Alltagsalternativen

DER OFFENE RAUM: DIE EXPERIMENTELLE STRUKTUR DER PROJEKTWERKSTATT

Eine Einführung


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Nehmen wir an, Du willst die Projektwerkstatt besuchen - vielleicht in der Bibliothek lesen, auf der Direct-Action-Plattform etwas ausprobieren oder an den Computern endlich Dein Flugblatt fertigen. Oder die Einladung zur Ausstellungseröffnung. Deine Nachbarn (Eltern, Freunde, Lehrer ...) haben Dich zwar schon gewarnt vor dem Haus in Saasen, weil da irgendwie böse Leute wohnen sollen (oder irgendwas anderes, auf jeden Fall aber was Schlechtes), aber Du guckst trotzdem mal vorbei. Dann stehst Du vor dem Haus und kannst durch verschiedene Türen rein. Fast alle sind offen. Und die, die verschlossen sind, lassen sich von innen doch öffnen. Also kommst Du überall hin. Du gehst an Bücherregalen vorbei, durch Archive. In einem Raum liegen Verkleidungsmaterialien - ach ja, Utensilien für Sprühschablonen oder Plakatekleben sind da auch. Computer stehen herum und vieles mehr. Niemand passt auf, Du könntest Dich einfach in die Hängematte legen und lesen. Oder einen Computer anschalten. Du würdest sehen: Da ist kein Passwort, einfach loslegen wäre sehr einfach. Vielleicht machst Du das auch einfach oder Du guckst weiter rum. Nirgendwo ein verschlossener Schrank, sogar die Akten über Finanzen und vieles mehr stehen offen da. Irgendwann wirst Du wahrscheinlich auf Menschen treffen. Wo die sind, lässt sich nicht vorhersagen, denn die Menschen in der Projektwerkstatt haben (zumindest dort) keine eigenen Räume, sondern sind da, wo sie es gerade praktisch finden oder sich wohlfühlen. Vielleicht liegt schon jemand in der Hängematte, irgendwo hockt jemand vor einem Computer oder schneidet neue Musikstücke zusammen. Nun könntest Du fragen: „Darf ich mal ...“ - das wäre eher ein Fehler. „Mach doch einfach, was Du willst. Hier gibt es keine Chefs“, bekommst Du dann vielleicht zu hören. Oder etwas Ähnliches. Das ist nicht böse gemeint, sondern ehrlich.
So oder ähnlich beginnt dann das Erlebnis des Bruchs mit der Normalität draußen, in der immer für alles eine Regel, eine Verhaltensnorm oder ein Aufpasser da ist. Die meisten Menschen scheitern auch schon an dieser Stelle, fühlen sich orientierungslos in der Projektwerkstatt - auch viele derer, die in ihrer eigenen Selbstwahrnehmung „selbstbestimmt“, „autonom“, Anarcho, Punk oder irgendwie „links“ sind. Ein offener Raum bietet viele Möglichkeiten, aber alles setzt den Menschen selbst als Ausgangspunkt voraus.

Wie entsteht dieser offene Raum?
Die Projektwerkstatt bekommt keine laufenden Zuschüsse. Aufgrund der deutlichen Kritik an Obrigkeit und gesellschaftlichen Eliten gibt es auch sonst fast nie Spenden, da diese meist aus den wohlhabenden bildungsbürgerlichen Schichten stammen, die mehr auf Linksparteien, Grüne oder hierarchische Großverbände stehen. Dennoch ist die Projektwerkstatt gut ausgestattet - besser als die meisten hochgeförderten oder staatlichen Einrichtungen:
  • Die Werkstätten als Herzstück der Projektwerkstatt bieten Arbeitsmöglichkeiten für Projekte aller Art. Für Theater, Musik, Layout, Internet, Fahrrad- und Heimwerkeln, Video und Foto, kreative Protestformen und einiges mehr sind Materialien da.
  • Gruppenräume unterschiedlicher Größe können genutzt werden.
  • Eine große Bibliothek und Archive (Foto), die mit zu den größten, frei getragenen politischen Materialsammlungen im deutschsprachigen Raum gehören, füllen mehrere Räume.
  • Ein Seminarhaus bietet die Möglichkeit für Gruppen, auch über mehrere Tage das Haus zu nutzen. Küche, Sanitäranlagen, Gruppenräume und 22 Betten stehen zur Verfügung.
  • Rundherum findet sich eine Infrastruktur für effizientes Arbeiten (Kopierer, Computer ...), Wohlfühlen und viele Sitzecken drinnen und draußen.

Wie genau das alles aussieht, ist in keinem Plan festgelegt, sondern immer das Ergebnis vom Handeln der Menschen. Einige haben inzwischen ihren gesamten Besitz in die offenen Räume der Projektwerkstatt gestellt, andere nur einen Teil dessen, was vorher privat war und folglich nur von ihnen genutzt werden konnte. Denn die Offenheit der Räume in der Projektwerkstatt ist garantiert. Wer also etwas in die Räume hineinstellt, kann es auch selbst immer nutzen - plus allem, was andere hinzufügen.
Das macht das Geheimnis des offenen Raumes aus: Alles was dort steht, ist kein Privateigentum mehr. Dadurch werden alle beteiligten Menschen reicher, denn was sie bisher privat hatten, können sie jetzt immer noch nutzen. Zusätzlich steht ihnen das offen, was andere bisher privat besaßen und nun in der Projektwerkstatt steht. Das Haus ist also eine Art Umsonst-Nutzungszone.

Kann man dann nicht einfach was klauen?
Ja, das geht. Es gibt keine Regel, also auch keine gegen das Klauen. Die Menschen, die da sind, können sich wehren, weil Diebstahl das Ende der offenen Nutzung von etwas ist. Es wird dann wieder privat. Vor allem aber ist Diebstahl in der Projektwerkstatt völlig überflüssig, denn die Dinge kann mensch ja auch so schon nutzen. Warum also noch klauen? Wer einen Computer braucht - bitte, da sind welche. Wer für ein Straßentheater Materialien wie Verkleidung, Megaphon ... braucht - bitte, alles da. Klauen wäre der genau umgekehrte Vorgang wie die Entstehung der offenen Räume, d.h. dadurch würde immer weniger für alle da sein. Selbst für die, die klauen.
Übrigens: Weit häufiger als durch Klauen gehen Materialien verloren, weil sie irgendwo fallengelassen werden. Ein Buch, dass im falschen Regal steht, ist genauso nicht mehr nutzbar wie ein Werkzeug, was statt in der Werkstatt nun im Garten oder unter dem Bett liegt.

Und wenn es kaputtgeht?
Dann muss sich jemand drum kümmern. Die Ausstattung des Hauses ist so gut wie die Menschen es herrichten. Hauptamtliche Zuständige oder Geld für den Einkauf im Markt gibt es nicht. Das Attraktive an der Projektwerkstatt ist, dass hier viele Möglichkeiten bestehen und fast alles auch funktioniert. Wir hoffen darauf, dass viele das (auch aus reinem Egoismus, in diesem coolen Rahmen agieren zu können) mit voranbringen, d.h. Kram wieder reparieren oder sich drum kümmern, dass Lücken gefüllt werden ... Wer also entdeckt, dass etwas fehlt, kann einfach selbst tätig werden, damit es beim nächsten Mal nicht mehr so ist.

Mehr Probleme ...
Offene Räume sind kein Paradies. Ganz im Gegenteil. Sie sind eine offene Konfliktzone mit der Normalität. Austragen tun das die Menschen selbst, die den Spagat zwischen ihrer normalen Zurichtung auf Hierarchien und fehlender Selbstorganisierung auf der einen Seite und dem „Kulturschock“ Projektwerkstatt aushalten und daran etwas verändern wollen. Das schafft Konflikte - u.a. zwischen denen, die schon länger dabei sind, und denen, die neu hinzukommen und schnell mit Entzugserscheinungen kämpfen von klaren Vorgaben und der „Mami im Hintergrund“, die für Essen, Ordnung und Wohlbefinden sorgt.
Ein weiteres Problem ist auch, dass manches eben doch noch Geld kostet. Telefon, Kopier- und Lasertoner, Strom, Wasser und manches mehr müssen in Euro bezahlt werden. Vielleicht gibt es auch da noch neue Ideen, die Kosten zu senken, aber einiges entsteht doch. Dafür gilt in der Projektwerkstatt seit einigen Jahren das Prinzip, dass alle Menschen nach Selbsteinschätzung Geld dalassen. Will heißen: Wer wenig hat, zahlt nichts oder wenig. Wer mehr hat, zahlt mehr. Das wird nicht kontrolliert, sondern die Menschen entscheiden selbst.

Doch das Positive überwiegt klar!
Es hakt an vielen Ecken - immer wieder Menschen, die einfach was mitnehmen, verschludern oder in der Projektwerkstatt gratis mitleben, obwohl sie mehr Geld haben als die anderen dort. Viele scheitern, weil sie Normalität brauchen und den Ausbruch nicht wirklich wollen. Das aber kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass insgesamt die Projektwerkstatt von der Idee des „Offenen Raumes“ lebt. Bislang hat sich die Ausstattung ständig weiterentwickelt. Einige Leute schleppen immer wieder neues Material an oder bauen neue Werkstätten auf. Andere fügen Kleinigkeiten hinzu. Aus dem Umsonstladen Gießen werden Bücher und anderes Material in die Archive gestellt, weil es dort auf Dauer für alle zugänglich ist.

Selbstermächtigung statt Bevormundung
Die Projektwerkstatt ist eine offene Aktionsplattform, also ohne Zuständigkeiten, Hierarchien, Regeln und Beschränkungen. Es soll ein Experimentierfeld sein für freie Menschen in freien Vereinbarungen. Das setzt nicht bessere Menschen voraus, sondern aufmerksame – und Aufmerksamkeit kann mensch lernen. Was es hier nicht gibt, ist das bevormundende Behüten der Nutzis unserer Räume und Einrichtungen. Wer sollte das auch tun? Welche Menschen auch immer hier im Haus sind, sie stehen gleichberechtigt zueinander. Es gibt kein Hausrecht, aber auch keine Dienstleistis, die anderen das Leben organisieren und das Haus aufrecht erhalten. Vielmehr sind sie alle selbst Aktivistis, wollen an politischen Projekten werkeln und nicht ständig dier Hausmeisti der anderen sein. Eine dadurch erschreckte Gastgruppe schrieb mal auf ein Plakat, dass mensch hier sich selbst überlassen ist. Jawohl, so ist es. Wir lehnen Paternalismus ab.
Aber ihr könnt und solltet kooperieren, kommunizieren. Wartet nicht darauf, dass sich jemensch um euch kümmert oder euch sagt, was ihr tun könnt, sondern agiert selbst: Tretet in Kontakt mit anderen, entwickelt eigene Ideen und Aktivitäten und übt euch darin, selbst mitzukriegen, was wichtig ist, damit dieses Haus, seine Einrichtung, die Versorgung aller usw. auf Dauer gut funktionieren. Diese Fähigkeit, Notwendigkeiten und Möglichkeiten selbst zu entdecken, braucht ihr aber ohnehin, wenn ihr eigene Aktionen entwerfen und nicht nur großen Labeln hinterherlaufen wollt.

Wie geht es weiter?
Ein offener Raum ist nie an einem Ende angekommen. Es geht immer weiter, verändert sich, neue Bausteine kommen hinzu. Es gibt kein Konzept, keinen Plan, sondern die Menschen, die den offenen Raum nutzen und nach ihren Ideen weiterentwickeln. Insofern seien alle Menschen eingeladen, die Projektwerkstatt und ihre spannende Ausstattung gnadenlos für sich zu erobern. Schön wäre aber auch, wenn alle das Haus mit entwickeln. Denn jeder Baustein mehr hier außerhalb von Privateigentum und Kontrolle ist ein Gewinn für alle, denn niemand mehr kann gehindert werden, das Neue auch zu nutzen.

Infos zu offenen Räumen
„Offene Räume“ sind eine Idee horizontaler Organisierung. Mehr dazu gibt es unter www.hierarchnie.siehe.website - einer Internetseite, die auch in der Projektwerkstatt entstanden ist ...

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