Projektwerkstatt Saasen

ABSTIMMEN UND ENTSCHEIDEN

Entscheidungen: Vermeiden, dezentralisieren, losen


1. Entscheidungen: Vermeiden, dezentralisieren, losen
2. Methoden zur Entscheidungsfindung
3. Manipulationen bei Abstimmungen
4. Links

Bevor einzelne Abstimmungsverfahren beschrieben werden, ist eines Vorweg wichtig: Jede kollektive Entscheidung ist Herrschaft. Zum einen ist es eine völlige Illusion, zu glauben, dass Entscheidungsfindungen frei von Dominanzen organisierbar sind. Das Wissen um die kommende Entscheidung schürt Ängste, fördert taktisches Verhalten usw. Zum anderen ist eine solche Entscheidung nur dann ein echter Beschluss und wird auch so wahrgenommen, wenn er Gültigkeit hat für alle und über den Zeitpunkt des Beschließens hinaus - in der Regel selbst für die, die erst danach hinzukommen. Das setzt wiederum Mechanismen voraus, etwas Beschlossenes auch durchsetzen zu können.
Um Hierarchien abzubauen, ist folglich ein, wenn nicht der wichtigste Schritt, genau hinzugucken, ob bzw. wo überhaupt Entscheidungen nötig sind, wer sie treffen sollte und für wen sie gelten. Stets besteht die Alternative, eine Kooperation der Unterschiedlichen und einen offenen Raum der verschiedenen Lösungen anzustreben, in dem dann die Organisierung von Kommunikation, Kooperation und Konflikt im Vordergrund steht.

Hirnstupser - politische Analyse und Nachdenktexte
Hirnstupser am 24.4.2020: Weniger entscheiden, mehr streiten, im Zweifel losen
Warum Entscheidungen, die für alle gelten, uns mehr gruseln sollten
In der Diktatur sagt eine Person, wo es lang geht. In parlamentarischen Demokratien entscheiden einige Hundert für Millionen oder ein paar Dutzend für Zehntausende. In direkter Demokratie stimmen viele, aber nie alle über eine Frage ab, die ein, zwei oder wenige Menschen gestellt haben. In der Basisdemokratie ernennt sich eine Runde zur Versammlung aller und stimmt dann ab. Alle zusammen haben eines gemeinsam: Sie behaupten, für alle zu handeln und etwas festzulegen, was für alle gilt. Um den Glauben zu verbreiten, dass sie dafür legitimiert sind, betreiben sie in erheblichem Umfang Propaganda, die das „alle“ als Einheit konstruiert. Viele basisdemokratische Gruppen benutzen das Wort Plenum in einer fast mythisch wirkenden Weise. Schreit eine Person laut „Plenum“, rennen viele Menschen wie gelenkte Marionetten zum gleichen Ort, um dort den vorgetragenen Fragestellungen mit meist schon vorgedachten Antworten einen Anschein von Allgemeinanspruch einzuhauchen. Nationalstaaten reden den Menschen ein, dass es auf ihrem Territorium etwas Einheitliches, von Natur aus oder durch gemeinsame Geschichte Entstandenes gibt und nennen es „Volk“. Sodann treten sie in kleinen Runden zur Entscheidungsfindung an und behaupten, diese Staatsgewalt gehe von dem Volk aus, dass sie kurz zuvor erfunden haben.
Alle Entscheidungen, die für alle gelten sollten, schaffen sich diese Legitimation durch die Behauptung einer gemeinsamen Willensbildung aller. Das ist zwar immer Unsinn, weil das „alle“ stets durch Zwang vorgibt, wer dazugehört und wer draußen bleiben muss. Dennoch ist verfängt es in den Köpfen, da es auch nur als Gedanke konstruiert wurde und obwohl keinerlei Entsprechung im erlebten Alltag besteht. Nach einigen Portionen Gehirnwäsche wähnen sich Menschen als Teil eines Volkes oder glauben daran, dass ein Plenum auch sie mit einschließt unabhängig davon, ob sie das auch so sehen, so wollen oder dem jemals zugestimmt haben. Entscheidungen mit Projektion einer zugrunde liegenden Kollektivität sind immer eine Unterwerfung der Einzelnen. „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ im Nationalsozialismus war der bisherige, traurige Höhepunkt dieses Denkens. Doch der Grundgedanke hängt allen kollektiven Entscheidungsfindungen an.
Was ist zu tun?
Die einfachste Antwort ist auch die beste, aber nicht immer ausreichend: Keine kollektiven Entscheidungen mehr fällen. Das Leben insgesamt, jedes Projekt, also auch jede politische Gruppe und Aktion sind ein dynamischer Prozess. Jede Sekunde verändert irgendetwas an Rahmenbedingungen und Denken, so dass die Entscheidung von eben ohnehin schon zweifelhaft wäre angesichts neuer Entwicklungen. Statt formalisierter Entscheidungsabläufe wäre es sinnvoller, alle sozialen Räume – Wohngemeinschaften, Treffen, Projekte, Vereine, digitale Foren usw. – bewusst so zu gestalten, dass ein gleichberechtigter Zugang zu allen Ressourcen möglichst, dass hierarchiebildende Zurichtungen abgebaut werden, aktiv Räume zum Streiten und zur Konfliktbearbeitung bestehen und Transparenz, Informationsaustausch sowie Kooperation gefördert werden. Sollte dann, aus welchen Gründen auch immer, doch nach einer Entscheidung gerufen werden, so ist folgende Kaskade des Vorgehens sinnvoll:
  1. Nochmal nachdenken: Braucht es wirklich einer einheitlichen Lösung?
  2. Dann prüfen: Braucht es einer Lösung – oder sind auch mehrere nebeneinander denkbar?
  3. Ebenso die Frage stellen: Können wir die Entscheidung darüber dezentraler klären, also in kleineren Runden, näher an den Betroffenen und Interessierten?
  4. Wenn weiterhin etwas entschieden werden soll, ist jetzt die Einladung zur Entscheidungsfindung wichtig. Wer nichts davon erfährt, ist nämlich raus. Daher sollten Entscheidungsfindungen, die alle betreffen (könnten), möglichst transparent gemacht werden.
  5. Verzichtet werden sollte aber selbst dann, wenn breit eingeladen wird, auf die manipulative Erzeugung des Eindrucks, hier seien „alle“ beteiligt oder das Gremium irgendwie durch „alle“ legitimiert. Strukturen und Begriffe wie „Volk“, „Volksvertretung“, „Generalversammlung“, „Vorstand“, „Koordinierungskreis“ oder „Plenum“ gehören auf den Müllhaufen einer hierarchischen Geschichte.
  6. Auf den (hoffentlich sehr seltenen) Treffen zur Entscheidungsfindung, die noch verbleiben, sollte zunächst geklärt werden, wie entschieden wird. Vorgaben wären Machtausübung. Immer dann, wenn es keine Einigung gibt, sollte gelost werden. Das gilt bereits für die Frage, wie am Ende abgestimmt wird, wenn sich die Anwesenden nicht einigen können. Wir empfehlen auch für die abschließende Entscheidung, dass bei Nichteinigung das Los entscheidet. Dann haben nämlich taktische Spielchen, rhetorische Tricks und übertriebene Werbereden für die eigene Position keinen Zweck mehr. Die Kommunikation kann viel ehrlicher verlaufen – und bei einem Losentscheid ist hinterher auch niemensch schuld.
Auf jeden Fall sollte das Losverfahren bei Entscheidungen bevorzugt werden, die einzelnen Personen Privilegien oder bestimmte Aufgaben übertragen. Das wäre stets unkalkulierbar, wer am Ende was machen kann – sei es der Auftritt vor der Presse, die Aufbewahrung von Geräten oder die Vorbereitung eines Treffens. Mensch stelle sich das mal in der Gesamtgesellschaft vor: Du stehst eines Tages vor Gericht. Ein Mensch steht vor dir, der dein Verhalten bewerten soll. Der weiß, dass es nächstes Jahr umgekehrt sein kann. Aus dem Wissen, dass aktuell Herrschaft unendlich ist, entsteht sehr viel übler Gebrauch von Macht, der meist als Missbrauch bezeichnet wird, tatsächlich aber nichts anderes ist als das zu Erwartende, wenn Hierarchien sich verfestigen.

Frei gesprochen in der Vorderhausküche der Projektwerkstatt - als Beitrag auf Youtube und als Podcast:



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