Keine A49

VERKEHRSWENDE IN GIESSEN: DIE KONKRETEN VORSCHLÄGE

Anlagenring wird zur Fahrradstraße ... und wieder zur Autostraße: Desaster statt Auftakt zu mehr


1. Fahrradstraßen, Tramlinien und eine Flaniermeile
2. Forderungen, Wünsche, Ziele ... unser Verkehrswendeplan
3. Die weitere Vision: Verkehrswende 2.0 - kein Autoverkehr mehr durch die Stadt
4. Zu Fuß: Autofreie Innenstadt und Zonen, barrierefreie und breite Wege
5. Fahrradstraßen: Innerer Anlagenring, Innenstadtdurchfahrten, Trassen in alle Stadtteile
6. Anlagenring wird zur Fahrradstraße ... und wieder zur Autostraße: Desaster statt Auftakt zu mehr
7. RegioTram: Zwei Straßenbahnlinien mit Anschluss ins Umland, weitere Strecken in Stadtteile plus Bus-Zubringer
8. Bachelorarbeit zur RegioTram
9. Klingt exotisch, bringt es aber: Seilbahnen als Ergänzung
10. Stadtteile im Nordosten: Wieseck und rund um die Philosophenhöhe
11. Pläne für konkrete Plätze oder Straßenabschnitte
12. ÖPNV und Nulltarif in und um Gießen
13. Verkehrsunternehmen, Medien, Politik und Institutionen
14. Parteien und Politiker*innen zur Verkehrswende in Gießen
15. Beiräte, NGOs, Berater*innen usw.
16. Verkehrserzeuger*innen und Pro-Auto-Lobby
17. Links
18. Das war der erste Vorschlag (2017): Plan, Text und Flyer
19. Kontaktformular für Anfragen und alle, die mitmachen wollen


Aktion am Montag, 28.10., um 13.30 Uhr auf der Südanlage (nahe Bleichstraße) ++ Presseinfo
Dienstag, 29.10. um 9 Uhr: Strafprozess wegen Pro-Fahrradstraßen-Aktion (Amtsgericht Gießen)

Was hatten sich Verkehrswende-Aktive gefreut: In die Verkehrswende kam endlich Schwung - nicht mehr nur Kleinklein, sondern einige Veränderungen, die richtig was verschieben könnten. Im Zentrum stand die neue Aufteilung des Anlagenrings um die Innenstadt. Künftig sollten die inneren Spuren den Fahrrädern und Bussen alleingehören. Um diese auch gut erreichen zu können, schlugen wir weitere Achsen durch die Innenstadt und aus den Stadtteilen zum Ring vor. So entstünde das Anfangsgerüst für ein hoffentlich am Ende dichtes Fahrradstraßennetz. Die Veränderung hätte auch Vorteile für den ÖPNV, für Fußgänger*innen und sogar für Autofahrende gebracht. Doch die Autolobby brachte aus ideologischen Überlegungen und einer allgemeinen Anti-Öko-Einstellung mit einer Hetzkampagne alles zu Fall. Die Grünen ließen sich, wie immer, einschüchtern.

Text "Mob statt Mobilitätswende" über das Fahrradstraßen-Desaster, in: Rabe Ralf Dezember 2023
Unten: Rückwärts stimmt auch der Werbefilm: Von der Fahrradstraße zurück in die Gießener Auto-Steinzeit

Das Projekt wurde einige Male auch überregional wahrgenommen. Es wäre ein großer Sprung nach vorne gewesen!


Dumme Berichterstattung erzeugt den Mythos, dass die Fahrradstraße nicht funktioniert hätte und Staus erzeugte - dabei hat es sie nie gegeben. Leider wird diese Geschichtsmanipulation ziemlich sicher dazu beitragen, dass die Verkehrswende auch in Zukunft unterbleibt.


Genial, oder? Dieses Bild veröffentlichte der Gießener Anzeiger als Vision einer zukünftigen Gestaltung des Selterstors ... ohne Autos, mit viel Grün und der Fahrradstraße!

Radeln und Anlagenring - eine schon lange Geschichte. Die Politik diskutiert und beschließt das seit Jahrzehnten - unfähig, zu handeln. Der Druck der (Fahrrad-)Straße hat erst die Veränderung gebracht - und der aufgehetzte Mob der Autofahrenden in gemienschaftlicher Tat mit CDU, Polizeipräsident, Landesregierung & Co. hat sie wieder genommen.

Wie weiter nach dem Aus der Fahrradstraße?

Der Abriss der Fahrradstraße war stark umkämpft und intensiv. Die Niederlage aus Sicht der Verkehrswende und des Klimaschutzes schuf viel Frust. Es blieb wenig Hoffnung, dass sich in naher oder mittlerer Zukunft nochmal größer was ändern könnte.

Den Autokraten reichte der Rückbau nicht - statt Verkehrswende weg vom Auto soll es noch mehr Parkplätze und Straßen geben - unter anderem eine weitere Ringverbindung im Osten Gießens parallel zur Autobahn. Zudem setzten sich ernsthaft Gießener Parteien für eine Handvoll Parkplätze an der Südanlage direkt neben dem meist halbleeren Parkhaus mit 153 Plätzen ein. Und offenbar hat niemensch deutlich widersprochen und denen gesagt, dass sie einfach nur noch einen Waffel haben mit ihrem Autowahn.


Im März 2024 startete die Stadt und insbesondere der grüne Bürgermeister Alex Wright dann eine absurde Propaganda-Initiative. Er behauptete, dass der Anlagenring weiter intensiv beplant und verändert werden soll. Tatsächlich ging es aber nur um die Kreuzungen - und vor allem sollen die für Autos optimiert und die Zufahrten zu den Parkhäusern verbessert werden. Fahrräder sollen in Zukunft den Anlagenring nur sicherer kreuzen (aber nicht benutzen) können. Das bedeutet, dass die üblichen Wege durch die zentrale Innenstadt führen sollen - und da treffen die Radler*innen dann auf Fußgänger*innenbereiche und den ÖPNV-Knotenpunkt. Konflikte sind vorprogrammiert - aber Hauptsache, den Autos wird nichts weggenommen (sondern für die wird es sogar weiter verbessert).

Aus "Anlagenring bleibt 2024 im Fokus", in: Gießener Allgemeine am 19.3.2024
Profitieren sollen »alle Verkehrsarten«, verspricht Bürgermeister Alexander Wright. ...
Wright dazu: »Wir erkennen an, dass der Anlagenring sowohl als Verteiler vor allem des motorisierten innerstädtischen Verkehrs wie auch für Besucher als Zubringer zu den Parkhäusern und Parkplätzen im Zentrum wichtig ist. Der Verkehr muss weitgehend flüssig und leicht laufen.« ...
In der Südanlage geht es im Abschnitt vom Fina-Parkhaus bis zum Reichensand um die Wiederherstellung von Abbiegemöglichkeiten. ...
Laut Wright liegt der Stadt der Wunsch des Betreibers des Parkhauses Dern-Passage vor, auf der Zufahrtsstraße ein blaues Parkplatz-Symbol aufzubringen. Die Piktogramme sind ein Erbe des Verkehrsversuchs und kommen laut Wright bei Parkhaus-Betreibern und Autofahrern »gut an«.

Anfang und Ende bis 2023: Erste Schritte, genaue Pläne, Umbau und dann ein Desaster

Das Aus der Fahrradstraße mit den verkehrswendefeindlichen Gerichtsurteilen und den Umfallern von SPD-Grünen-Linken hin zu einer echten Pro-Auto-Koalition hat in der der Stadt Gießen noch weitere Abbrüche von Verkehrswendevorhaben nach sich gezogen. Zudem stoppten mehrere andere Orte in der Umgebung, aber auch weiter weg, ihre Bemühungen mit Verweis auf Gießen. Ob das nur eine schlechte Ausrede war oder die Mutation Gießener Grüner zu einer aggressiven Autopartei tatsächlich abschreckte, ließ sich nicht erkennen.
Aus "Tempo-30-Zonen erprobt: Zwei weitere Verkehrsversuche in Gießen beendet", in: Gießener Allgemeine am 5.12.2023
In der Rathenaustraße, die den Campus Philosophikum I und Philosophikum II durchschneidet, sei es laut Stadt das Ziel gewesen, querende Fußgänger zu schützen. Allerdings seien seit der Beendigung der Straßenbaustelle keine nennenswerten Veränderungen der Verkehrsströme festgestellt worden, welche die Tempo-30-Zone rechtfertigen würden.

Die Schriftwechsel zum jämmerlichen Ende der jämmerlich durchgeführten Tempo-30-Verkehrsversuche der Stadt Gießen. Die Unterlagen zeigen, dass bei den Verkehrsversuchen keine Verkehrsuntersuchungen gemacht wurden. Das haben gleich drei Dezernenten verbockt: Neidel, Weigel-Greilich und Wright.

Schmerzliche Blicke zurück
Die coolste Fahrradstraße der Welt (?) ist Geschichte - und auch einige weitere Maßnahmen der Verkehrsberuhigung, die die Stadt gleich mit rückgebaut hat. Statt eines großen Sprungs nach vorn kriecht die Stadt unter grüner Führung in die 50/60er-Jahre zurück, wo das Autos der Maßstab aller Stadtplanung war.
Als längst schon alles rückgebaut war, erschienen einige Rückblicke - oft voller Wehmut.

Aus dem Wochenendkommentar des Gießener Anzeigers am 30.12.2023
Die Verkehrsversuch-Informationskampagne »Herausfinden, was uns verbindet« jedenfalls mutet im Nachhinein geradezu grotesk an, scheint doch der Graben zwischen Autofahrern und Fahrradliebhabern größer denn je. Dass sich daran allzu bald etwas ändert, scheint unwahrscheinlich. Denn weder ist der Rückbau komplett abgeschlossen, noch haben die Verkehrswendeaktivisten ihren Traum von einer Fahrradstraße auf dem Anlagenring abgehakt. Dass der Stadtverordnete Günter Helmchen in der letzten Stadtverordnetenversammlung des Jahres davon erzählte, dass er Fahrradfahrern, die bei Rot über die Ampel brausen und dabei Fußgänger gefährden, am liebsten hinterherfahren und ihnen »die Reifen plattstechen « würde, sorgt sicher auch nicht gerade für ein fröhliches Miteinander.


Gefährlicher Neuvorschlag: Bus-/Fahrradspur jeweils neben Autospur
Nach dem Aus der in allen Voruntersuchungen als sinnvoll(st)e Lösung angesehenen Fahrradstraße auf den inneren Spuren kam wieder die Idee auf, eine kombinierte Rad- und Busspur jeweils rechts neben den Autos einzurichten. Die Vorschläge wirkte eher wie ein Ablenkungsmanöver, hatten doch alle Untersuchungen gezeigt, dass das gar nicht geht. Zudem würden dann ständig Autos illegal auf der Rad- und Busspur fahren, was diese dann blockiert und das Radeln gefährlich macht. Im Bericht "Mehr Radspuren, aber nicht mehr Staus" der FAZ am 20.2.2024 wird dieses Problem noch (neben der Hauptaussage, dass die Begrenzung der Spuren für Autos kaum negative Wirkungen hat) deutlich benannt: "Im Versuch haben die Darmstädter Wissenschaftler festgestellt, dass die neu eingerichteten Radstreifen häufig trotzdem von Autofahrern widerrechtlich genutzt würden. Bei einer Zählung hätten rund 720 von 2500 Autos die Streifen befahren." Das würde auf dem Anlagenring auch passieren, wenn die Stadt die letztens in der Agendagruppe vorgeschlagene und Gerüchten zufolge von der damit ihre völlige Inkompetenz beweisende Stadtführung tatsächlich verfolgte Variante mit beidseitigen Rad-/Busspuren verfolgt. Dabei konnte das dann eintretende Desaster sogar in Gießen direkt beobachtet werden:

Oben zwischen Kennedyplatz und Walltorstraße (Umweltspur links, alle Autos dort sind illegal!)
Unten zwischen Walltorstraße und Landgrafenstraße (Umweltspur rechts, alle Autos sind illegal, Busse stehen im Stau)

Ein trauriges Geschehen in Berlin beleuchtet, wie gefährlich eine Bus-/Fahrradspuren rechts neben dann nur noch jeweils einer Autospur wäre ... da wäre dann ja ständig Stau und der Reiz groß, die Bus-/Radspur illegal zu nutzen (die machten das ja sogar bei völlig abgetrennten Fahrradstraßen). Die einzige sinnvolle Verknüpfung eines Fahrradnetzes ist die Fahrradstraße auf den inneren Spuren. Sie ist ja auch nicht misslungen, sondern getötet worden.

November: Das endgültige Ende
Foto vom Trauermarsch
Trauermarsch für das Ende des Verkehrsversuchs ++ Bericht Gießener Allgemeine ++ Gießener Anzeiger

Die Stadt scheute keine Mühen, es autogerecht zu machen. Innerhalb weniger Monate war alles zurückgebaut - aber nicht auf den alten Stand, sondern nur für Autos. Die (unzureichenden) Sicherungsmaßnahmen für Fahrräder, die vorher existierten, wurden nicht wieder eingerichtet. Damit war die ganze Sache nicht nur politisch, sondern auch praktisch ein Rückschritt. Neben dem Rückbau, begleitet mit peinlichen Werbereden pro Autofahren seitens der Politik, musste die ja noch laufende Einwohner*innenpetition abgearbeitet werden. Die Sache war zwar gegenstandslos geworden, aber formal war halt noch einige vorgeschrieben.

Aus "Verkehrsversuchs in Gießen: Schneller Rückbau kostet 155 000 Euro", in: Wetterauer Zeitung am 9.11.2023
Der Rückbau der Fahrradstraße ist laut Wright technisch aufwendig, weil die Ampeln der Fahrradstraße trotz unveränderter Fahrbeziehungen anders geschaltet sind als für den Autoverkehr. Der beschleunigte Rückbau sei für die Verwaltung ein »Kraftakt«. ...
Den Worten des Bürgermeisters war zu entnehmen, dass die Stadt bzw. das Stadtmarketing zum Weihnachtsgeschäft eine »Kampagne« zum Besuch der Gießener Innenstadt starten werden und dabei mit der besseren Erreichbarkeit der City werben werden. ...
Zudem soll demnächst eine interfraktionelle Arbeitsgruppe erstmals tagen, in der ausgelotet werden soll, was an verkehrspolitischem Konsens bei der Umsetzung der Verkehrswende in Gießen möglich ist.

Schaubild Verkehrsversuch
Links ein Schaubild der Stadt zum Verkehrsversuch. Es passt immer noch, denn mensch muss die grüne (!) Hand nur richtig deuten. Sie nimmt das Fahrrad weg. Rechts das Nachfolge-Logo für den Aufruf der grün-rot-roten Regierung, doch wieder mit dem Auto zu kommen - und unten die endgültige Werbung: Gießen ist eine Autostadt (kein Fake, beides echt von der Stadt!)

Berichte zum Weihnachts-Autofahren: Stadt ++ Gießener Allgemeine ++ Gießener Anzeiger

Der Titel der Presseinfo der Stadt Gießen zur Autofahroffensive zu Weihnachten lautete "Freier Anlagenring". Welch Absurdität: Eine Fläche, auf der Autos herumdüsen, ist also "frei". Na - toller Freiheitsbegriff. Dann sind Autobahnen also die höchste Form der Freiheit?

Online-Kommentar zum Artikel in der Gießener Allgemeine über den "freien" Anlagenring
Es ist ist so fürchterlich, wie hier mit den Begriffen "frei" und "Fahrt" umgegangen wird. Freie Fahrt war auf dem Anlagenring zB für Fahrradfahrende im August und September, jetzt nicht mehr. Aber offen zählen nur Autos als Verkehr. Fuß, Fahrrad und Busse haben es jetzt auf dem Anlagenring viel schwerer. Aber "frei" ist nur das Auto. Und "Fahrt" meint immer auch nur das "Autofahren". Verkehr aber ist alles - und das Auto die Verkehrsform, die es für alle anderen unfrei macht. Die Freiheit des einen endet dort, wo sie die Freiheit des anderen einschränkt. Außer bei Autos.
Wäre nett, wenn die Begriffe präziser benutzt werden. Auf dem Anlagenring ist jetzt nur die Fahrt für die Autos wieder frei. Für den Rest nicht. Er ist also im Allgemeinen und für alle weniger frei denn je.

Am Ende feierte sich die Stadt selbst dafür ab, alles für die Auto zu tun - und die Presse feierte zum Teil mit, in dem sie die Begrifflichkeit übernahm, dass eine Straße, die nur den Autos zur Verfügung steht, "frei" sei. So lautete der irreführender Titel eines Berichts auf FFH am 24.11.2023: "Freie Fahrt in Gießen ab Montag Anlagenring in beiden Richtungen frei". Doch die freie Fahrt ist nur für Autos möglich. Für Fußgänger*innen, Radler*innen, Busse, Rettungswagen usw. ist alles wieder richtig schlecht.

Was beiim Rückbau auch noch auffiel: Die ganzen Durchfahrtsschleusen für Autos über die Fahrradstraße sind jetzt zugestellt. Das ist interessant. Als da eine Fahrradstraße war, bekamen die Autos eine Sondermöglichkeit, die zu überqueren, um zum Ziel an der anderen Seite zu kommen. Wenn jetzt wieder eine Autostraße ist, bekommen Fahrräder diese Möglichkeit nicht. Das ist eine sehr deutliche Ungleichbehandlung.

Oktober: Im Auftrag des Kapitals ... rückwärts in die (Auto-)Zukunft

Den Gipfel erreichte die Verwandlung grüner Politik, als der Bürgermeister anfingt, die Vorteile von Straßen für den Autoverkehr zu loben und sich als echter Pro-Auto-Macher zu inszenieren. Während der Aufbauphase der Fahrradstraße hatte er nie davon gesprochen, welche Vorteile das für Radfahrer*innen bring würde, sondern immer nur betont, dass es für Autos gar nicht so schlimm würde. Dann ließ er die Autostraßen wieder aufbauen - und diesmal redete wieder nur von Autos. Die Radelnden waren für ihn beide Male kein Thema.
Groteskerweise behauptete Bürgermeister Alex Wright, dass ausgerechnet der Abriss der Fahrradstraße „für die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmenden [...] von großem Vorteil“ sei. Kurz davor hatte er noch eine Gefahrenlage auf dem Anlagenring vor Gericht behauptet. Jetzt behauptet er, dass der Rückbau im Sinne der Verkehrssicherheit sei. Ein autofreundlicher Richter (und das scheinen die Verwaltungsrichter*innen ja zu sein) könnte die Pressemitteilung von der ach so sicheren Autostraße gut gebrauchen und bei der nächsten Gelegenheit der Stadt ihm um die Ohren hauen, wenn die doch noch irgendeine Maßnahme für den Radverkehr auf dem Anlagenring mit Sicherheitsgründen anordnen will.
Mit der Ankündigung des schnellen Abrisses nahm er zudem mehrere frühere Zusagen zurückgenommen: Am 30.8.23 sagte er: "Wir werden die Zeit bis zum Rückbau des Verkehrsversuchs im Frühjahr nutzen, um im Dialog mit der Bürgerschaft andere Formen der Sicherheit für Radfahrende auf dem Anlagenring zu diskutieren und zu entwickeln. So wie es war, kann es nicht wieder werden. Es ist unsere Aufgabe, Radfahrenden in der Stadt und somit auch auf dem Anlagenring einen sicheren Weg zu bieten.“ Bisher gibt es keinen Dialog mit der Bürgerschaft und er baut gerade alles so zurück - und zwar sofort. Am 27.11.23 war bereits alles wieder Autostraße. So schnell geht es, wenn es um Autos geht. Der Bürgermeister behauptete, es sei nun alles so wie vorher. Aber das stimmte nicht.

Es gab nie viel für Fahrräder auf dem Anlagenring, aber einen Radstreifen auf der Ostanlage. Der wurde nicht wieder hergerichtet (wäre ja auch nicht viel wert, trotzdem bleibt: Die Aussage des Bürgermeisters war schlicht falsch).

Grüner Bürgermeister mutiert zum Autofetischist
Aus "Rückbau des Verkehrsversuchs" vom 24.10.2023 (Webseite der Stadt Gießen)
Ziel des derzeitigen Vorgehens sei es, noch vor dem beginnenden Weihnachtsgeschäft in der Innenstadt annähernd alle wichtigen vor dem Verkehrsversuch bestehenden alten Verkehrswege auf dem Anlagenring wieder zu öffnen und die eingerichteten Fahrradstraßen auf dem inneren Ring wieder aufzuheben.
"Das schaffen wir in der Schnelligkeit nur, weil wir zum Teil mit Provisorien und gangbaren Interims-Lösungen arbeiten. Diese sind notwendig, weil wir damit den für alle unbefriedigenden und für viele Autofahrenden wohl irritierenden Schwebezustand beseitigen, dass an manchen Stellen des Rings wieder in beiden Richtungen gefahren werden kann und an anderen nicht", kündigte der Bürgermeister an. Für die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmenden sei dies auch von großem Vorteil. So sollen dann auch die Baken, die die Spuren auf dem inneren Ring derzeit trennen, wieder abgebaut werden. "Das schafft mehr Übersichtlichkeit und damit Sicherheit für alle", so Wright.


Dazu: Gießener Allgemeine ++ Oberhessische Zeitung ++ Gießener Anzeiger

Das Gießener Desaster beflügelt auch die Autofans in anderen Städten: Marburg ++ Rottweil ++ Nochmal Marburg
Allerdings wird auf der Seite für Ahrensburg fälschlicherweise sogar das Verkehrschaos, dass durch die Abrissarbeiten (!) an der Fahrradstraße, entstand, dem Verkehrsversuch selbst in die Schuhe geschoben:
In Gießen wurden und werden die Kunden der Innenstadt durch die Verwaltung durch einen “Verkehrsversuch” behindert, mit ihrem Auto in die Innenstadt zu gelangen.
In Grünberg wollte die CDU noch mehr Autos durch ein neues Parkhaus mitten in der Stadt in die Altstadt lenken. Anlass war der Verkehrsversuch (vor dessen Abbruch) und die Hoffnung, Autoabhängige würden dann nach Grünberg statt nach Gießen fahren.

Neben der Hetze gegen die Verkehrswende und den Behauptungen, dass die Fahrradstraße auf dem Anlagenring ohne Beteiligung der Betroffenen abging, gab es auch gegenteilige Stimmen - selbst aus der Geschäftswelt: Der Versuch sei gemeinsam geplant gewesen und hätte die Bedingungen auch für Autofahrende verbessern könnten. Beide Positionen kamen in der FAZ zu Wort:
Aus "Verkehrschaos vertreibt die Kunden", in: FAZ, 12.10.2023
Heinz-Jörg Ebert, der Geschäftsführer des Schuhhauses Darré und Vorsitzender des BID Seltersweg, beziffert die Einbußen seines Hauses auf zwölf Prozent, während der Umsatz in der Branche andernorts um 10 bis 20 Prozent gestiegen sei. „Diejenigen von uns, die sich mit der technischen Planung intensiv auseinandergesetzt hatten, haben diese Phase geschluckt. Denn man hatte mit der Beendigung der Baustellen und dem Start des Verkehrsversuchs die Hoffnung, dass Mitte September der Verkehr wieder rollt. Und zwar besser als vorher.“
Die Simulationen hätten zuversichtlich gestimmt. „Wir hatten bereits fertiggestellte Anzeigenkampagnen in der Schublade. Gemäß dem Motto: Es fließt wieder. Jetzt haben wir die Vollkatastrophe. Die Verunsicherung unseres überlebenswichtigen Umlands zeigt – auch durch die Botschaft der politischen Opposition, die mehr oder weniger signalisierte, Gießen sei nicht mehr erreichbar – nachhaltige Wirkung. Die nicht erledigten rechtlichen Hausaufgaben der grün-rot-roten Stadtregierung sind unfassbar.“


Völlig ohnmächtig konnten die Verkehrswende-Aktiven dem absurden Treiben nur noch zuschauen. Die so erfolgreich gestartete Einwohner*innenpetition wurde von der Politik völlig ignoriert und die Fahrradstraße abgerissen, bevor über die Petition abgestimmt wurde. Der Form halber musste das Verfahren aber dennoch ablaufen, auch wenn es nicht mehr abzustimmen gab.

Auch der Protest wurde verboten - freie Fahrt für Autos wichtiger
Die Stadt verbot ab 2.10.2023 die Nutzung der Autospur auf der Landgrafenstraße für das Protestcamp. Ihr Argument: Die wenigen Autos, die dort langfahren, seien wichtiger als das Grundrecht auf Versammlung. Leichtigkeit und Sicherheit des Verkehrs, wie in den Straßengsetzen als Ziel gesetzt, sei eine Schutznorm für Autos, die über allem stehe (zur Kritik an dieser Denke siehe hier).

Über ein Jahr später, am 11.11.2024, offenbarte sich dann, wie ideologisch die Verbote der Fahrradstraße und der Kritik an ebendiesem Verbot waren, denn der damals entscheidende Richter am VGH, Harald Wack, begründete in einer öffentlichen Rede das Verbot so: "Diesen Politchaoten geht es nicht um den Klimaschutz, sondern um die Zersetzung der gesellschaftlichen Ordnung." ++ Extraseite zu Harald Wack

Aktionen und Entwicklungen Ende September
  • Übergabe der Unterschriften zur Petition "Fahrradstraße retten statt stoppen": Ankündigung

Dann ging es Schlag auf Schlag: Die Fahrradstraße verschwindet - auf Anweisung des Kapitals zudem viel schneller als geplant. Ein Automob erobert die Stadt einschließlich von Gehwegen, Einbahn- und Fahrradstraßen, zieht pöbelnd und prügelnd durch die Stadt auf der Jagd nach Radler*innen. Letztere dürfen "ihren" Ring an einigen Stellen gar nicht mehr befahren, sondern müssen den Anlagenring ganz verlassen.

Aus einer Auskunft des Ordnungsamtes:
Ein gesicherter Wechsel vom Innenring Westanlage (Fahrradstraße) in die Südanlage (Außenring) ist nicht vorgesehen. Radverkehr darf, bis zum vollständigen Rückbau der Fahrradstraße, von der Westanlage kommend nur noch rechts in die Frankfurter Straße abbiegen. Das sollte durch Verkehrszeichen (Z209 "vorgeschriebene Fahrtrichtung rechts") und eine Absperrschranke auf der Geradeausspur mit der Öffnung der Südanlage / Innenring auch deutlich gemacht worden sein. Möchten Sie auf der Südanlage weiterfahren, müssten Sie schon in der Westanlage den Außenring nutzen.

Damit nicht genug: Der Filz aus Justiz und Teilen der Medien betreibt den Sturz der Stadtregierung. Gießen wird zur gelebten Dystopie ...

Nachdem die Stadt verkündete, die tolle Fahrradstraße auf dem Anlagenring wieder abzureißen, starteten Verkehrswendeaktivist*innen einen neuen Bürger*innenantrag (neu "Einwohnerpetition" genannt). Der übersprang schon nach wenigen Stunden das Quorum, einige Tage danach waren es Tausende. Daher muss das Parlament nochmal entscheiden, was am 20.11. geschehen wird (Verkehrsausschuss davor am 7.11.). Allerdings zeigte sich die Stadtverwaltung von einer sehr undemokratischen Seite und riss die Fahrradstraße schon vor der Abstimmung zu großen Teil ab. Der Rest wird illegal von Autos befahren - offiziell geduldet. Welchen Sinn machen dann noch solche Spielchen wie Bürger*innenbeteiligung?
Das war die Einwohner*innenpetition ++ Presseinfo ++ Berichte: Gießener Alllgemeine
HR4 (mit erfundener Behauptung über "abgespeckte Variante") ++ Sonntagmorgenmagazin


Autolobby und Kapital fordern die Rückkehr zur Autostadt
Aus "Siebenstelliger Umsatzverlust", in: Gießener Anzeiger am 25.9.2023
Die Freigabe des Kraftfahrzeugverkehrs auf dem inneren Anlagenring entlang der Südanlage ist ein erster wichtiger Schritt zum Rückbau des Verkehrsversuchs und das deutliche Zeichen: Es tut sich endlich was.

Nach Rückbaubeginn: Attacken auf Radfahrende und Protestcamp - ratlose Politik



Extrem gefährlich: Zwei Autos nebeneinander (beide illegal unterwegs) fahren auf Radfaher*in zu, ohne auszuweichen

Teil wieder für Autos offen - Protestcamp blockiert Zufahrtsstraße

Enthüllungen und Rettungsversuche
Einige Tage Schock mit Statements vieler politischer Kreise und Aktionen auf der Straße (siehe nächster Absatz). Dann kam Aktivist*innen und Initiativen wieder in Gang: Juristischer Rettungsversuch der Fahrradstraße (Aktenzeichen ist 6 L 2144/23.GI beim Verwaltungsgericht Gießen), Aktionen und eine Recherche, wer da eigentlich gehandelt hat.

Die Recherche, wer alles beteiligt war, den Verkehrsversuch zu Fall zu bringen, brachte interessante Ergebnisse:
  • Der Polizeipräsident Bernd Paul höchstpersönlich schickte die Stellungnahme mit den wirren Behauptungen über Gefahren durch Busse. Er ist CDU-Mitglied und hilft beim Wahlkampf von Lucas Schmitz, der die Hetze gegen den Anlagenring zum Hauptthema hat.
  • Vorsitzender Richter in der Kammer beim VGH war und ist Harald Wack. Kurz davor war er noch Präsident des Verwaltungsgerichts Gießen - das riecht allein schon nach Filz. Wack ist zudem FDPler, kandidierte auf deren Liste zur Kommunalwahl 2021 in Weimar (Lahn). Auch die Kläger kommen aus der Justizszene (Richterin am benachbarten Sozialgericht). war das das Ganze ein abgekartetes Spiel, bei dem alles von Beginn an abgesprochen war? Das Wack am Ende entscheiden würde, dürften die Kläger gewusst haben - und die Richter*innen der ersten Instanz auch, die ja kurz zuvor noch Bedienstete von Wack waren.
  • Die Argumentation der Klägerinnen ist so komplett daneben, dass allein die Klage den Verdacht schürt, dass sie nur vorgeschoben ist, um als Anlass genutzt zu werden, dass die Verwaltungsrichter*innen mal ihre persönliche Meinung pro Auto zur Geltung bringen können. Die Kläger*innen behaupten nämlich, wegen dem nun so dichten Verkehr auf der Braugasse (ein Ministräßchen in der innenstadt, in der sich meist gar kein Auto befindet) nicht mehr aus der eigenen Tiefgarage (Braugasse 5) herausfahren zu können. Außerdem gäbe es zuviel Lärm durch die Autos (lustiges Argument von Leuten, die fürs Autofahren eintreten).

  • Veröffentlichung der Rechercheergebnisse unter dem Titel "Parteien-Polizei-Justizfilz stoppt Verkehrswende in Gießen" in der Gießener Zeitung am 7.9.2023 ++ Indymedia ++ das marburger

  • Der Gießener Anzeiger berichtete über die Rechercheergebnisse nicht, sondern veröffentlichte vermeintliche Internas über das Verhältnis der Verkehrswende-Aktivistis zur Stadtverwaltung im Bericht "Scheitern wirft Fragen auf" (7.9.2023) ++ Anfrage der CDU-Stadtverordneten Kathrin Schmidt dazu
  • Bericht "Gießener Verkehrsversuch: Richter dementiert Seilschaften – Krude Verschwörungstheorien", in: Gießener Allgemeine am 9.9.2023

Passend dazu veröffentlichte der Spiegel am 5.9.2023 einen Podcast "Kulturkampf ums Fahrrad – oder doch ums Auto?" darüber, wie Städte streiten über neue Fahrradstraßen und alte Parkplätze. Was passiert, wenn der Platz für die Verkehrswende zu klein wird?


Debatte und Aktionen zum Verbot der Fahrradstraße
Der grüne Bürgermeister (im Alleingang?) verkündete direkt nach dem verheerenden, ideologisch triefenden Urteil des VGH sofort das Ende des Verkehrsversuchs. Verkehrswende-Aktive, einige NGOs usw. dachten aber erstmal darüber nach, wie dieses wichtige Projekt doch noch zu retten sein könnte. Und wieder andere sinnierten über Art und Weise des Rückbaus und der Wiedereröffnung als Autostraße. Ganz zu schweigen von denen, die das Weitervegetieren als autogerechte Stadt abfeierten und den Rücktritt des grünen Bürgermeisters forderten.

Politisch-strategische Überlegungen: Wie weiter nach dem Desasterurteil?
1. Die Gerichtsbeschlüsse zur Rechtswidrigkeit des Verkehrsversuchs basieren auf der politischen Einstellung der Gerichte selbst. In der Klage ist kein Antrag dazu enthalten. Will heißen: In der Justiz sitzt die Privilegien-und-Kapitalinteressen-sichern-Fraktion selbst. Das ist nicht neu. Das ist die Aufgabe der Justiz: Das Gestern in die Zukunft sichern. Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob überhaupt irgendwelche Verkehrswendemaßnahmen im Moment vor den Gerichten Bestand haben können. Den bisherigen Informationen über die Urteile ist zu entnehmen: Nein! Keine einzige Einschränkung des Autoverkehrs wird von Gerichten zugelassen werden. Es wird nur nicht immer geklagt, deshalb gehen kleine Sachen, die Autofahris nicht stören, sondern eher fördern (z.B. Bau gesonderter Radwege).

2. Der Verkehrsversuch als wichtiger Schritt für die Verkehrswende ist von der CDU, FDP und nahestehenden, kapitalnahen Privilegierten zu Fall gebracht worden. Das Versagen der Grünen ist, den Verkehrsversuch zu defensiv verkauft zu haben, in dem sie ihre ganze Öffentlichkeitsarbeit darauf abgestellt haben, dass es für Autos doch gar nicht schlimmer wird (statt die Vorteile einer Verkehrswende in den Vordergrund zu stellen) - und dass sie ihn allzu voreilig komplett abgesagt haben nach dem Gerichtsurteil. Es muss aber klar sein: Die Feinde von Klimaschutz und Verkehrswende saßen diesmal nicht in bei den Grünen (wo sie andernorts oft auch sitzen, z.B. Bundes- und Landesregierung). Es ist also in diesem Fall falsch, vorrangig die Grünen anzugreifen, auch wenn die Enttäuschung über deren geringe Kampfmoral groß ist.

3. Der Verkehrsversuch war außergewöhnlich gut demokratisch legitimiert durch den Bürger*innenantrag und die auf dieses Thema zugespitzte Kommunalwahl. CDU & Co. haben das nicht akzeptiert, sondern mit Lügen (Innenstadt nicht erreichbar, Kosten viel höher) eine populistische Kampagne gestartet (das ist ja schon lange ihre Spezialität - die Vorgehensweise von "Fahrräder raus" war schlicht die gleiche wie "Ausländer raus" unter Roland Koch). Die FDP hat mit ihrem Ausspruch, dass die Stadt Gießen nicht den dort Wohnenden gehört, sogar offen ausgesagt, dass sie sich nicht als demokratische Partei sieht, sondern die Interessen anderer als den Menschen in Gießen höhere Priorität einräumt.

4. Die jetzt plötzlich wieder ins Gespräch gebrachte Variante der Radspuren beidseits des Anlagenrings wurde vor zwei Jahren ausgiebig diskutiert und auch von einem Planungsbüro überprüft. Das einzige Argument waren die geringeren Kosten bei der Einrichtung - und das ist jetzt gegenstandslos, weil das Geld für den Umbau der inneren Spuren ja schon ausgegeben ist. Jetzt ist der Umbau in eine andere Variante teurer!
Die sachlichen Argumente waren unter anderen: Bei Fahrradspuren beidseits außen würden ...
  • Autos beim Einbiegen auf und Abbiegen vom Anlagenring immer die Fahrradspur kreuzen, dabei vor allem mit dem besonders gefährlichen Rechtsabbiegen, wenn Radelnde Gerade-Aus-Grün haben.
  • die Radspuren baulich nicht getrennt, würden Autos permanent in diese Hineinfahren (siehe Schutzstreifen auf anderen Straßen). Würden sie baulich getrennt, entsteht die Frage, wo die Busse fahren sollen: In der Radspur? Aber dann bleiben sie wegen der baulichen Trennung hinter den Radelnden hängen. Oder auf der Autospur? Wie kommen sie dann zu den Bushaltestellen.
  • die Ampelschaltungen viel komplizierter, weil die ganzen Linksabbiegevorgänge auf die inneren Spuren wieder eingerichtet werden müssten, d.h. alle (auch die Autos!) stehen länger an der Ampel.
Zusammengefasst: Diese Idee ist Mist. Sie wurde ausreichend diskutiert. Außerdem würden die Gerichtsbeschlüsse auch gegen diese Variante anwendbar sein. Den Aufriss kann mensch sich also sparen.

5. Ob es juristische Möglichkeiten gibt, den Rückbau zu verhindern, erscheint doppelt fragwürdig. Zum einen sind Gesetze per se dafür da, die Vergangenheit (wo sie ja erlassen wurden) in die Zukunft zu retten. Zum anderen bei bislang allen Gerichtsentscheidungen dieser und anderer Art (z.B. im Zusammenhang mit Versammlungen) eine juristische Interpretation des Begriffs "Verkehr" als "Autoverkehr" zu dominieren, so dass die gesetzliche Vorschrift, dass die "Leichtigkeit und Sicherheit des Verkehrs" zu garantieren ist, einseitig als Pro-Auto-Vorschrift ausgelegt wird. Dennoch kann es sinnvoll sein, nach juristischen Möglichkeiten zu suchen. Schließlich geht es darum, keine Chance auszulassen, den Rückschritt ins auto-ritäre Zeitalter zu verhindern.

6. Aktivistische Möglichkeiten gibt es hingegen immer. Vielfältige, darunter spektakuläre Aktionen mit starken Inhalten erzeugen die meiste Wirkung. Allerdings dürfte es nicht gelingen, allein für die inneren Spuren jetzt eine positive Stimmung zu erzeugen, weil erstens die Klimawandel- und Autoterror-Befürworter*innen dann einfach sagen können, dass es rechtlich nicht mehr zulässig ist. Außerdem ist das jetzt langweilig. Mein Vorschlag daher: Gleich mit einer weitergehenden Forderung einsteigen, z.B. das niederländische Modell von Städten, in denen das Durchfahren komplett unterbunden wird:
  • Autofreie Innenstadt und autofreie Zonen um Kindergärten/Grundschulen
  • Anlagenring komplett für Autos sperren, zudem die Ersatzrouten Ringallee, Ludwigstraße und Aulstraße mittig unterbrechen
  • Sofortiger Start eines starken ÖPNV-Netzes (Regiotram)
Dann müssten Autofahrende vorher überlegen, wohin sie wollen und die passende Zufahrt (zB vom Autobahnring) wählen, um dort auch wieder die Stadt zu verlassen. Durch die Stadt durch zu einem Ziel auf der anderen Seite der Stadt zu fahren, ist mit dem Auto nicht mehr möglich (siehe Abbildung auf projektwerkstatt.de/index.php?domain_id=48&p=14815 unten).

7. Seit Beginn der Kampagne gegen den Anlagenring (vor allem seitens der CDU) sind Verkehrswende-Aktive schlagartig aus den Medien verschwunden und nicht mehr gefragt worden. Die Auseinandersetzung wurde personell als Kampf CDU & Co. gegen die Stadt sowie inhaltlich als "Auto sollen verboten werden" gegen "für Autos wird es nicht viel schlimmer" dargestellt. Das ist ein Grund, warum die populistische Autofangemeinde gewonnen hat. Die fehlende Stimme der großen Vorteile einer Verkehrswende, die auch über den Anlagenring hinausgeht, konnte durch die Raddemos nicht ausreichend ersetzt werden. Ob die Medien nun der Verkehrswendesicht wieder mehr Platz einräumen, ist unklar, kann aber zumindest von Bewegungsseite aktiv angestrebt werden. Sicherer, aber auch kombinierbar wäre die schon benannte Idee, einmalig mit einem eigenen Massenmedium aufzutreten - einer Verkehrswendezeitung, die an alle Haushalte in Stadt und Kreis Gießen verteilt wird.

Die IHK fordert am 5.9.2023 "eine ausgewogene Verkehrspolitik und die Sicherstellung der Mobilität in der Universitätsstadt Gießen". Was meint sie damit? Zitat: "Dabei müssten nicht nur der Radverkehr und der ÖPNV, sondern auch der motorisierte Individualverkehr eine angemessene Rolle spielen." Das klingt so, als wäre das Auto in Gießen weitgehend zurückgedrängt und nur noch auf illegale Nischen in Hinterhöfen beschränkt. Was ist "ausgewogen", wenn schon die erste relevante Fahrradstraße zu viel ist? Und warum springt die IHK nicht offensiver in die Regiotram-Debatte?

30.8.2023: Das jähe Ende - die Autolobby in Robe schlägt zu und verbietet alles
Der Verwaltungsgerichtshof hat die Fahrradstraße mit einem spektakulären Urteil verboten. Spektakulär, weil erstens überhaupt nicht gegen die Fahrradstraße geklagt wurde, aber das Gericht offenbar aus eigenem Hass auf die Verkehrswende handelte, und zweitens, weil das Gericht klipp und klar feststellte, dass dem Autoverkehr nichts weggenommen werden darf außer wenn es zuviele Verkehrstote oder Ähnliches gibt. Stadtgestaltung, Lärmschutz oder Klimaschutz - das alles zähle juristisch nichts. Mit dem hessenweit geltenden Grundsatzbeschluss stellt das Gericht alle bisherigen und zukünftigen Verkehrswendemaßnahmen in Frage und breitet dem "Freie Fahrt für Autofahren überall" eine juristische Basis. Die Stadtverwaltung knickte sofort ein und verkündete das Ende des Projektes - ohne jegliche Rücksprache mit Parlament, Fraktionen usw. Das ist zwar nicht selbst der Grund für das Desaster (dafür sind CDU & Co. verantwortlich), aber auch eine schwache Darbietung.

Aus dem Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes (VGH) vom 29.8.2023 (Az. 2 B 987/23)
Voraussetzung für die Durchführung eines Verkehrsversuchs nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StVO ist also zum einen, dass eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Straßenverkehrs gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO festgestellt ist, dass die Anordnung von Verkehrszeichen und Verkehrsanordnungen gem. § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist und dass der Verkehrsversuch geeignet und erforderlich zur Erreichung des angestrebten Ermittlungsziels ist. ...
Mögen Klimaschutz und das Klimaschutzgesetz im Rahmen der Ermessensausübung von Belang sein, entbinden diese Gesichtspunkte die Straßenverkehrsbehörde aber nicht von der Formulierung eines konkreten Ziels des Verkehrsversuchs im Sinne des § 45 Abs. 1 StVO. ...
Die konkrete streitgegenständliche verkehrsbehördliche Anordnung erweist sich offensichtlich nicht als zwingend erforderlich im Sinne von § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO. ...
Gemessen an der Verkehrsdichte des Radverkehrs, die von der Antragsgegnerin nicht konkret belegt wurde, im Vergleich zum eindeutig dominierenden Kraftfahrzeugverkehr (Verkehrsstärke Kfz: normalwerktäglich ca. 10.000 bis 25.000 pro 24 Stunden, nachmittägliche Spitzenstunden ca. 850 bis 2.200) ist zudem die Angemessenheit der verkehrsregelnden Anordnung nicht gegeben.


Dann folgen eigene verkehrsrechtliche bis verkehrspolitische Überlegungen, die deutlich machen, dass hier Autofans und Fahrradhasser*innen sitzen:
Aus den oben dargelegten Gründen hegt der Senat bereits starke Zweifel an der Geeignetheit der angeordneten Maßnahmen. ...
Insbesondere ist nicht hinreichend dargelegt, dass zur Abwendung einer einfachen Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Straßenverkehrs auf einzelnen Abschnitten des Anlagenrings, die die Antragsgegnerin für Radfahrer als gegeben erachtet, der Verkehr auf dem gesamten Anlagenring neugestaltet werden soll. ...
Leichtigkeit des Kfz-Verkehrs ...
Durch die Häufung von Lichtzeichenanlagen für Radfahrer steht nach der allgemeinen Lebenserfahrung zu befürchten, dass auch Rotlichtverstöße zunehme ...


Am liebsten wäre den Richter*innen vom VGH, wenn die Fußgänger*innen für vermehrtes Radeln Platz machen müssen:
Den Überlegungen der Antragsgegnerin ist nicht zu entnehmen, ob gegebenenfalls eine geringfügige Verlagerung des Marktgeschehens eine weniger einschneidende und zugleich stärker verkehrssichere Alternative für den Radverkehr darstellen könnte. ... Verkehrsführung der Radfahrer durch die Innenstadt

Aus dem Statement von Oberbürgermeister Frank-Thilo Becher
Dass die Spielräume für einen Verkehrsversuch dieser Größenordnung nach der derzeitigen Straßenverkehrsordnung vom VGH derart eng ausgelegt wurden, lässt verkehrspolitische Umsteuerung unter den gegenwärtigen Gesetzen nur in sehr kleinen Schritten zu. Darunter leidet nicht nur die Stadt Gießen, sondern auch die vielen anderen Städte, die den innerstädtischen Verkehr neu regeln wollen und die nun dieses Urteil genau analysieren werden. Größere verkehrspolitische Schritte auf lokaler Ebene werden angesichts unserer weiter wachsenden Stadt und des Klimawandels unabdingbar bleiben. Daher begrüße ich die Anstrengungen auf Bundesebene für eine Reform des Straßenverkehrsrechts, die genau den Zielen Klima- und Umweltschutz, Gesundheit und städtebauliche Entwicklung mehr Spielraum zur Veränderung einräumen wird. Ich bin davon überzeugt, dass wir in zehn Jahren auf eine deutlich veränderte Verkehrsinfrastruktur in unserer Stadt blicken werden, weil ein einfaches Weiter-so nicht dauerhaft tragfähig sein wird.

Zur Stellungnahme der BIDs (Hausbesitzer und Geschäfte der Innenstadt) im Bericht "Desaster: Gießener reagieren auf gescheiterten Verkehrsversuch – Rücktritt von Bürgermeister gefordert", in: Gießener Allgemeine am 31.8.2023
Die Vertreter der BIDs, also der Geschäftsleute der Innenstadt, geben sich »maximal fassungslos« und sprechen von einem »Desaster in tausendfacher Hinsicht«. In dem von Heinz-Jörg Ebert (BID Seltersweg), Verena Waldschmidt (BID Theaterpark), Christiane Menges und Jörg Leibold-Meid (BID Marktquartier), Andreas Walldorf (Katharinenviertel) sowie Robert Balser (Gießen Aktiv) unterschriebenen Statement wird der anstehende Rückbau als das zum jetzigen Zeitpunkt für die Innenstadt »denkbar beschissenste Szenario« bezeichnet. »Nach Monaten der Baustellenbelastungen, die wir in zwei bis drei Wochen als ›erledigt‹ erwartet haben, wird uns nun eine weitere lange Zeit des Rückbaus bevorstehen.«
Für den ohnehin schon seit Jahren gebeutelten Einzelhandel sei das eine Katastrophe. »Das Ergebnis könnte sein, dass wir wieder mit der seit Jahren kritisierten Verkehrssituation leben müssen, die wir vorher schon hatten.«


Aus einem Kommentar in der FAZ am 31.8.2023
In Zeiten des von Menschen gemachten Klimawandels ist immer mehr Autoverkehr kein Zukunftsmodell für eine Innenstadt. Das ist keine ideologische Frage. Den Verkehrsfluss zu gewährleisten, kann sich überdies nicht nur auf Autos beschränken. Gleichwohl war eine grüne Welle geplant. Insofern geht die FDP im Landtag auch mit der reflexhaften Ansicht fehl, der Beschluss aus Kassel zeige autofeindlicher Politik die Grenzen auf.
Es muss in Gießen wie in anderen wachsenden Städten eine Lösung her, wie Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger zu ihrem jeweiligen Recht kommen. Dass der Anlagenring für den Radverkehr eine Gefahr darstellt, ist auch keine neue Erkenntnis. Schon zu Zeiten der beiden CDU-Vorgänger von Verkehrsdezernent Alexander Wright (Die Grünen) war das ein Thema. Die Streitparteien in der Stadtverordnetenversammlung sind mithin gut beraten, einen Konsens zu finden. Etwas muss sich ändern. So, wie es ist, kann es nicht bleiben.


Aus einem Kommentar von Rechtsanwalt Olaf Dilling, auf: recht-energisch.de
Das von der Gemeinde vorgebrachte Argument des Klimaschutzes könne eine straßenverkehrsrechtliche Maßnahme nicht rechtfertigen. Allenfalls bei der Auswahl der Alternativen könnte es als Aspekt mit einfließen. Bis auf Weiteres gilt für Gemeinden also, dass auch Verkehrsversuche sorgfältig anhand der Gefahren für die Sicherheit und Ordnung des Verkehrs begründet werden müssen. Die Entscheidung zeigt auch, dass die aktuelle StVO notwendige Schritte in Richtung Verkehrswende in vielen Fällen weiterhin verhindert. Eine tiefgreifendere Reform wäre insofern nötig.

Aus einem offensichtlich ideologisch orientierten Interview mit einem Rechtsprof der Uni, der allerdings in Sportrecht seinen Schwerpunkt hat (und in Verwaltungs- oder Verkehrsrecht gar nicht), in: Gießener Anzeiger am 13.9.2023
Klimaschutz kann kein Grund für einen Verkehrsversuch sein. ...
Die meisten Unfälle sind gar nicht auf die Verkehrsführung am Anlagenring zurückzuführen, sondern auf Lichtzeichenverstöße der Radfahrer, die gekreuzt haben. ...
"Zehntausende Autos im Straßenverkehr werden behindert, um wenigen Radfahrern vielleicht ein leichteres Fahren am Anlagenring zu ermöglichen.


Aus dem Bericht "Auto als Ausdruck von Freiheit" über eine skurrile Verkehrswendedebatte in einer rechten Burschenschaft, in: Gießener Anzeiger am 19.9.2023
Dr. Matthias Büger (FDP) fand noch klarere Worte. »Der Verkehrsversuch zeigt, wie man es genau nicht macht, nämlich mit dem Kopf durch die Wand.« Die Mobilität und damit das Auto, seien ein »Ausdruck von Freiheit«, die Geschehnisse in Gießen Folge der »Hybris von Menschen in der Innenstadt, die alles zu Fuß erreichen können«, so Büger. Dem hatte Dr. Frank Grobe (AfD) nicht viel hinzuzufügen. »Freie Fahrt für freie Bürger!«, zitierte er den ADAC aus dem Jahr 1974 und verwies darauf, dass die Verkehrspolitik »ideologisch getrieben sei« und den Bürger nicht ernst nehme.

Die CDU ist nicht gegen die Fahrradstraße auf dem Anlagenring, sondern gegen alle Fahrradstraßen. Wenn sie bei einer Fahrradstraße, die zwei Orte verbindet und an der keine Geschäfte liegen, auf den Gießener Anlagenring verweist, dann macht sie selbst klar, dass es ihr gar nicht um Geschäfte, sondern um die Autos geht.

Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs basiert auf einer abenteuerlichen Auslegung des § 45 StVO. Der VGH schreibt:
Gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Gemäß § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StVO haben sie das gleiche Recht zur Erforschung des Unfallgeschehens, des Verkehrsverhaltens, der Verkehrsabläufe sowie zur Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen (sog. „Experimentierklausel“). Erfasst werden sollen mit dieser Vorschrift Fälle, in denen nicht die Frage zweifelhaft ist, ob überhaupt eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Straßenverkehrs vorliegt, sondern solche, in denen noch geklärt werden muss, welche Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahr geeignet und erforderlich sind.
Der Erlass einer verkehrsregelnden Anordnung nach § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO setzt in jedem Fall eine konkrete Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs voraus.

Die Behauptung, dass bei jeder Verkehrsregelung eine Gefahrenlage gegeben sein muss, ist frei erfunden. Die betreffenden Passagen in der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO), § 45 Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen lauten:
Die Straßenverkehrsbehörden können die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Das gleiche Recht haben sie ...
3. zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen, ...
6. zur Erforschung des Unfallgeschehens, des Verkehrsverhaltens, der Verkehrsabläufe sowie zur Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen.
Aus diesem Satz leitet der VGH ab, dass auch die Erforschung von Verkehrsabläufen nur aus Gründen der Sicherheit erfolgen darf. Diese juristische Auffassung werde allgemein von Gerichten geteilt. Sie ist aber von der Satzlogik her offensichtlicher Unsinn. Denn der Gesetzestext ist völlig eindeutig und eben anders: Die Behörden können den Verkehr beschränken, um Gefahren abzuwenden. Und sie können das auch für sechs weitere Ziele, darunter die "Erprobung geplanter ... verkehrsregelnder Maßnahmen". Was anderes als das Letztere war die Fahrradstraße auf dem Anlagenring in Gießen? Doch die wurde von Gerichten als rechtswidrig bezeichnet, weil die Gefahren nicht ausreichend benannt wurden. Schließlich würde der erste Satz auch für den zweiten gelten. Das ist semantisch offensichtlich Unsinn. "Das gleiche Recht haben sie ..." heißt, dass unabhängig von Gefahren die folgenden sechs Punkte zu Verkehrsbeschränkungen führen können. Dazu gehören zB Arbeiten im Straßenraum. Die werden ja auch nicht nur dann durchgeführt, wenn vorher eine umfangreiche Gefahrenanalyse erfolgt ist.

Noch deutlicher wird das durch den Absatz 9 des gleichen Paragraphen, in dem sich die Gesetzeslogik wiederholt. Es ist also keine einmalige und daher vielleicht uminterpretierbare Formulierung, dass Verkehrslenkung zur Gefahrenabwehr, aber auch (und unabhängig davon) für definierte weitere Ziele möglich ist. Der Text lautet:
Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen sind nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist. Dabei dürfen Gefahrzeichen nur dort angeordnet werden, wo es für die Sicherheit des Verkehrs erforderlich ist, weil auch ein aufmerksamer Verkehrsteilnehmer die Gefahr nicht oder nicht rechtzeitig erkennen kann und auch nicht mit ihr rechnen muss. Insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs dürfen nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. Satz 3 gilt nicht für die Anordnung von
1. Schutzstreifen für den Radverkehr (Zeichen 340),
2. Fahrradstraßen (Zeichen 244.1), ...
7. Erprobungsmaßnahmen nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 zweiter Halbsatz,
8. Fahrradzonen nach Absatz 1i.
Auf dem Anlagenring entstand eine Fahrradstraße (also genau, wie Punkt 2 sagt). Außerdem war Punkt 7 erfüllt, denn Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 nennt genau "Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen".
Der VGH bezieht sich auch auf den Absatz 9, meint aber erneut, dass die Gefährlichkeit in allen Fällen nachgewiesen werden muss. Im Gesetzestext steht aber genau das Gegenteil: Satz 3 regelt, dass verkehrsregelnde Schilder nur bei Gefahren aufgestellt werden dürfen. Und dann kommt die klare Formulierung: "Satz 3 gilt nicht"! Das "nicht" macht völlig klar, dass zB Fahrradstraßen und Verkehrsversuche (das, was unter 7. steht) auch ohne Gefahrenlage möglich sind. Das Gericht aber behauptet genau das Gegenteil.
Warum haben die Gerichte den Verkehrsversuch den Gesetzesinhalt falsch wiedergegeben und die Einrichtung der Fahrradstraße für ungültig erklärt? Weil sie es politisch wollten! Die Richter*innen waren durch Betroffenheit, als Teil einer entsprechenden Seilschaft in Landesregierungsteilen, Parteien, Gerichten und Polizei und/oder als aktive FDP-Politiker befangen - nämlich pro Auto eingestellt. Sie wollten Verkehrswendeaktivitäten verhindern und suchten dafür eine rechtliche Variante. Da sie keine fanden, logen sie sich den § 45 Abs. 1 und Abs. 9 zurecht. Die Stadt Gießen mit ihrer tolpatschigen und schisserigen Führung hat sich dagegen nicht wirklich gewehrt - und den Kopf schnell in das Auspuffrohr gesteckt.
Leider steht der VGH mit seiner Ansicht nicht allein. Die Gerichte haben in den vergangenen Jahrzehnten viele Rechtstexte, die sich allgemein auf das Verkehrsgeschehen beziehen, zu Schutzparagraphen fürs Autosfahren gegenüber staatlicher Regelung ausgelegt - Gerichte mal wieder als Legislative. Sie überwachen nicht die Einhaltung der Gesetze, sondern passen die Gesetze durch Auslegung an die gewünschte Ideologie an.

Ende August: Teil 3 fertig - langsam wird es richtig nett!
Beeindruckend schnell und meist ohne große Störungen ging der Umbau der Westanlage vonstatten. Am 21. August wurde dann dieser dritte Abschnitt freigegeben und der Umbau des letzten Viertels begann. Damit war für die Autos schon der Endzustand hergestellt: Es geht nur noch außen gegen den Uhrzeiger als Einbahnstraße. Die Radler*innen müssen noch einen Monat warten, bis alles fertig ist.

Anfang August: Teil 2 fertig - und immer die gleichen Debatten: Es geht nur ums Auto
Während des dritten Bauabschnitt kam es zu Staus und gefährlichen Situationen, aber vor allem durch Autofahris mit seltsamen und gefährlichen Verhaltensweisen
Aus "Aufbau Verkehrsversuch: Vorbereitung für dritte Phase entpuppt sich als Staufalle in Gießen", in: Gießener Allgemeine am 2.8.2023
Im Berufsverkehr am Spätnachmittag kam es dann zu der Situation, dass Autofahrer, die zum Beispiel aus dem Klinikum oder anderen Bereichen des Südviertels kamen, nicht zum Elefantenklo und nach rechts in die Südanlage fuhren, sondern der Umleitungsstrecke in der Hoffnung folgten, von dort irgendwie doch zur Westanlage und weiter in den Westen oder Norden Gießens zu gelangen. Doch das vermeintliche Schlupfloch entpuppte sich als Staufalle. »Ich bin den anderen Autos einfach nachgefahren«, erzählte eine Wettenbergerin, die aus dem Klinikum kam, über Heuchelheim nach Hause fahren wollte und nun in der Bahnhofstraße feststeckte. ...
Ein GAZ-Redakteur, der um die besagte Uhrzeit die zwei freigegebenen Abschnitte der Fahrradstraße in der Nord- und Ostanlage abfuhr, zählte sieben Autos, die dort verbotswidrig unterwegs waren. Das Verkehrsaufkommen von Kfz und Rad hielt sich in etwa die Waage. Zwei Pkw-Lenker, die auf der Fahrradstraße nebeneinander die Ostanlage in Richtung Berliner Platz fuhren, waren sichtlich irritiert. Einer hielt den Radfahrer, der ihm entgegenkam, wohl für einen Geisterfahrer und gestikulierte hinter dem Steuer.


Letzteres berichteten auch andere Radler*innen
Das mit dem Autofahrer hatte ich gestern auch genau so. Der ist mit 50 km/h über die Fahradstraße, hat auf der einen Seite Radfahrer überholt und voll auf mich drauf gehalten.

Zitate von Autofahrenden laut Bericht "Fragen, Wut und große Pläne", in: Gießener Anzeiger am 8.8.2023
"Gewerbetreibende mit Außendienst müssen schnell und unkompliziert in ALLE Richtungen fahren können" ... Eine mögliche Lösung könnte in seinen Augen eine Sondergenehmigung sein, mit der Gewerbetreibende mit dem Pkw über den Marktplatz fahren könnten. ... "Jeder vernünftige Stadtplaner versucht die Autos möglichst schnell rein und wieder raus zu bekommen, Gießen nicht" ... Genervte Autofahrer würden versuchen, "durch die Wohnviertel dem Wahnsinn zu entkommen". Ein anderer Nutzer spricht von einer Gängelung der Bürger und zieht gar den Vergleich zum Unrechtsstaat DDR. Er sei gehbehindert und müsse Umwege in Kauf nehmen, die "unglaublich" seien.


Völlig absurd sind teilweise die Aussagen von Autofahrenden über ihre durch den Umbau nötigen Umwege. Die Länge wird meist stark übertrieben, vor allem aber sind die Abstände zwischen Start und Ziel oft sehr kurz - also genau die Wege, die durch die Umgestaltung nicht mehr mit dem Auto zurückgelegt werden sollen.

Aus dem Gießener Anzeiger am 10.8.2023
Zum Verkehrsversuch äußerte sich auch der »Nordstädter«: Einen großen Umweg müsse er nun machen, um zum Wertstoffhof in die Lahnstraße zu gelangen. 30 Kilometer für hin und zurück gibt er als Wegstrecke an.

Juli: Teil 1 fertig, aber Eskalation - die Pro-Auto-Lobby im Kampf um ihre Privilegien


Die CDU zettelte eine Kampagne an auf dem unserösen ChangeOrt-Portal, forderte einen Abbruch der Bauarbeiten und ein Existenzrecht der autogerechten Stadt. Sie argumentierte mit quellenlosen Vermutungen über hohe Kosten, aber sogar auch mit Lügen, die Panik schüren sollten. Den Höhepunkt setzte aber das aus den Kämpfen um den Dannenröder Wald schon als pro Auto bekannte Verwaltungsgericht Gießen und erklärte den Verkehrsversuch für illegal. Es müssten erst mehr Radler*innen dort sterben, bevor so etwas erlaubt sei ...

Noch einen Tag später fordert die CDU, die Umbauarbeiten zu stoppen. Das Absurde daran: Dann würden die aktuellen Probleme, die ja durch die Baustellen bewirkt werden, auf länger so bleiben. Der CDU geht es also ersichtlich nicht um besseres Fahren, sondern um das Abwürgen von Verkehrswende und Klimaschutz. ++ Gießener Anzeiger ++ Gießener Allgemeine
Das führt zu einer intensiven Debatte im Stadtparlament - und wird am Ende mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. ++ Bericht Gießener Allgemeine am 14.7.2023

Berichte der darauffolgenden Aktionen für den Verkehrsversuch

Die Debatte ebbte auch in den Folgetagen nicht ab. Die Kritik erreichte dabei oft beachtliche Höhen der Absurdität, wenn zum Beispiel behauptet wurde, es würde nicht mehr an Autos gedacht (über 99 Prozent der Fläche für rollenden oder parkenden Verkehr ist weiterhin für Autos da), Menschen müssten ihren 300m langen Weg zur Arbeit jetzt mit dem Auto deutlich verlängern (warum gehen die eigentlich nicht zu Fuß oder radeln?) usw.

Juni: Der Umbau beginnt


April/Mai 2023: Vorstellung der Pläne und der stufenweisen Umsetzung

Start im Oktober 2022 in der Neuen Bäue
Es geht los mit der Umwandlung der Innenstadt in Fahrradstraßen/-zonen: Berichte in Gießener Allgemeine und Gießener Anzeiger zu Veränderungen in und um die Neuen Bäue.


Der Anlagenring allein reicht nicht!
Der Umbau des inneren Anlagenrings sowie die Fahrradachsen in der Innenstadt sind ein guter Anfang. Sie entfalten ihre volle Wirkung aber erst, wenn ...

Rückblick: Der lange Weg zu den Fahrradstraßen

Ende 2018 legten Verkehrswende-Aktive ihren Plan für eine Umgestaltung der Stadt vor. Darin befanden sich die Vorschläge für Fahrradstraßen, unter anderem auf dem inneren Anlagenring. Viele Aktionen, Veranstaltungen, Appelle usw. folgten. Die spitzten sich zu, als 2020 Unterschriften gesammelt wurden für einen Bürger*innenantrag, durch den aus den Aktionsserien ein formaler Beschluss wurde.

Die Stadt Gießen beschloss am 4.3.2021 auf Antrag aus den Verkehrswende-Initiativen und mit über 1000 Unterstützungsunterschriften, auf dem Anlagenring zwei Spuren für Fahrradstraßen einzurichten. Zunächst ging der K(r)ampf um diese Veränderung aber weiter - die Autolobby bediente sich dabei der typischen unlauteren Mittel, die zur Verfügung stehen: Angst vor der Verödung der Innenstadt, Sabotage der Planungen, formale Gegeninitiativen und Verschleppung in der Bürokratie.

Aus "Warum die Verkehrswende scheitert", in: FAZ am 24.10.2021
Ein Dilemma muss die Verkehrsplanung allerdings überwinden. „Die Angst vor dem Verlust ist viel größer als die Freude über einen Gewinn“, sagt Jens Schade, das habe die Prospect-Theorie klar gezeigt. Nimmt man Autofahrern also eine Spur weg, droht Widerstand. Studien zeigen aber auch: Am größten ist dieser Widerstand kurz vor der Änderung, anschließend steigt die Akzeptanz. Verkehrsplaner brauchen also ein dickes Fell und einen langen Atem. Bloße Wissensvermittlung sei jedenfalls nicht ausreichend, um eine Wende einzuleiten, sagt der Verkehrspsychologe – und rät davon ab, zu zimperlich vorzugehen. „Man braucht harsche Methoden, um die Gewohnheiten zu durchbrechen“, sagt er.

Ein Streitpunkt war lange, wo die Fahrradstraßen geführt werden sollen. Sinnvoll war ausschließlich der Vorschlag der Verkehrswende-Initiativen, wie er schon im Bürger*innenantrag formuliert wurde.

Präsentationsveranstaltung um 19 Uhr bei der Agenda-AG "Nachhaltige Mobilität"
Argumentationspapier "Warum die Fahrradstraße auf die inneren Spuren gehört"

Laut Stadtverordnetenbeschluss vom 4.3.2021 hätte dieser Vorschlag auch untersucht werden müssen. Nach einigem Streit geschah das auch - durch ein externes Planungsbüro. Und das kam zu dem Ergebnis: Der Vorschlag der Verkehrswende-Inis ist tatsächlich der beste.


Folien der Präsentation Nr. 1, 12 und 62


Berichte: Gießener Allgemeine ++ Gießener Anzeiger ++ HR4 ++ FFH

Drei Tage vorher erlebte der Anlagenring den bisher größten Verkehrswende-Aktionstag, wo per Versammlungsrecht genau diese Variante schon mal für einige Stunden hergestellt wurde.
Am 3.6.2022 wurden die Umbaupläne des Anlagenrings dann in einer öffentlichen Online-Veranstaltung präsentiert (Berichte: Gießener Anzeiger am 6.6.2022 ++ Gießener Allgemeine)

Damit war nun endlich Klarheit geschaffen, wie die Fahrradstraßen aussehen sollten. Aus den Verkehrswende-Initiativen wurden mehrere Ergänzungs- und Detailvorschläge benannt. Unter anderem:
  • Mitentscheidend für den Erfolg wird sein, wie gut Menschen aus den verschiedenen Richtungen zum Anlagenring hinkommen. Daher sollte der Verkehrsversuch gleich mit zuführenden Radachsen starten. Wir haben dazu bereits Vorschläge vorgelegt - im Verkehrswendeplan insgesamt und auch speziell eine Liste, die unter anderem Rodheimer Straße/Schützenstraße, Asterweg, Roonstraße/Eichgärtenallee/Fröbelstraße, Goethestraße/Altenfeldsweg und Bahnhofstraße/Bahnhof/Alter Wetzlarer Weg enthielt.
  • Ebenso wichtig, dass die Zahl der Ampeln reduziert wird, die den Radverkehrsfluss unterbrechen. Die vielen Parkhäuser auf der Innenseite des Rings sind schon recht ärgerlich. Einige Straße, die von innen auf den Anlagenring treffen, scheinen uns überflüssig, d.h. die könnten zu Sackgassen werden und würden dann nicht zu Unterbrechungen des Radverkehrs führen - je mehr davon, desto besser. Beispiele wären Asterweg, Wetzsteinstraße, Schanzenstraße, Landgrafenstraße.
  • Ampeln, wo die Autostraßen nur von außen kommen, sollten im Fahrradstraßenverlauf (also auf den inneren Spuren) ohnehin weg, z.B. E-Klo/Selterstor und Heuchelheimer Straße.
  • An mehreren Stellen sind Spuren vorhanden oder können eingerichtet werden, wo die Busse separat fahren, also auf einer eigenen, z.B. von der Haltestelle Johanneskirche bis Bleichstraße und dann an Ampel durch passende Schaltung vorziehen vor die Fahrräder (das scheint von Ihnen auch schon berücksichtigt worden zu sein, wenn ich das richtig mitbekommen habe).
  • Zufahrten zu den Parkhäusern sollten auf jeden Fall auf dem äußeren Ring, also bei den Autospuren eingerichtet werden. Genug Spielraum ist auch für kurze Strecken im Gegenverkehr da, da außen jeweils 3 oder 4 Spuren für das zu überbrückende Stück zur Verfügung ständen und das Abbiegen in die Innenstadt ja ohnehin deutlich reduziert werden soll, die Abbiegespur nach innen also eigentlich nicht mehr nötig wäre. Das Problem wäre nicht mal so sehr der Platzverlust für die Fahrradstraßen, sondern vor allem die Gefahr, dass Autos, wenn sie erstmal auf den inneren Spuren sind, einfach dort weiterfahren. Es müsste dann ja jeweils nach der Parkhauszufahrt eine Sperre für Autos hin, was wieder für Rettungswege schwierig wäre. Für Rettungsfahrzeuge wird die Fahrradstraße ja eine große Erleichterung sein, weil dort nie Staus existieren - auch keine unflexiblen Warteschlangen vor Ampeln.

Der allem zugrundeliegende Beschluss vom 4.3.2021 hatte noch mehrere Varianten benannt:

Aus dem Stadtverordnetenprotokoll vom 4.3.2021 (S. 26 zu TOP 8)
Die Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen stellen den nachstehenden ersetzenden Änderungsantrag:
„1. Die Stadtverordnetenversammlung begrüßt das Ansinnen des Bürgerantrags, mehr Platz für den Radverkehr in unserer Stadt zu schaffen.
2. Die Stadtverordnetenversammlung stellt fest, dass die Verkehrswende für das Ziel, bis 2035 klimaneutral zu sein, eminent wichtig ist und nur gelingen kann, wenn neben dem Radverkehr der ÖPNV und der Fußgänger*innenverkehr gefördert werden.
3. Die Stadtverordnetenversammlung fordert den Magistrat auf
  • innerhalb von 6 Monaten einen mindestens einjährigen, fachlich begleiteten Verkehrs-versuch zu realisieren, der am Anlagenring in jeder Richtung eine (mindestens drei Meter breite) Spur ausschließlich für den Fahrradverkehr freigibt. Dabei ist gleichzeitig der Linienbusverkehrs adäquat einzuplanen.
  • umgehend ein den Versuch begleitendes Gutachten in Auftrag zu geben, welches untersuchen soll, wie die Hälfte des Anlagenrings für Radfahrer*innen zur Verfügung gestellt werden kann.
    In dem Gutachten sollen alle im Raum stehende Varianten (Zwei-Richtungs-Fahrrad-straßen auf den inneren Fahrspuren des Anlagenrings mit und ohne Einbahnstraßen-regelung für den Autoverkehr, eine durchgehende, baulich getrennte Fahrradspur auf jeder Seite des Anlagenrings, etc.) untersucht und bewertet werden. Zudem soll das Gutachten eine Empfehlung für eine Variante geben. Das Gutachten hat auch den Vorrang des Linienbusverkehrs (ÖPNV) zu berücksichtigen bzw. mit einzuplanen.
    Das Gutachten ist der Stadtverordnetenversammlung zeitnah, vor dem Ende des Verkehrsversuchs vorzulegen, damit sie entscheiden kann, welche Variante geplant und umgesetzt werden soll.
  • die zwei Innenstadtachsen Neuen Bäue – Neustadt und Bahnhofstraße – Walltorstraße sind innerhalb von drei Monaten im Rahmen eines einjährigen Verkehrsversuches als Fahrradstraße einzurichten. Der Parksuchverkehr ist in diesem Bereich durch geeignete Maßnahmen zu reduzieren.
  • alle zwei Monate über die in der Zwischenzeit entwickelten und umgesetzten Maß-nahmen des Antrags sowie noch erforderliche Maßnahmen öffentlich im Rahmen des Bau- und Verkehrsausschusses zu informieren. Das Ergebnis der Verkehrsversuche und des Gutachtens sind in einer Bürgerinformations- und -diskussionsveranstaltung vorzustellen und zu diskutieren.

  • Der ersetzende Änderungsantrag wird mehrheitlich beschlossen (Ja: 30; Nein 28 Stimmen).

    Umgesetzt wurde innerhalb der festgelegten Zeitspannen gar nichts. Zudem hat die Stadtverwaltung nur eine ganz andere Varianten zu untersuchen begonnen und dann im September 2021 vorgeschlagen. Die im Bürger*innenantrag enthaltene und laut Beschluss zumindest auch zu untersuchende Variante wurde nicht beachtet. Die untersuchte aber wäre für den Radverkehr fatal - einerseits gefährlich, andererseits teilweise gar nicht machbar, und vor allem sehr teuer. Mit der nochmaligen Präsentation des Vorschlags aus dem Bürger*innenantrag und den darüber hinausgehenden Überlegungen für eine optimale Führung des Auto- und Busverkehrs soll für den Start einer echten Verkehrswende hin zu einem klimaneutralen und lebenswerten Gießen mit einer attraktiven Innenstadt geworben werden. Die Fahrradstraßen auf den inneren Spuren des Anlagenrings sind längst nicht alles, was nötig ist, aber jetzt das Symbol dafür, ob die politischen Versprechungen heiße (CO2-)Luft oder ernst gemeint sind. Wird diese erste Veränderung verpatzt, gäbe es keinen Grund zur Hoffnung mehr, dass sich außer Kleinklein etwas verändern wird.


    Drei verschiedene Varianten - Vor- und Nachteile
    Es sind mehrere Ideen und Vorschläge in der Debatte. Aus den Verkehrswende-Initiativen stammt der Vorschlag, die inneren, also direkt an die Innenstadt angrenzenden, bisherigen Autospuren zu Fahrradstraßen umzuwidmen, die dann in beide Richtungen genutzt werden können – hier gezeigt am Beispiel der Ostanlage mit Abzweig „Am alten Gaswerk“, also nahe dem Berliner Platz.

    Andere Vorschläge sehen die Fahrradstraßen jeweils auf der rechten Seite der jetzigen Fahrspuren vor.

    Unterschiedliche Konzepte gibt es zudem, wie dann Autos und Busse geführt werden sollen – in beide Richtungen, Busse extra oder auf den Fahrradspuren usw. Erhebliche Unterschiede ergeben sich vor allem bei der Anzahl der nötigen Kreuzungen von Auto-, Bus- und Fahrradverkehr. Das hat massive Folgen für Fahrzeiten und Sicherheit, wie am Beispiel der Einmündung der Straße „Am Alten Gaswerk“ gezeigt wird:

    Wenn die Fahrradstraßen jeweils auf der rechten Fahrspur liegen, müssen einbiegende Fahrzeuge die Fahrradstraße überqueren – und zwar beim Rechtsabbiegen sowie noch komplizierter beim Linksabbiegen. Es kommt aber noch dicker. Auch wenn Autos den Anlagenring verlassen, kreuzen sie die Fahrradstraße. Einmal beim Verlassen der Hauptstraße nach rechts, der größten Gefahr für Radfahrer*innen überhaupt, aber auch beim Linksabbiegen. An jeder kleinen Einmündung entstehen gefährliche und unübersichtliche Situationen – auf Dauer.

    Liegen die Fahrradstraßen beide auf den inneren Spuren des Anlagenrings, fallen alle diese Kreuzungen weg. Die Autos biegen ohne Kontakt zu den Radspuren auf die Autospuren ein und verlassen diese ebenso. Damit ist schon mal viel gewonnen.

    Aber es geht noch besser. Wenn nur noch gegen den Uhrzeigersinn gefahren wird, fahren Autos und Busse nur noch nach rechts auf den Anlagenring auf und auch nur noch nach rechts weg. Schauen wir uns das an unserem Beispiel, der Einmündung „Am Alten Gaswerk“ an. Die schlechteste Lösung mit vielen Überkreuzungen war die Variante mit den Fahrradspuren jeweils rechts. Deutlich besser, wenn die Fahrradspuren beide innen liegen. Noch besser aber, wenn der Autoverkehr als Einbahnstraße geführt wird. Jetzt gibt es auch keine Kreuzungen zwischen Autos mehr. Die Autos verlassen den Anlagenring nach rechts und fahren so auch auf ihn auf. Besondere Regelungen wie Ampeln sind hier als auch an vielen anderen Stellen nicht mehr nötig. Da die Innenstadt autofrei oder zumindest autoärmer werden soll, werden Abbiegevorgänge von Autos vor allem von und nach außen verlaufen – also so, wie am Beispiel gezeigt.

    Das ist dann sehr übersichtlich, so dass eine Einbahnstraße viele Vorteile bringt, die den Verkehr flüssiger und damit schneller machen – ganz ohne Geschwindigkeitserhöhung.
    Denn:
    • Auch für Autos und Busse können nun all die Ampeln wegfallen, bei denen von außen auf den Anlagenring aufgefahren wird – also z.B. Asterweg, Moltkestraße, Bleichstraße, Heuchelheimer Straße usw.
    • An diesen, dann ampelfreien Kreuzungen können stattdessen Einfädelspuren für Autos auf der Busspur das Einreihen in den fließenden Verkehr vereinfachen. Entsprechende Schilder werben vor den Kreuzungen für das Reißverschlussverfahren.
    • Nehmen wir als Beispiel die Moltkestraße. Die zum Anlagenring fahrenden Autos nähern sich der Kreuzung. Die Ampel ist weg. Auf dem inneren Anlagenring – nur noch Fahrräder. Auf dem Äußeren links die Autos, rechts die Busspur – und ein Stück die Einfädelspur. Das Auto näher sich der Kreuzung, schaut, ob ein Bus kommt und fährt im Normalfall ohne Halt in die Einfädelspur und von dort dann auf die Autospur. Fertig.
    • Das geht an sehr vielen Einmündungen so. Hier von der Roonstraße kommend: Auf Busse achten, auf die Einfädelspur und ohne Halt auf die Autospur.

      Das gleiche Spiel an der Bleichstraße und an sehr vielen der Kreuzungen, wo Autos von außen auf den Anlagenring auffahren.
    • So entsteht ein kontinuierlicher Verkehrsfluss. Einige Fahrstrecken sind zwar nun länger, gleichzeitig fällt aber das Warten an Ampeln beim Einbiegen auf den Anlagenring, beim Abfahren und unterwegs zu großen Teilen weg. Im Durchschnitt wird sich das Reisetempo dadurch sogar erhöhen – und das alles bei einer beeindruckenden Steigerung der Aufenthaltsqualität und Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer*innen.
    Es bleiben nur wenige Ampeln übrig. Das sind zum einen die, die für das Hineinfahren in die Innenstadt nötig sind – also für Rettungsdienste, Anlieferungen und Anwohner*innen, soweit sie weiter auf den teuren Besitz eines Autos bestehen. Diese Einfahrten erfolgen nur noch über den Berliner Platz und Oswaldgarten, so dass hier Ampelanlagen für die gesamte Kreuzung, also auch die Fahrradstraße, erhalten bleiben müssen. Allerdings können die Rotphasen für die Fahrradstraßen deutlich kürzer ausfallen und seltener sein, wenn der Verkehr in die Innenstadt abnimmt. Weiterhin braucht es leider Ampeln für das Erreichen von Parkhäusern am inneren Rand des Anlagenrings. Diese städtebauliche Fehlplanung muss mittelfristig korrigiert werden, um die Kreuzung von Autos über die Fahrradstraße zu reduzieren. Hierzu gehört die Zufahrt zum Reichensand, die ohnehin auch langfristig eine Ampel zur Querung der Fahrradstraße benötigt, um die Durchfahrt von Bussen in die Innenstadt ode Richtung Selterstor und Bahnhof zu ermöglichen.

    Das war der Antrag: Wir fordern:
    Verbindliche Schritte hin zu einer fahrradfreundlichen Innenstadt
    Durchgängige Fahrradstraßen und Achsen in verschiedene Richtungen: Mit unserem Antrag fordern wir die Stadt Gießen auf, endlich ernsthafte Schritte hin zu einer fahrradfreundlichen Innenstadt zu gehen. Der Antrag stützt sich auf die Gießener Bürgerbeteiligungssatzung, die es Gießener*innen ermöglicht, sich mit ihrem Anliegen in Form eines Antrags direkt an die Stadt Gießen zu wenden.

    Der Anlagenring eignet sich besonders gut für Fahrradstraßen, da er einmal um die ganze Innenstadt führt. So lassen sich alle Seiten der Innenstadt miteinander verbinden, ohne die Straße wechseln zu müssen. Da schon heute das Verkehrsaufkommen innerhalb des Anlagenrings reduziert ist (z.B. durch die Fußgänger*innen-Zone), können außerdem Konflikte an großen Kreuzungen vermieden werden. Neben der Umwandlung des Anlagenrings, fordern wir zwei Fahrradstraßen-Achsen durch die Innenstadt. Die Strecken sind schon heute viel befahrene Verbindungswege mit dem Fahrrad und bieten eine schnelle und unkomplizierte Möglichkeit die Innenstadt zu durchqueren oder in ihr Zentrum zu gelangen.

    Als konkrete Schritte fordern wir in dem Antrag:
    • Zwei-Richtungs-Fahrradstraßen auf den beiden inneren Fahrspuren des Anlagenrings (siehe Karte unten) ohne Freigabe für private KFZ
    • Fahrradstraßen auf den Innenstadtachsen (Vorschlag: Neuen Bäue - Neustadt & Bahnhofstr. – Walltorstr.) sowie Einbahnsstraßen-Regelung auf diesen Straßen nach dem Vorbild der Neustadt
    • Sichere Querungen für Radfahrende und Fußgänger*innen, um auf den Ring und in die Innenstadt zu kommen
    • Vorrang für den Radverkehr an den Kreuzungspunkten zwischen Fahrradstraßen und Autostraßen
    • Anbindung an weitere Fahrradstraßen sowie deren Errichtung im gesamten Stadtgebiet. Besonders zu berücksichtigen sind dabei die Verbindungen zwischen Uni-Standorten und Schulen, sowie weitere stark frequentierte Achsen
    • Punkt 1 ist spätestens 6 Monate und Punkt 2 spätestens 3 Monate nach Beschluss des Antrags umzusetzen. Die Stadt stellt alle erforderlichen Mittel (finanziell, organisatorisch, planerisch) bereit bzw. entwickelt diese. Dabei wird alle zwei Monate öffentlich über entwickelte, sowie noch offene Maßnahmen informiert.

    Der Verlauf der Fahrradstraßen ist im folgendem Bild dargestellt:


    Ausschnitte aus der Bürger*innenversammlung am 12.2.2021
    16.2.2021: Ausschuss votiert für Fahrradspuren ++ Berichte: Gießener Allgemeine und Anzeiger

    So stand der Bürger*innenantrag auf der Internetseite der Stadt Gießen

    Der weitere Umgang nach dem Beschluss
    Schnell stellte sich heraus, dass alles nicht so laufen würde wie beschlossen. Aus den Verkehrswende-InitiativeN kam daraufhin das Signal: Verschiebung auf Frühjahr 2022 ja, wenn dann auch Fahrradstraßen in die Ortsteile gleich mit verwirklicht werden.

    Im Januar 2022 setzen Verkehrswende-Initiativen dann ein Ultimatum bis zum 14.5.2022 (Beginn des Stadtradelns). ++ Berichte in Gießener Allgemeine ++ Gießener Anzeiger
    Filmbericht von der Aktion für eine autofreie Innenstadt, Parkhäuser zu Wohnungen und die Einrichtung der Fahrradstraßen auf dem Anlagenring in Gießen.
    Berichte: Gießener Anzeiger ++ HR ++ FFH ++ Live-Ticker der Gießener Allgemeine

    Aktionen vor der Beschlussfassung im Stadtparlament
    4.3.2021, Tag der Entscheidung: Zuerst große Demo mit Argumente-Flyer ++ dann entschied das Stadtparlament:
    Bürger*innenantrag wurde leicht abgeändert beschlossen (Presseberichte)
    Eindrücke der Fahrraddemo am 16.2.2021 ++ Berichte: Gießener Anzeiger und Allgemeine
    Unten: Erster Aktionstag am 30.1.2021 ++ Berichte : Gießener Allgemeine und Anzeiger

    Mitte Dezember 2020 erreichte der Antrag die nötige Stimmenzahl.
    Aus "Wer kriegt was vom Gießener Anlagenring?", in: Gießener Allgemeine: 17.12.2020
    Bleibt der Anlagenring Gießens innerstädtische Hauptschlagader für den Autoverkehr oder muss der Spuren an die ebenfalls nicht kleine Heerschar der Alltagsradfahrer abgeben? Diese Frage wird im Kommunalwahlkampf eine große Rolle spielen. Ein Bürgerantrag könnte das Stadtparlament aber schon vorher zu einer Positionierung zwingen. ...
    Die drei Parteien der noch amtierenden Koalition aus SPD, CDU und Grünen haben sich in der Frage Anlagenring bereits positioniert, und zwar unterschiedlich. SPD und Grüne wollen ebenfalls ein oder zwei Pkw-Spuren dem Radverkehr und vielleicht auch den Stadtbussen überlassen, die CDU ist strikt dagegen. ...
    "Mit uns bleibt es bei vier Pkw-Fahrspuren am Anlagenring", lautete am Samstag die Ansage von CDU-Partei- und Fraktionschef Klaus Peter Möller beim Listenparteitag. Sein Stellvertreter Randy Uelman sprach bezüglich der Vorstellungen von SPD und Grünen von "Hirngespinsten", die der "Lebenswirklichkeit entkoppelt" seien.
    Das sehen viele Unterzeichner des Bürgerantrags, die dazu bei Gießen direkt Kommentare abgegeben haben, natürlich anders. Denn zu ihrer Gießener "Lebenswirklichkeit" gehören Straßen ohne Schutzstreifen für Radfahrer. "Ich unterstütze den Antrag, weil ich gefühlt jeden Tag einmal plattgefahren werde", schrieb einer. "Weil ich mich, so wie es jetzt ist, unsicher fühle" ein anderer. Eine Unterstützerin urteilte: Im Vergleich zu anderen Städten sei die Situation in Gießen für Radfahrer "grauenvoll" und einer Studentenstadt mit hohem Radverkehrsanteil "unwürdig".
    Der Anlagenring war bereits in der zuende gehenden Wahlperiode ein Zankapfel zwischen Roten, Grünen und Schwarzen. Die im Koalitionsvertrag vereinbarte lückenlose Markierung von Radstreifen am rechten Fahrbahnrand wurde von CDU-Bürgermeister und Verkehrsdezernent Peter Neidel zum Unmut von SPD und Grünen aus Platzgründen nicht umgesetzt. Rot-Grün indes hatte die eigene Regierungszeit von 2011 bis 2016 ebenfalls tatenlos vertreichen lassen, obwohl die Radstreifen am Anlagenring im Bündnisvertrag standen. So ist es bis heute bei Radfahrstreifen nur an der Ostanlage geblieben.
    Die Programmaussagen der Grünen und die Ankündigungen der SPD zum Anlagenring sind bislang noch unscharfe Willensbekundungen, dagegen ist der Bürgerantrag konkteter. Er widmet sich auch den Kreuzungen des Anlagenrings und fordert des Weiteren einen einjährigen Verkehrsversuch mit zwei innerstädtischen Nord-Süd- und Ost-West-Fahrradachsen zwischen einerseits Walltorstraße und Bahnhofstraße und andererseits Neuen Bäue und Neustadt, verkehrsrechtlich als Fahrradstraßen ausgewiesen.


    Blick über den Tellerrand
    Breite, mehrspurige Autostraßen in Städten zurückzubauen, um Platz für andere Verkehrsmittel zu gewinnen, ist nicht ungewöhnlich.

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