Alltagsalternativen

EMANZIPATION UND SELBSTENTFALTUNG ALS OFFENER PROZESS

Heute beginnen, nie aufhören


Heute beginnen, nie aufhören · Links

Dieser Text ist Teil der Gesamtabhandlung "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen" ... zum Anfang und zur Gliederung

Fangen wir mit einer guten Nachricht an, die vielleicht etwas Erleichterung bringt angesichts der gefühlten Ohnmacht, die Gedankenspiele um Utopien und Auseinandersetzungen mit den Grundproblemen von Gesellschaft oft bewirken. Sie lautet: Mensch kann das Ganze nicht auf einen Schlag ändern. Die emanzipatorische Revolution als Ein-Akter findet nicht statt (das ist keine Absage an revolutionäre Umgestaltungen, aber eine an die darin projizierte Hoffnung, alle Probleme lösen zu können).
Warum das eine gute Nachricht ist? Emanzipation, die Überwindung der herrschaftsförmigen Verhältnisse und Beziehungen, ist ein dauernder Prozess. Er kann also heute starten. Ebenso lohnt sich, alles schon Begonnene weiterzuführen. Emanzipation hat kein Anfang und kein Ende. Evolution steht nie still - es ist nur die Frage, wer und was sie antreibt. Zur Zeit werden bedeutende gesellschaftliche Ressourcen in die Ausweitung und Sicherung von Kontroll- und Profit-(Verwertungs-)zwecke gesteckt. Emanzipation bedeutet demgegenüber die Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten. Um dieses Ringen geht es - die gesellschaftlichen Potentiale den Orten zu entreißen, die sie für die beschriebenen, der Evolution der menschlichen Fähigkeiten wenig dienlichen Ziele einsetzen. Alle Macht ... den Menschen! Konkrete Bausteine dieses Prozesses sind Demaskieren der Verhältnisse und Beziehungen, dann deren Umgestalten und zudem ein ständiges, vorwärtstreibendes Experimentieren.

Demaskieren: Der Blick durch die Herrschaftsbrille
Herrschaftsverhältnisse müssen aus allen Ritzen und Fugen der Gesellschaft, also jeder konkreten und jeder abstrakten sozialen Interaktion vertrieben werden. Beziehungen und Verhältnisse, ob nun die Romanze zweier Menschen oder die Produktionsverhältnisse in einem globalen Industriezweig, stecken immer voller unterschiedlicher Formen der Beherrschung, zementiert durch formale oder diskursive Einflüsse, durch ungleiche Verteilung der Handlungsmöglichkeiten, u.a. von Produktionsmitteln, Wissen und Leistungsfähigkeit. Manche sind schnell zu erkennen, andere ganz subtil oder nur als äußere Bedingungen existent. Letztere werden, weil zur Normalität gehörend, oft gar nicht mehr als Beherrschung wahrgenommen werden.
Alle müssen entlarvt und offengelegt werden, um dann damit zu beginnen, sie zurückzudrängen, umzuwandeln und umzuwerfen. Das Demaskieren des Herrschaftsförmigen in jeder Situation ist also eine entscheidende Voraussetzung für eine effiziente Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen. Zudem stärkt der offene Blick in das Geschehen mit und um uns bereits die Widerstandsfähigkeit. Denn das Weggucken und das gut geübte Verdrängen des Bedrängenden sind Schwächen. Ein klarer, skeptischer und analytischer Blick ist ein Teil der Befreiung. Und Voraussetzung für dessen weiteren Gang.

Von besonderer Bedeutung ist das Demaskieren und Einmischen in den konkreten Situationen des Lebens. Die Trennung der Sphären politischer Einmischung und die Akzeptanz eines herrschaftsförmigen Alltagsleben stabilisieren das bestehende System. Zwar können große Protestevents (meist selbst hierarchisch organisiert) das eine oder andere Detail - sei es Atomkraft oder einen unterirdischen Großbahnhof in Stuttgart - ins Wanken bringen, doch außer kleinen Spitzen des Eisberges ist damit nichts weggebröselt. Wir kehren zurück von unseren Demonstrationen und tauchen widerstandslos ein in die Welt voller Ausbeutung, Profitorientierung und Unterdrückung - sei es am Arbeits- oder Ausbildungsplatz, beim Einkaufen, am Computer oder in der Medienwelt. Kapitalismus, Rassismus, Patriarchat und viele weitere Erscheinungsformen der Herrschaft können die Abschaltung der Atomkraftwerke ertragen (auch wenn einige konkrete Konzerne den verflossenen Gewinnen nachtrauern würden), denn an den grundsätzlichen Strukturen ändert das gar nichts. Im Gegenteil: Der Kampf um die Energiepolitik hat alle Seiten verändert. Die Atomlobby ist durch den massiven Widerstand geschwächt worden. Sie verliert wahrscheinlich früher oder (eher) später ihre riskanten Kraftwerke. Stärker verändert aber wurden Umweltbewegung, Alternativenergiefirmen und grüne Parteien. Bei ihnen ging es vor allem um die Anwendung der dominanten Strukturen in dieser Gesellschaft für ihre Zwecke. Sie haben nicht nur wie die Löwen dafür gekämpft, dem Kapitalismus die Windräder und PV-Module schmackhaft zu machen, sondern umgekehrt auch Wind- und Solarenergiegewinnung durchzukapitalisieren, dass AtomkraftmanagerInnen heute nur neidisch der ökonomischen Durchsetzung alternativer Energien zuschauen oder sich ein Stück vom neuen Kuchen abschneiden können.
Der Kampf gegen das Herrschaftsförmige in gesellschaftlichen Verhältnissen und Beziehungen ist daher gerade dort wichtig, wo es um das Allgemeine, das Alltägliche geht, wo die Normen, Diskurse und Institutionen ins Visier geraten, die den Kern der Gesellschaft ausmachen.

Umgestalten
Damit etwas Neues entsteht, kann Vorhandenes umgestaltet werden. Ob das allmählich oder abrupt geschieht, ist oft nur eine taktische Frage, z.B. der Kräfteverhältnisse. Sie ist aber auch aus der Überlegung abzuleiten, dass eine abrupte Umgestaltung, also eine Revolution in der Gesellschaft oder in irgendeinem gesellschaftlichen Subraum nicht angesichts der Kräfteverhältnisse, des Bewusstseinsstandes, vorhandener Ängste und Autoritäten zu einer schnöden Wiederholung ähnlicher Verhältnisse und Beziehungen führt wie in der Situation vorher. Andererseits entsteht beim allmählichen Wandel die Gefahr, dass die Idee des Neuen aufgesogen, transformiert und zum Baustein einer modernisierten Fassung der alten Herrschaftsförmigkeit wird. Letzte Sicherheit wird kaum zu erlangen sein, aber ein genauer Blick erhöht die Chance, wirksame Wege zu beschreiten.

Experimentieren und die gelungenen Modelle ausweiten
Von der Umgestaltung des Bestehenden können Experimente mit ganzen neuen Formen sozialer Gestaltung unterschieden werden. Zwar bleiben auch hier die zur Zeit gegebenen Möglichkeiten als Rahmen, aber es geht stärker darum, sich von diesen loszulösen und kreativ neue Varianten der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse zu erproben. Solche Experimente können Keimzellen des Neuen sein, allerdings sollten die Erwartungen nicht übertrieben ausfallen. Schließlich wirken die bisherigen Bedingungen, Zurichtungen und Diskurse auf jedes Experiment und die beteiligten Personen zumindest zunächst weiter ein. Sich von ihnen zu lösen, wäre das Kennzeichen des Fortschreitens zum Neuen. Das setzt einen intensiven Prozess der Demaskierung von Herrschaftsverhältnissen und Abhängigkeiten im eigenen Experiment und in den beteiligten Personen voraus - einschließlich praktischer Maßnahmen, diese zu überwinden.
Wo Experimente sich bewähren mit eigener, kritischer Reflexion, kann ihre Ausdehnung das Ziel sein. Dazu gehören das Vergrößern des Experiments, weitere Experimente, deren Verknüpfung und die Übernahme von Subräumen und Ressourcen der bisherigen Gesellschaft, soweit sinnvoll, erreichbar und ohne gleichzeitige Integration der dort wirkenden alten sozialen Verhältnisse möglich.

Der ständige Prozess
All dieses sind keine Einzelhandlungen, sondern ständig, nebeneinander stattfindende, ineinander greifende und sich gegenseitig beeinflussende Prozesse verschiedener Personen. Erfolg, Rückschläge und Scheitern werden sich abwechseln. Als roter Faden zieht sich der ständige Wille zu Demaskierung, zum Umgestalten und zu neuen Experimenten durch das Handeln und treibt den Prozess der Emanzipation voran. Restaurative Projekte sollten vermieden und zurückgewiesen werden - so reizvoll es auch klingen mag, die alten gesellschaftlichen Machtverhältnisse und Ressourcen für eigene Ziele nutzen zu können. So hat die schon benannte Umweltbewegung mit ihren modernen Methoden, Staat und Markt als Mittel zum Zweck einzusetzen, einen erheblichen Anteil an dem, was als neoliberale Umgestaltung die Herrschaftsverhältnisse in den Produktionsbedingungen erheblich zugespitzt hat. Emanzipatorische Umgestaltung heißt, das Herrschaftsförmige zurückzudrängen oder, wo möglich, zu überwinden. Das kann durchaus auch in Detailkämpfen erreicht werden, aber nur dann, wenn diese nicht auf die alten Karten und Spielregeln setzen. Denn die werden damit aufgefrischt und mit neuem Leben gefüllt.

Im Original: Prozesse der Befreiung
Aus Christoph Spehr (2003): "Gleicher als andere", Karl Dietz Verlag in Berlin
Das Selbstbewusstsein einer zukünftigen linken Politik wird sich nicht daraus speisen, "die Probleme gelöst" und "Freiheit und Gleichheit durchgesetzt " zu haben, weil dies nie ein für alle Mal der Fall sein kann. Es wird sich darauf stützen, freier und gleicher als andere zu sein und auf allen Ebenen dafür zu wirken. Und es wird sich darauf stützen, sich nicht zu verneigen – nicht vor angeblichen Errungenschaften, nicht vor angeblichen Notwendigkeiten, und nicht vor der aktuellen Tageswährung von Freiheit und Gleichheit, wie sie an den Börsen herrschaftlicher Selbstdarstellung gerade gehandelt wird. ...
(S. 30)
Abwicklung von Herrschaftsinstrumenten bildet daher einen wesentlichen Bereich linker Politik, einer, die auf das Ziel von Freiheit und Gleichheit abzielt bzw. auf das Ziel freier Kooperation. Dies kann bereits festgehalten werden, auch wenn Abwicklung keineswegs ausreicht.
... (S. 36)
Was ist "frei" an einem Individuum, das sich politisch frei betätigen darf, der strukturellen Unterordnung und der Kontrolle der Öffentlichkeit durch Kapital und große gesellschaftliche Machtblöcke jedoch unverändert ausgesetzt ist? Was ist "gleich" an einem Individuum, dessen Einkommen im Verhältnis zu anderen nicht geringer als ein Drittel oder ein Viertel ausfällt, dessen persönliche Gestaltungsspielräume oder politische Einflussnahme im Verhältnis zur oberen Funktionärsklasse und der ökonomischen Elite jedoch gegen Null gehen? Wir können dem demokratischen Kapitalismus bestenfalls ein Modell der zynischen Freiheit attestieren. Der Mensch ist darin geringeren Beschränkungen ausgesetzt, wenn es ihm gelingt, eine privilegierte ökonomische Stellung zu erreichen; er hat durch die warenförmige Verfügbarkeit von Arbeit und Natur eine gewisse Chance, sich diese ökonomisch privilegierte Stellung auf Kosten anderer zu verschaffen; und er kann sich als politisch frei betrachten, wenn es ihm nichts ausmacht, dass er mit all seinen verbrieften Rechten praktisch nichts verändern kann. Dem realexistierenden Sozialismus können wir entsprechend ein Modell der ohnmächtigen Gleichheit bescheinigen. ...
(S. 38 f.)
Oder wie sollen wir es nennen, wenn Einzelne sich ganze Stiftungen kaufen können, sich vollelektronische Häuser bauen und mehrere Tausend Mark im Monat nur vertelefonieren, während wir der Sozialhilfeempfängerin für die Woche Kur ihren Leistungsbezug streichen, weil sie dort ja schon zu Essen bekommt? Ist das ein Mangel an Freiheit? An Gleichheit? Wenn Arbeiter, denen ihr Staat angeblich gehört, monatelang keinen Lohn bekommen, während die Manager des militärisch-industriellen Komplexes, bei dem sie arbeiten, auf den internationalen High-Tech-Märkten shoppen gehen, Streik aber als systemfeindlich verboten ist? Fehlende Freiheit? Fehlende Gleichheit? Freiheit und Gleichheit ist es jedenfalls nicht. Es ist, ob in Ost oder West, bestenfalls die Freiheit zu gehorchen und die Gleichheit der optimalen Verwertung. Es ist, schlicht und ergreifend, Herrschaft. Wenn wir einfache, konkrete Fragen stellen wie: Wie groß ist der Anteil am gesellschaftlichen Leben und am gesellschaftlichen Reichtum, den ich gestalten kann? Welche alten Bären können in mein Leben hineinreden, ohne dass ich sie daran hindern kann? Von welchen hierarchisch übergeordneten Personen, gegen die ich mich nicht wirklich wehren kann, werden schicksalhafte Entscheidungen über mein Leben getroffen? Wieviele Arschlöcher muss ich überzeugen, um eine gute Idee verwirklichen zu können? Wie ist die tatsächliche tägliche Arbeitszeit zwischen Frauen und Männern verteilt? Welchen Preis muss eine Frau, welchen ein Mann für den Luxus bezahlen, Kinder zu haben? Gibt es eine Gruppe von Menschen, die hauptsächlich schwere, körperliche Arbeit oder gesundheitlich belastende Arbeit leistet? Wer ist es? Werden die unangenehmen, monotonen oder schmutzigen Arbeiten am besten bezahlt und erfahren die meiste Anerkennung? Wenn das nicht der Fall ist, wie wird dann erreicht, dass sie jemand macht? Gibt es Schmürze?10 Wenn ja, wer sind sie? Welches Maß an tatsächlicher Anerkennung und Gleichstellung erhalten Menschen, die aus anderen Ländern stammen oder die aus der Peripherie des eigenen Landes kommen? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, ins Gefängnis oder in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen zu werden? Welchen Preis muss ich bezahlen, wenn ich den Wertvorstellungen und Leitbildern meiner Gesellschaft in der Praxis widerspreche? Zu welchem Leben kann ich von der Gesellschaft schlimmstenfalls gezwungen werden? Kann ich mich gesellen, mit wem ich will? Kann ich hingehen, wohin ich will, und was kostet mich das? Sind die zentralen gesellschaftlichen Entscheidungen und langfristigen Weichenstellungen für mich irgendwie erreichbar, beeinflussbar? ...
(S. 39 f.)
Das Umgekehrte ist ebenfalls möglich. Auch aus der Situation einer freien Kooperation heraus sind Herrschaftsstrategien möglich; umso leichter, als freie Kooperation immer ein Näherungswert ist, ein dynamischer Prozess, kein für alle Zeiten konservierbares Gleichgewicht. Deshalb wird es immer Emanzipationskämpfe geben, und deshalb wird nie der Zustand erreicht, wo eine linke Politik nicht mehr nötig wäre. ...
(S. 50)
Die Theorie der freien Kooperation stellt keine fixen Modelle auf, wie die "gute Gesellschaft", das "richtige Leben", die "korrekte Beziehung", die "gesunde Lebensführung" etc. auszusehen hat. Sie versucht nicht, die Welt zu verbessern, sondern nur, den Menschen den Rücken zu stärken. Sie lehnt es kategorisch ab, das Putzfrauen-Prinzip dadurch zu bekämpfen, dass man Menschen verbietet, als Putzfrau zu arbeiten (oder als Prostituierte oder in Beschäftigungsverhältnissen "ohne Papiere" usw.). Die Theorie der freien Kooperation macht keine Vorschriften. Sie erkennt an, dass Individuen und Gruppen Kooperationen ablehnen, verweigern, einschränken können, wenn sie damit nicht zufrieden sind, ohne dass sie von einer objektiven Instanz daran gehindert werden könnten. Sie erkennt allerdings auch an, dass Individuen und Kollektive bestimmte Verhaltensweisen und Regelungen zur Bedingung der Kooperation machen können; sie können dies aber nicht einseitig erzwingen oder diktieren. Die konkrete Ausgestaltung von Kooperationen ist Sache der Beteiligten; von außen kann man dazu eine Meinung haben, man kann sie auch äußern, aber das war's dann auch. ...
(S. 56)
Freie Kooperation heißt, diese Logik des Sozialen auf alle Arten und Bereiche von Kooperation anzuwenden und das zu verändern, was ihr entgegensteht. Es ist eine Utopie in Echtzeit. Sie dehnt sich aus und radikalisiert sich – in dem Sinne, dass sie breiter, umfassender und gründlicher wird. Wir brauchen keine utopische Gesellschaft, um damit anfangen zu können. In einem gewissen Sinne ist es egal, wo wir anfangen. Die Frage ist nur, wie weit wir gehen. ...
(S. 67)
Freie Kooperation geht davon aus, dass wir selbst und unsere Beziehungen auch so komplex sind. ... Wir fischen im Trüben; es ist nicht alles total zufällig und unbeeinflussbar, aber wir haben keine feste Gewissheit, welche Wirkung diese oder jene Veränderung auf das Ganze der sozialen Kooperation haben wird. Deshalb können soziale Verträge nicht beliebig bindend sein, sondern müssen rückholbar bleiben. ...
(S. 69)
Die Politik der Abwicklung von Herrschaftsinstrumenten stellt sich dies als einen schrittweisen, nie ganz abgeschlossenen Prozess vor. Einerseits ist die Liste möglicher Instrumente offen und Herrschaft ziemlich kreativ darin, alte zu variieren und neue zu erfinden; andererseits ist ein sofortiger Wegfall "in einem Schritt" meist weder möglich, noch in jedem Fall wünschenswert. Entscheidend ist der Prozess und das Kriterium dafür, was "vorn" ist. Dieses Kriterium ist nicht, ob einseitig überlegene Gewaltpotentiale für "etwas Gutes" eingesetzt werden, sondern ob die reale Möglichkeit, Kooperation und Kooperationsleistung zu erzwingen, effektiv geringer wird. ...
(S. 73)

Aus Erich Fromm, "Haben oder Sein" (S. 129-130)
Viele politische Revolutionäre meinen, zuerst müßten die politische und die ökonomische Struktur radikal verädnert werden, dann werde als zweiter und fast zwangsläufgier Schritt ein Wandel der menschlichen Psyche erfolgen. Mit anderen Worten, die neue Gesellschaft werden, sobald sie erst verwirklicht sei, quasi automatisch den neuen Menschen hervorbringen. Sie übersehen dabei, daß die neue Elite, die vom gleichen Charakter motiviert wird wie die alte, dazu neigt, innerhalb der neuen sozio-politischen Institutionen, welche die Revolution geschaffen hat, die Bedingungen der alten Gesellschaft wiederherzustellen; ...
Das andere Extrem stellen jene dar, die behaupten, zunächst gelte es, die Natur des Menschen zu verändern - sein Bewußtsein, seine Wertvorstellungen, seinen Charakter -, erst dann könnte eine wahrhaft humane Gesellschaft errichtet werden. Die Geschichte der Menschheit hat bewiesen, daß sie unrecht haben.


Sie treffen sich im Unendlichen: Emanzipation
Herrschaft bedeutet die Möglichkeit, die Selbstentfaltung zu regulieren und damit zu drosseln. Die Idee der Selbstentfaltung beinhaltet das Anstreben erwünschter zukünftiger Lebensweisen und –bedingungen, aber auch – über die Selbstverwirklichung hinausgehend – die Ausdehnung der Möglichkeiten. Daher erhält das Anzustrebende ein dynamisches Element. Die Utopie bleibt immer die Utopie, weil ihre Verwirklichung die Entstehung neuer Möglichkeiten einschließt und deshalb die Utopie, sich stetig erweiternd, als Leitbild vor einer emanzipatorischen Befreiung und Entwicklung gedanklich vorweg schwebt.
Wenn Emanzipation die Befreiung von den Beschränkungen des Lebens bedeutet, dann ist sie ebenso unendlich, denn mit jeder Befreiung entstehen neue Möglichkeiten und Hoffnungen auf zukünftige Befreiungen. Würden diese beschränkt, so wäre das wiederum Herrschaft. Daher muss Anarchie als Nicht-Herrschaft selbst auch diese Dynamik beinhalten. Etwas Bestimmtes und Feststehendes anzustreben, widerspricht der Idee von Nicht-Herrschaft und damit der von Anarchie. Regeln, Gesetze und Normen, die das Erreichte festhalten wollen, treten der Weiterentwicklung entgehen, sind Herrschaft und damit kein Baustein anarchischer Welten.

Jeder Schritt schafft neue Möglichkeiten und neue Erkenntnisse
Eine der großen Hoffnungen auf die Emanzipation als Prozess ist die Evolution des Stofflichen, des Lebens und der Kultur bisher. Neuerungen brachten stets auch neue Handlungsmöglichkeiten mit sich. Das Leben oder die kulturelle Evolution des Menschen wären nicht erklärbar und auch nie (oder sehr, sehr viel später) zustandegekommen, wenn nicht die Veränderung des Stofflichen selbst die Bedingungen geändert hätte.

Aus Christoph Spehr (2003): "Gleicher als andere", Karl Dietz Verlag in Berlin (S. 89)
Jeder Befreiungsprozess löst früher oder später eine zweite und dritte Befreiung aus, in der das sicher geglaubte Subjekt dieser Befreiung zerfällt, sich pluralisiert.


Auch aus diesem Grund lohnt der Start. Es gibt keine vorhersehbare Wirkung. Wirkung ist überhaupt nicht genau messbar, denn was auch immer geschieht, kann Veränderungen an vielen Orten bewirken, sich mit anderen Prozessen verstärkend verbinden - oder diese blockieren. Vorhersehbar ist nichts davon. Es kommt also darauf an, im Ringen um Befreiung, Ausdehnung von Handlungsmöglichkeiten und gesellschaftliche Veränderung die gewünschte Qualität in die Handlung zu legen, strategisch zu denken, Kooperationen zu suchen, wo sie helfen - aber ansonsten zu drücken, zerren, zu schieben und zu rütteln an den gesellschaftlichen Bedingungen, ohne genau zu wissen, was dadurch geschieht. Der aufmerksame Blick und das reflektierende "Fragend voran" gehören zum ständigen Versuch dazu. Knechtende Verhältnisse zerstören, Unterwerfung sabotieren, Diskurse demaskieren oder wandeln und neue Ansätze als Keimzellen in die Welt bringen - alles kann ein Stück des Weges sein. Die Veränderung kommt aus der Vielzahl vom Menschen, die rütteln an den Verhältnissen - mit emanzipatorischen Zielen und dem ständigen Blick dafür, was gerade geht, was nötig ist, wie sich was auswirkt und wo neue Chancen entstehen.

Reform und Revolution sind keine Gegensätze: Es kommt auf den Inhalt an
In politischen Bewegungen tobt mitunter der Kampf zwischen AnhängerInnen von Reformen und Revolutionen. Dieses Scheingefecht, bei dem es oft um Hegemonie über soziale Prozesse geht, verschleiert andere Fragestellungen, die von großer Bedeutung wären - zu stellen gleichermaßen an Reformvorschläge und revolutionäre Konzepte. Aus emanzipatorischer Sicht geht es nämlich um das Herrschaftsformige in den Dingen, hier in Reformen bzw. Revolutionen. Drängen diese solche Einflüsse zurück, die Menschen die freie Entfaltung nehmen oder einschränken? Oder setzen sie nur - im Namen hehrer Ziele - neue Schranken und dienen damit dem Ausbau von Verhältnissen und Beziehungen, die eben nicht emanzipatorisch sind?

Die Revolution ohne eine Perspektive der dann folgenden permanenten Weiterentwicklung ist genau wenig emanzipatorisch wie die Reform ohne Beitrag zur Befreiung aus den grundlegenden Verhältnissen und Beziehungen. Das Erste bedeutet Stillstand auf einem veränderten Niveau, aber auch wieder Zwang und Konservierung, also ein Stutzen der Entfaltung von Mensch und durch ihn geschaffenen, sozialen Verhältnissen. Das Zweite stände für ein Verharren in den bestehenden Verhältnissen und damit auch das Scheitern der Detailveränderung, weil die Bedingungen, gegen deren Auswirkungen sich die Reform richtet, bestehen bleiben oder, wenn es richtig dumm angestellt wird, verstärkt werden.

Wo aber eine Reform kleine Schritte im Hier und Jetzt vollzieht und damit ein bisschen an den grundlegenden Verhältnissen rüttelt, oder wo Revolution einen Sprung darstellt, der aber immer auch eine Befreiung der Produktivkräfte zu mehr und weiterer Entwicklng darstellt, also die repressiven Elemente der Gesellschaft nicht austauscht, sondern schwächt oder abschafft, da sind sich Reform und Revolution nicht mehr so wesensfremd. Sie stehen nicht gegeneinander, sondern können zeitgleich, verschoben oder ineinander greifend ablaufen. Mal reicht die Kraft oder Idee nur zu einer kleinen Veränderung, dann mal wieder zu einem Umwerfen von mehr. Kleine Schritte und der Sprung zum mehr können sich abwechseln und gegenseitig fördern, da jede gelungene Reform, die auch Befreiung brachte, die Möglichkeiten für einen größeren Sprung erweitert.

Im Original: Revolution oder Reform?
Aus dem Vorwort von Agnoli, Johannes: 1968 und die Folgen
Gewiß haben wir in der Revolte Fehler gemacht: zu Hauf. Fehler in der Erarbeitung möglicher Strategien, in der Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit - hin bis zur Formulierung der Probleme. Für einige dieser Fehler legen die hier neu gedruckten Texte selbst Zeugnis ab.
Dennoch war die Revolte nicht nur notwendig, sondern auch zwar kein Erfolg, aber dennoch geschichtlich wirksam. Revolten kennen im allgemeinen nur das Scheitern, sonst wären sie Revolutionen. Die gescheiterte Revolte indessen greift in die Geschichte ein, sie setzt Zeichen, die teils verschwinden, um später wieder aufzutauchen, sie verändern doch die Welt.

Aus einem Interview mit G.M. Tamás, in: Neues Deutschland, 5.2.2011 (W6)
Ich habe nichts gegen Revolution, wenn man darunter nicht die gewaltsame Machtübernahme durch einen Apparat versteht. Man sollte das Wort "Revolution" reformieren. Ich habe auch nichts gegen Reformismus, wenn das grundlegende Ziel der Emanzipation nicht aufgegeben wird, sondern bedeutet, in der Zwischenzeit schon etwas Vernünftiges zu tun. Wenn Reformismus aber Kompromissmus mit Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg bedeutet, dann bin ich dagegen. Reformen und Revolutionen können gleichermaßen eine befreiende Rolle spielen.

Aus Cindy Milstein (2013), "Der Anarchismus und seine Ideale" (S. 37ff+57)
Rudolf Rocker stellte schon vor langer Zeit klar, dass für die Anarchist innen gilt: »Sie begnügen sich keineswegs mit dem Zukunftsideal einer herrschaftslosen Gesellschaft; ihre Bestrebungen sind auch schon heute darauf eingestellt, die Wirksamkeit des Staates, wo immer sich eine Gelegenheit dazu bietet, zu begrenzen und seinen Einfluss auf die verschiedenen Zweige des gesellschaftlichen Lebens nach Möglichkeit einzudämmen.« Der Anarchismus gibt sich nicht damit zufrieden, nur ein paar oberflächliche Schäden zu beheben, um eine zerstörte Welt etwas weniger zerstörerisch zu machen. …
Manchmal können anarchistische Projekte die Form von Ein Punkt Kampagnen annehmen, aber Anarchist innen versuchen immer, deutlich zu machen, dass der Kapitalismus sein Versprechen, Bedürfnisse zu befriedigen, nicht einlösen kann, und dass eine freie Gesellschaft nur ohne Kapitalismus möglich ist. Beispielsweise produziert der Kapitalismus einen Überfluss an Nahrung und Wohnraum, und wenn dieser nicht getauscht werden kann, wird die Nahrung vernichtet und der Wohnraum bleibt leer, während viele Menschen hungern und auf der Straße schlafen. ...
Sobald die revolutionäre Spitze eines Projekts oder einer Kampagne stumpf geworden ist, was im Kapitalismus oft passiert, suchen Anarchist innen nach neuen Wegen, um die Irrationalität des gegenwärtigen Systems bloßzustellen, aber auch um die zahlreichen Möglichkeiten aufzuzeigen, bereits im Hier und jetzt radikale Alternativen anzubieten. ...
Es geht nicht darum, Ethik und Pragmatik einander gegenüberzustellen. Es geht darum, in weichem Verhältnis Ethik und Pragmatik zueinander stehen. Die Menschheit hat sich zu beinahe unbegrenzter Vorstellungskraft und enormem Erfindungsreichtum fähig gezeigt. Diese Eigenschaften können als die charakteristischsten des Menschen betrachtet werden. Sie wurden sowohl für wunderbare als auch für fürchterliche Dinge genutzt. Ausschlaggebend ist, dass es Menschen oft gelingt, ihre Pläne auch wirklich in die Tat umzusetzen. Dabei ist die ethische Frage. Immer zentral: Was wollen Menschen und warum? Erst danach stellt sich die pragmatische Frage des Wie. In dem Moment, in dem Menschen sich fragen, was getan werden soll bzw. was die richtigen Handlungsweisen sind, nimmt Ethik eine praktische Form an. Das erlaubt uns, mit neuen Herausforderungen, Schwierigkeiten, Bedingungen und Kontexten umzugehen.


Thesen zur Frage "Reform oder Revolution?"
  1. Revolutionen sind nicht nur schwierig, sondern können auch falsch sein. Die Umwerfung bestehender Verhältnisse ist nur dann emanzipatorisch, wenn sie mit der Befreiung der konkreten Menschen und ihrer freien Zusammenschlüsse verbunden ist. Dieses wäre nicht der Fall, wenn nur alte Eliten vertrieben und neue installiert werden, wenn staatliche Strukturen hinweggefegt, aber durch neue ersetzt werden. Ebenso bedeutet die Machtübernahme durch Apparate, die sich als Personifizierung revolutionärer Subjekte oder Klassen sehen, nicht die Befreiung der Einzelnen. Insofern stellt Revolution keine emanzipatorische Qualität an sich dar, sondern muss am tatsächlichen Gehalt an Befreiung für die Einzelnen gemessen werden.
  2. Reformen sind nicht nur kleine Schritte, sondern können auch in die falsche Richtung weisen. Daher birgt der Begriff Reform als solches keinerlei Hinweis auf die Qualität. In der Praxis verlieren sich sogar viele Reformen und Vorschläge in der Alltagspolitik und können dort bestehende Machtverhältnisse legitimieren oder sogar stärken, in dem sie deren Handeln, neue Gesetze, autoritäre Durchgriffe zum Zwecke des Detailziels oder neue wirtschaftliche Betätigungsfelder mit neuen Verwertungs- und Profitlogiken einfordern.
  3. Große Umstürze sind nicht planbar, bedürfen aber immer eines passenden "Nährbodens". Eine Revolte, die nur die bisherige HerrscherInnenschicht vertreibt, schafft ein Vakuum. Innerhalb dessen haben die Tendenzen die beste Chance zur Ausdehnung, die ohnehin bestehen. Das aber sind die Diskurse und eingeübten Verhaltensschemata des Bisherigen, also der herrschaftsförmigen Welt. Folglich wäre die Gefahr groß, dass sich nur eine neue Oligarchie installiert, die auf ein eingeübtes williges VollstreckerInnentum trifft, welches die neue Macht schnell stabilisiert, aber damit auch die Grundzüge gesellschaftlicher Organisierung restauriert. Eine andere Chance besteht vor allem dann, wenn schon viele Subräume der Gesellschaft existieren, in denen andere Formen von Organisierung, Kooperation und Entscheidungsfindung prägend sind.
  4. Emanzipation ist der Prozess der Befreiung, Revolution daher kein Einakter. Befreiung bedeutet das Zurückdrängen von Zwängen aller Art, die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten und die Stärkung des gleichen Zugangs aller Menschen zu gesellschaftlichen Ressourcen. Sie ist damit ein immerwährender Prozess, da jede erreichte Qualität neue Möglichkeiten schafft, die Bedingungen weiter zu verändern. Revolution kann daher keinen einzelnen, zeitlich begrenzten Vorgang umfassen oder ist selbst nur Teil von mehr - quasi als besonders große Reform.
  5. Die "gute" Reform ist umgekehrt der Schritt zur Revolution, d.h. zur weitergehenden Veränderung. Denn emanzipatorisch sind Revolutionen und Reformen nur, wenn sie befreiend wirken. Viele Reformen solcher Art können der großen Revolution in der Wirkung gleich kommen. Revolution und Reform unterscheiden sich dann nur noch quantitativ - mit fließender Grenze. Es wird darauf aber auch nicht mehr ankommen. Das nicht endende Feuerwerk an emanzipatorischen Reformen ist die Revolution!

Weg und Ziel
So leidenschaftlich wie um Reform oder Revolution wird auch über Weg und Ziel gestritten. Zwischen den Polen, der Zweck heilige die Mittel oder der Weg sei das Ziel, finden sich verschiedene Facetten. Doch auch hier ist die Debatte müßig, denn ein Weg ohne Ziel hieße ein Voranschreiten ohne Richtung. Dann würde zwar nicht der Zweck die Mittel heiligen, sondern die Wahl der Mittel wäre egal, weil es kein Ziel gäbe, das als Maßstab dienen könnte.
Befreiung ist ein Prozess, aber die Befreiung ist auch das Ziel. Es ist nicht gleichgültig, welche Schritte begangen werden, sondern sie müssen dem Ziel entsprechen, d.h. einen emanzipatorischen Gehalt haben. Was passiert, wenn das vergessen wird, beweisen politische Bewegungen seit Jahrhunderten: Am Ende fügen sie den bestehenden Herrschaftsverhältnisse kleine Details hinzu, die aber selbst von den unverändert gebliebenen Verhältnisse geprägt sind und diese folglich eher unterstützen als in Frage stellen.

Die Debatte um Weg und Ziel zeigt den hohen Grad an Verwirrung und Richtungslosigkeit. Wer sich ohne Ziel auf den Weg macht, kann nur zufällig weiterkommen. Wer nur Ziele formuliert und sich nie auf den Weg macht, füllt Luftschlösser. Beides ist weit verbreitet.

Und immer dran denken: Eine Welt, in der viele Welten Platz haben ...
Alles Einheitliche lässt sich leicht beherrschen. Was einheitlich ist, bringt gleichförmige Diskurse, Deutungen und Handlungsmöglichkeiten hervor. Das bremst Weiterentwicklung aus - ob nun die Selbstentfaltung des einzelnen Menschen oder die Evolution der Gesellschaft. Darum lohnt eine Kultur der Vielfalt, die Streit als Produktivkraft entdeckt, Methoden der Kooperationsanbahnung und intensiven Kommunikation entwickelt, aber auf Hegemoniekämpfe und Steuerung von Diskursen verzichtet.

Einen romanhaften Entwurf dieser Vielfalt als praktischer Gesellschaftsentwurf bietet das Buch "bolo'bolo" von P.M. Hier leben Menschen ist sehr unterschiedlichen, kleinen und selbstversorgten Einheiten zusammen - aber immer offen nach außen.

Aus Gordon, Uri (2010): "Hier und jetzt", Nautilus in Hamburg (S. 73)
P.M. kommt zu dem Schluss, dass die meisten modernen Utopien tatsächlich totalitäre, monokulturelle Modelle darstellen, die um Arbeit und Erziehung kreisen. Das Welt-Anti-System hingegen, bolo'bolo genannt, ist ein Mosaik, zusammengesetzt aus rund 500 Gemeinschaften, von denen jede so selbstgenügsam wie nur möglich ist und vollkommen autonom darin, ihr Ethos oder ihre "Atmosphäre" (nima) zu definieren, sei es eine klösterliche, eine marxistische oder eine sadomasochistische.

Zum nächsten Text, dem dritten Text im Kapitel zu Strategien herrschaftsfreier Gesellschaft: Utopie und Skepsis

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