verfolgung und Kriminalisierung schwuler und bisexueller Männer mit der Befreiung Deutschlands vom Faschismus ein Ende. Vielmehr galt der von den Faschisten verschärfte Paragraph auch in der Nachfolgerepublik des Nazireichs noch bis ins Jahr 1969. Selbst das Bundesverfassungsgericht hatte der staatlichen Verfolgung noch 1957 seinen Segen erteilt und den Paragraphen als rechtmäßig bezeichnet. ...
Ein bemerkenswerter Nachklang gelang der DDR indes noch, als sie bereits nicht mehr existierte. So war es der Annexion des Landes geschuldet, dass die Bundesrepublik im Rahmen der Rechtsangleichung der beiden deutschen Staaten gezwungen war, den Paragraphen 175 abzuschaffen. Noch im letzten Jahr seines Bestehens, 1994, wurden 44 Personen verurteilt.
Eine Rehabilitierung der Opfer des staatlichen Verfolgungsfurors war damals nicht vorgesehen. Auch die 1998 erstmalig gewählte »rot-grüne« Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), deren Protagonisten sich stets als besonders homofreundlich inszenierten, beließ es bei warmen Worten für die Opfer der Verfolgung. Erst 2002 konnte sich der Deutsche Bundestag überhaupt dazu durchringen, sich offiziell bei den homosexuellen Opfern des Naziterrors und des Adenauer-Regimes zu entschuldigen.
2017 beschloss die Bundesregierung, Leidtragende rehabilitieren und entschädigen zu wollen.


Ganz langsam: Bestrafung für Vergewaltigung in der Ehe
Strafe ist immer falsch, aber bemerkenswert ist es doch, wenn eine bestimmte, krasse Form des Übergriffs nicht bestraft wird. Erst 1997 wurde die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt. Außerhalb der Ehe war sie das schon lange vorher. Warum dieser Unterschied? Wer das Patriarchat versteht, wird sich kaum wundern ...

Aus "Als Vergewaltigung in der Ehe noch straffrei war", in: SZ, 4.7.2017
Das Grundgesetz gilt schon seit mehr als anderthalb Jahrzehnten, da buchstabieren 1966 die Richter - ausschließlich Männer - des 4. Zivilsenats am Bundesgerichtshof aus, welche Erwartungen die Justiz an Frauen hat. "Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, dass sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen lässt. Wenn es ihr infolge ihrer Veranlagung oder aus anderen Gründen, zu denen die Unwissenheit der Eheleute gehören kann, versagt bleibt, im ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen."
So war das Pflichtenprogramm, wie es die Karlsruher Richter sahen. Und dies war die Folge: Eine Frau, die sich in Deutschland an die Polizei wandte, um eine Vergewaltigung anzuzeigen, hatte zuerst eine Frage zu beantworten: In welchem Verhältnis stehen Sie zum Täter? - Wir sind verheiratet. - Na, dann gehen Sie nach Hause.
Es war eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers: Als Vergewaltiger bestraft wurde in der Bundesrepublik nur, wer sein Opfer mit Gewalt zum "außerehelichen Beischlaf" zwang. Ein Trauschein wirkte wie ein Freibrief. Das Gesetz, das Vergewaltigungen in der Ehe zur Straftat machte, trat erst am 1. Juli 1997 in Kraft, vor nun 20 Jahren; im Bundestag angenommen mit 470 zu 138 Stimmen bei 35 Enthaltungen. So kurz ist das erst her.
"Wer wie der Ehemann auf den Beischlaf ein vollkommenes Recht hat, macht sich durch Erzwingen desselben keiner Nothzucht schuldig", hatte Carl J. A. Mittermaier, einer der bedeutendsten Strafrechtler, schon im 19. Jahrhundert gemeint. "Notzucht", "Unzucht" oder wie immer die Vergewaltigung in den verschiedenen Epochen hieß, war stets nur das, was gegen von der Justiz hochgehaltene Moralvorstellungen verstieß. "Eine an sich zulässige Handlung wird nicht dadurch zu einer unzüchtigen, dass sie mit Gewalt vorgenommen wird", hielt 1937 das Reichsgericht fest. Und bei dem Prinzip blieb es noch lange.

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