Alltagsalternativen

MODERNE FORMEN VON HIERARCHIE
FÜHRUNG IN HIERARCHIEKRITISCHEN GRUPPEN

Modern führen: Methoden für versteckte Dominanz


1. Einleitung
2. Modern führen: Methoden für versteckte Dominanz
3. Assimilieren - die sanfte Übernahme
4. Herrschen, ohne dass es jemand merkt: Instrumentalisierung
5. Kontrolle der Außenvertretung
6. Geschichtsschreibung als Herrschaft
7. Bewegungsagenturen und -kraken
8. Aufstehen!
9. Von Staat und Bewegungsoligarchen gefürchtet: Unberechenbarer Protest
10. Links zu Alternativen ...

Dieser Text beschreibt moderne Führungsmethoden in sozialen Bewegungen. Die Bedeutung dieser Betrachtung geht über die Binnensicht politischer Gruppen hinaus. Denn sie könnten Experimentierlabore für emanzipatorischen Wandel sein, d.h. sie haben potentiell eine Bedeutung als Praxis - sei es eine anarchistische oder eine andere mit befreiender Perspektive. Kommen sie dieser nicht nach, sondern streben nach modernen Organisierungsformen, die den Selbstzweck des Kollektivs (Verband, Partei usw.) und die innere Disziplinierung vorantreiben, so dienen sie sogar dem Gegenteil: Sie helfen bei der nötigen Modernisierung der Gesellschaft, durch soziale Innovation Herrschaftsstrukturen effizienter und stabiler zu gestalten.

Modernisierung der Hierarchien, zum Ersten: Herrschen, ohne aufzufallen
Die abnehmende Befürwortung offener Hierarchien und Fremdbestimmung hat in den vergangenen Jahrhunderten und vor allem Jahrzehnten in vielen Ecken der Gesellschaft zu einem Wandel von Mechanismen und Inszenierung der Macht geführt. Die alten, personalisierten und formalen Pyramiden gesellschaftlicher Steuerung und Gewalt sind Methoden gewichen, die durch schwer lokalisierbare und kaum spürbare Prozesse wirken: Bildung, Medien, Werbung, das öffentliche Gerede (siehe Kapitel zu modernen Hierarchien und informeller Steuerung in "Freie Menschen in freien Vereinbarungen"). Etliche Beherrschungs-, Legitimations- und Integrationstechnologien sind hinzugekommen, die autoritäres Handeln, Normierung, Privilegien und sich herausbildende Eliten verschleiern sollen. Auf allen Kanälen der Propaganda läuft die Einnordung allen Denkens auf die Akzeptanz des Guten: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Sie haben den Platz Gottes übernommen, der in den düsteren Phasen kirchlicher Dominanz als Quelle legitimer Macht inszeniert wurde.
Ein solcher Prozess hat auch in politischen Bewegungen stattgefunden. Er unterschied und unterscheidet sich von den gesellschaftlichen Modernisierungen nicht prinzipiell, wohl aber in den konkreten Ausformungen. Denn Menschen sind - anders als im Staat oder bei der Gültigkeit von Gesetzen - nicht zwangsintegriert und unterworfen, sondern müssen ihre Mitwirkung an den fremdbestimmten Handlungsformen vollständig als freiwillig und gewollt empfinden. Zudem sind in politischen Organisierungen, seien sie formaler Verband oder informelle Initiative, die handelnden Personen sichtbar oder schnell herauszufinden. Das macht andere Methoden der Beherrschung nötig, die aber gefunden wurden und werden. Dass sich dabei der eine oder andere Verband bzw. seine Führungselite als nicht flexibel genug herausstellte und im Zuge der Veränderungen hinweggespült wurde, ändert nichts daran, dass Modernisierungsprozesse von Herrschaftstechnologien auch in politischen Bewegungen ein Kontinuum sind. Schließlich ist auch das wie in der Gesellschaft: Altbackene Parteien oder Konzerne gehen unter, neue entstehen und integrieren die jüngeren Generationen auf ihre modernere Weise.

Im Ergebnis findet sich ein Nebeneinander absterbender und in Wandlung befindlicher Alt-Organisationen mit modernen Kampagnen und Organisierungen, die neue Strategien und Beherrschungstechnologien in Bewegungen einbringen, um dann zu einer dauerhaften Struktur zu werden oder von den wandlungsfähigen Dinosauriern der Zunft eingefangen, d.h. integriert oder aufgekauft zu werden. Es ist die "Zunft der Mitglieder- und SpendeneintreiberInnen" mit integrierter Jagd nach Medienaufmerksamkeit. Über Strukturen wird dort - auch mangels bestehender Kontakte zur Basis - gar nicht mehr geredet. So agierten die Vorbereitungsrunden zu allen großen Events der vergangenen Jahre ohne jegliche Legitimation. Sie waren einfach da und sicherten sich ihre Hegemonie durch das Einschwören auf eine vermeintlich gemeinsame Aktionslinie und die Stellvertretung gegenüber Behörden und Medien. Gepaart wird dieses oft mit basisdemokratischem Schein. Doch glaubt wirklich jemand, dass die erst kurz vor Aktionsbeginn gebildeten und über alle wichtigen Sachen (Pressearbeit, Außenvertretung, Materialbestand, Kommunikationsflüsse, wichtige Telefonnummern usw.) gar nicht informierten Bezugsgruppen entscheidend sind? Wer an Schalthebeln sitzt, bleibt den MitläuferInnen meist unbekannt. Oft wollen die das gar nicht genauer wissen. Vielmehr gehört zum ständigen Ritual heutiger Organsierungen und Mobilisierungen, dass sich die im Hintergrund Fäden ziehenden Eliten in der großen Runde Dank und Anerkennung für ihre aufopferungsvolle Rolle einholen, als die sie ihre Hegemonie verkaufen.

Im Original: Beispiel: X1000mal quer und Ableger
Aus Mathias Edler (2001): Demonstranten als "Staatsfeinde" - "Staat" als Feindbild?", Alte Jeetzel-Buchhandlung (S. 120). Edler war bei Erscheinen des Buches Sprecher der BI Lüchow-Dannenberg
"X-tausendmal-quer" bildet die vielleicht extremste Form der Inszenierung von Widerstand, die das Wendland bisher erlebt hat - und die wiederum eine Inszenierung von rechtsstaatlichem Verhalten auf Polizeiseite zur Folge hat, bis der Castor-Fahrplan durch die Aktion in Gefahr gerät. Widerstand wird zum vorher in "gewaltfreien Trainings" eingeübten Rollenspiel, in dem jeder seine feste Rolle - nicht mehr und nicht weniger - zu bekleiden hat.

Text sowie Interviewauszüge mit Jochen Stay über X-tausendmalquer im Interview mit Mareike Korte (Diplomarbeit von 2008 "Medienstrategien von Protestbewegungen" (S. 43 f. und 100)
Es gibt einige konkrete Strategien im Umgang mit Medien, die gezielt angewandt werden, um eine möglichst intensive Berichterstattung zu erreichen. Zu einen ist dies die Konzentration auf bestimmte Personen, die im Fokus der Pressearbeit stehen, diese Strategie beinhaltet aber auch Widersprüche zum eigentlichen gesellschaftspolitischen Anspruch: "Also, ich glaube, beispielsweise war eine sehr wesentliche Entscheidung, die wir irgendwann getroffen haben, diesem Medienmechanismus, der gerne Personalisierung will, [...] dem entgegen zu kommen. Zum Beispiel einfach, indem man Pressesprecher benennt und in Presseerklärungen Namen reinschreibt. ‚Der sagte, dass...’ und so weiter. Dass das auch nicht immer rotiert, sondern dass das möglichst kontinuierlich gleiche Personen sind. Das widerspricht [sich] ja eigentlich erst mal, wenn man sagt, man will relativ egalitär arbeiten [...]. Da haben wir an der Stelle aber gesagt, uns ist es [...] wichtiger, dass wir mit dem, was wir zu sagen haben, möglichst gut [...] wahrgenommen werden in den Medien." ...
Für die untersuchten Kampagnen und ihre Zielsetzungen spielen Medien eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund passen sie sich, um von den Medien berücksichtigt zu werden, an bestimmte Funktionsweisen der Medien an. Die Beschränkung auf wenige Personen, die gegenüber den Medien sprechen – auch als Personalisierung bezeichnet – ist eine dieser Anpassungen an Medienfunktionsweisen. Dies ist ein Kompromiss, der zu Lasten der emanzipatorischen Ansprüche von Nicht-Hierarchisierung und Aktivierung der Kampagnen geht. Er hat zur Folge, dass die Darstellung in den Medien oft den emanzipatorischen und antihierarchischen Charakter der Kampagne nicht wiedergibt und teilweise sogar Personen ausmacht, die die Proteste „anführen“.



Ohne Wort: Aus einem Massenbrief von Jochen Stay am 25.11.2009

Schilderungen vom Camp "Rebellisches Zusammenleben" im Juli 2012
Eklat und Machtdurchgriff schon im Vorfeld: Die Workshops "Freie Menschen in freien Vereinbarungen", "Demokratiekritik", "Den Kopf entlasten" und eine Direct-Action-Einführung wurden angemeldet und landeten zunächst auch auf der Internetseite. Aus der Orga-Gruppe wurde sogar noch um einen weiteren Beitrag (Ton-Bilder-Schau "Monsanto auf Deutsch") gebeten. Dann schweigen. Plötzlich und ohne jegliche Kommunikation verschwanden die Workshops aus dem Programm im Internet. Der Referent fragte nach. Daraufhin kam die Ausladung: Er sei auf dem Camp nicht erwünscht. Als sich TeilnehmerInnen beschwerten, dass die Workshops gestrichen wurden, inszenierten sich die ZensiererInnen als Opfer: Nicht ihr Machtdurchgriff, sondern die Kritik daran sei unsolidarisch. Der Mailwechsel (alle Auszüge, soweit zum Thema):

Mail am 25.06.2012 an das Orga-Team
ich würde gerne vom 25. abends (da tagsüber noch ein Strafprozess in
Lüneburg) bis Ende 28. aufs Camp kommen und hätte folgende
Workshopsideen (plus weitere Ideen, falls Ihr das für passend
haltet) für jeweils 2-3 Stunden Dauer.
Die drei Workshops, die ich gern machen würde:
1. Demokratie. Die Herrschaft des Volkes. Eine Abrechnung ...
2. Freie Menschen in Freien Vereinbarungen: Grundlegungen für eine
herrschaftsfreie Welt ...
3. Den Kopf entlasten: Kritik anti-emanzipatorischer Positionen in
politischen Bewegungen ...
Soweit die drei Workshops.
Wenn Interesse besteht, kann ich zum einen auch noch was zu
kreativen Aktionsformen (Einführung in Direct-Action u.ä.) oder auch
einen Beitrag zum Nachprogramm bieten, z.B. eine der
Ton-Bilder-Schaus "Monsanto auf Deutsch" oder "Fiese Tricks von
Polizei und Justiz". Text könnte ich bei Interesse zuschicken.
Ich freue mich auf Rückmeldung.

Mail am 5.7.2012 vom Orga-Team
Deine drei Workshops habe ich in die Ankündigung aufgenommen. Wie weit Interesse an weiteren Workshops o.ä. besteht, wird sich letztendlich auch vor Ort zeigen. Das Programm entwickelt sich ja auch von Tag zu Tag nach Interessenlage.
Was mich allerdings gerade noch sehr interessiert ist: Was ist denn die Ton-Bild-Schau "Monsanto auf Deutsch"? Gerade zu dem Thema gab es schon Nachfragen....

Mail am 14.7. an das Orga-Team:
Hallo, ich bin grad wieder auf Eurer Seite gewesen, weil ...
Bei der Gelegenheit fiel mir auf, dass nur noch einer meiner Workshops in der Workshopliste steht. Hat das was zu sagen?

Mail am 20.7.2012 aus dem Orga-Team
hiermit möchten wir dich bitten, nicht zum Rebellischen Zusammentreffen ins Wendland zu kommen. Einige Menschen aus dem Vorbereitungskreis finden das nicht gut, dass du dort auftauchst und Workshops gibst bzw. an andern Workshops teilnimmst. Dein Verhalten wird von Menschen als autoritär, anmassend und unsolidarisch empfunden.
Grüsse, Menschen aus der Vorbereitungsgruppe.

Eintrag auf der Internetseite am 23.7.2012 (unter Kontakt und Anmeldung, vorher wurde - ungefragt - eine Beschwerde einer Teilnehmerin über das Verbot der Workshops auf die Seite gesetzt):
seit einiger zeit diskutieren wir sehr intensiv genau über dieses problem. wir machen es uns sicher nicht leicht damit, denn ausschluss ist kein gutes mittel. allerdings steht auch in unserer einladung, dass wir einen gleichberechtigten und respektvollen umgang miteinander wollen. es gibt in der vorbereitungsgruppe einige, die schon ihre erfahrungen mit jörg b. gemacht haben.
die erfahrung ist, dass jörg menschen mit anderen ansichten anbrüllt, sehr dominant und autoritär ist und nicht bereit, mit kritik konstruktiv umzugehen. respektvoll und gleichberechtigt ist das nicht.
es gibt menschen, die nicht mehr bereit sind, sich von ihm persönlich angreifen zu lassen.
sicher kann mensch jetzt das kriegsbeil ausgraben und böse werden. es gibt aber auch die möglichkeit, mal drüber nachzudenken, ob an der kritik (die wirklich nicht nur von menschen aus unserem vorbereitungskreis geäussert wird) vielleicht etwas dran ist.
zu unserer mail nochmal: es war eine BITTE, nicht zu kommen. und wir finden es nicht toll, wenn welchen von uns unterstellt wird, dass sie sich nicht genügend auseinandergesetzt haben ( und deswegen eine mediation nicht schlecht wäre) oder gefordert wird, dass sie ihm ausweichen. wie soll das denn gehen: menschen, die das Rebellische vorbereiten, sollen sich ducken und ausweichen? was wäre das denn für eine situation? für uns ist es äusserst wichtig, dass auch leute, die nicht so eloquent sind, sich nicht gut durchsetzen können und nicht selbstsicher bis zur selbstgerechtigkeit sind oder widersprüche haben, zeit und raum haben, ihre gedanken zu formulieren. wir dürfen fehler machen und auch mal was falsches sagen, ohne gleich den verbalen knüppel übergebraten zu kriegen.
Wenn einer menschen verletzt, und das immer wieder seit langer zeit, muss er eben auch das echo vertragen. sprich die ansage, dass wir das nicht wollen. schade zwar, aber so isses. und auch diese entscheidung sollte respektiert werden, ohne denunziatorisch zu werden (heckenschützen z.b.).

schöne grüsse eine aus der vorbereitung

So ging es ins Camp. Der Ausgeladene kam trotzdem, ein Eklat unterblieb. Seine Anwesenheit wurde ebenso geduldet wie die Workshops, die überwiegend gut besucht und intensiv waren.

Während des Camps wurde der Ausschluss kaum thematisiert. In einem Plenum fragte jemand nach, was mit dem Vorgang sei. Die Orga-Gruppe gab bekannt, dass sie die Situation dulde, solange es zu keinen Beschwerden käme. Mehr erläutert nicht, auch ein Grund wurde hier nicht genannt.
Laut Aussagen verschiedener TeilnehmerInnen, die nachfragten, äußerten sich nur in einem Fall Orga-Mitwirkende dahingehend, dass es um eine Beleidigung ginge. Der Ausgeschlossene hätte vor einiger Zeit Elitenstrukturen kritisiert - sowas rechtfertigt also offenbar Ausschlüsse.

Das Camp selbst wurde unabhängig davon zu einem Paradebeispiel für moderne Steuerung, Inhalts- und Aktionsleere. Von "rebellisch" war nichts zu erkennen.
Beispiel Plenumssprüche im Wir-Stil: Orga-Leute erklärten, wofür das Camp steht. Orga an TeilnehmerInnen: "Ich glaube, zu hören ist wichtiger als zu reden erstmal" und "Wir wollen ein liebevolles, demokratisches Miteinander." Am Camp-Eingang hing noch das Schild "Sie verlassen den demokratischen Sektor" ... Als Vorbildstier wurde, durch eine Geschichte der Zapatistas präsentiert, der Maulwurf angeboten - im Gegensatz zum Löwen. Der Maulwurf war das Bild des Guten, weil er blind ist und nur nach Innen schaue. Der Löwe war der Inbegriff des Bösen. So einfach ist die Welt ...

Auf dem Samstagsplenum (28.7.) benannten Orga-Leute Details für einen Ausflug am Folgetag. Das Camp solle vor die Tore des Erkundungsbergwerkes zum Atom-Endlager Gorleben verlegt werden. Es sollte so an der Blockade teilnehmen. Um 15 Uhr (!) sollte es per Bus dorthin gehen. Es meldete sich eine Person und fragte, ob es nicht schon um 13.30 Uhr möglich sei, denn dann würde dort der Sonntagsspaziergang der Bürgerinitiativen stattfinden. Antwort aus der Orga: "Dann wären wir neun Stunden da, das ist zu viel". Eine Rückfrage ins Plenum erfolgte nicht. Stattdessen wurde sofort gefragt, wer um 15 Uhr mitwolle. Viele wedelten mit den Händen. Niemand achtete auf den Alternativvorschlag von 13.30 Uhr. Per Wedeln war 15 Uhr durchgesetzt - geräuschlos.

Geld, so die Logik, schaltet Atomkraftwerke ab. Den reich gewordenen Ex-Umweltbewegten dürfte das gefallen. Denn Aktion ist nicht mir ihr Ding, Geld aber haben sie.

In den Propagandaschriften wird dennoch Herrschaftsfreiheit suggeriert. Zwar haben die Basis- und Bezugsgruppen kaum Informationen udn wenig zu sagen, aber "in unserer Zusammenarbeit versuchen wir, hierarchiefreie Strukturen zur Anwendung zu bringen, d.h. wir werden nicht nach dem Mehrheitsprinzip, sondern nach dem Konsensprinzip entscheiden" (aus dem Faltblatt "Castor 2010": Aktionskonsens (S. 2)). Der Trick ist gut. Was schön klingt, ist gefestigte Macht. Wer in Eliten einfach entscheidet und macht, der Basis aber den Konsens verordnet, sichert sich bei internen Machtkämpfen doppelt ab: Erstens fällt alles nicht so auf, zweitens ist die Basis durch den Konsenszwang stark geschwächt, gegen die eigene Elite handeln zu können. Vorgaben von oben ließen sich nur ändern, wenn niemand dagegen stimmt. Solche Einstimmigkeit werden Eliten zu verhindern wissen, wenn es drauf ankommt.
Wie das praktisch aussieht, zeigte das Vorbereitungscamp im Sommer 2010 im Wendland. Per Veto durch den informellen Führer Jochen Stay wurde sowohl die gleichberechtigte Mitwirkung der BI Lüchow-Dannenburg nach dem Motto "Keine Nebenkönige!" verhindert als auch Workshops zu Kleinaktionen aus dem Programm gestrichen. Ziel war, die TeilnehmerInnen absichtlich blöd zu halten, um sie zum Mitmachen an der zentral geplanten Sitzblockade zu bringen.

Zum Zweiten: Kommunikation als Einbahnstraße im Gewand des Dialogs
Es gibt in den modernen Organisationen kaum noch Orte, an denen überhaupt noch über Fragen der Organisierungsform gestritten wird könnte. Die alten Verbänden hatten dafür Mitgliederversammlungen vorgesehen. Die waren zwar hochvermachtet und für einzelne Mitglieder kaum beeinflussbar. Aber die Konkurrenzen zwischen den formalen MachthaberInnen und Strömungen in den Verbänden schufen Streit und boten dadurch Spielraum für ein Ringen um Veränderungen.
Nicht so bei den modernen Netzwerken, Bewegungsagenturen und Kampagnen - sei es nun die Interventionistische Linke, die Teilorganisationen im ZUGABe-Netzwerk oder Delegiertensysteme in Themenkampagnen. Alle Kommunikationssysteme sind hier in der Hand Weniger, die kaum noch lokalisierbar sind.

Beispiele:
  • Ein kritischer Blick auf die Internetseiten von X-1000malquer und Gendreck-weg brachte - zumindest 2008 bis 2012 - schon erste Erkenntnisse: Beide Aktionen, die mit den klassischen Attitüden gewaltfrei, basisdemokratisch usw. die Nebelwurfmaschine kräftig anwerfen, um die internen Strukturen unsichtbar zu machen, bieten keine einzige (!) Kommunikationsform der Beteiligten untereinander an. Der Klassiker heutiger Mobilisierungen, die offene Mailingliste, fehlt bei beiden völlig. Alles ist kontrolliert und Einbahnstraßen-Kommunikation. Warum fällt das niemandem auf? Vielleicht weil hier zusammengewachsen ist, was zusammen gehört? Eliten und MitläuferInnen? Die Organisierung nach Methode der Schafherde? Von allen Seiten so gewollt?
  • PressesprecherInnen bei linksradikalen Camps sind in der Regel Personen mit Kunstnamen. Kaum jemand weiß dann noch, wer da für das Camp spricht. Was egalitär wirkt, ist tatsächlich eine vollendete Vereinnahmungsstrategie: Sprechen für ein Kollektiv, ohne überhaupt noch von dessen Angehörigen bemerkt zu werden. Das Kollektiv wird hinter seinem Rücken geformt.
  • Bei der Gendreck-weg-Aktion in Badingen 2006 war selbst der Pressegruppe nicht einmal bekannt, dass sich für die Massenaktion (für eigenständige Aktionen wurde ohnehin nirgends geworben) eine kleine Kungelgruppe gründete, die alles vorbereitete. Sie bestand "zufällig" aus den FunktionärInnen, die auch bei X-1000malquer und anderen Aktionen dieser Art solche Führungsgruppen bilden.
  • Bei einem Treffen des Netzwerks gewaltfreier Kampagnen im Januar nahe Kassel sollte über den Umgang mit "(noch) nicht gewaltfreien" Gruppen diskutiert werden. Damit das reibungslos im Sinne der Eliten ablaufen konnte, wurden zwei Personen aus solchen Aktionsgruppen ausgeladen. Darüber wurde nicht einmal in der Vorbereitungsgruppe diskutiert. Es geschah einfach. Wer genau im Hintergrund die Fäden zog, blieb intransparent.

Und zum Dritten: Suggestion von Mitbestimmung und Pluralität
Keine moderne Herrschaft kann bestehen, wenn es ihr nicht gelingt, sich selbst als das Gegenteil zu inszenieren. Denn das Moderne an ihr ist ja, dass sie auf sichtbar autoritäre Züge weitgehend verzichtet. Stattdessen gelingt ihr, Unterstützung bei den Geführten oder Vereinnahmten einzuwerben durch den Anschein, dass alles ein gemeinsamer Wille und ein gemeinsames Projekt ist. Dafür notwendig sind Dialoge, die Meinungen einbinden, ohne sie unkontrolliert wirken zu lassen. Opposition wird assimiliert, weg-moderiert, eingebunden in weitgehend wirkungslose Diskussionszirkel, gerennt von Debatte und Realpolitik.
Die Eliten, die auf vereinheitlichtes Verhalten oder auf vereinnahmbare Aktionsvielfalt aus sind, stellen Projekte, Aktionen und Kampagnen nicht als ihr Werk, sondern als gemeinsame, viel Vielen getragene Sache dar. Abweichung verliert seine Spürbarkeit.

Ein beeindruckendes Beispiel, zudem eines der ersten in dieser Größe und durchgreifenden Wirkung, war der Protest gegen den G8-Gipfel in Rostock. Statt den üblichen Grabenkämpfen einigten sich die Eliten sonst sehr unversöhnlicher Bewegungsteile (z.B. Kirchen und autonome MarxistInnen) auf ein gemeinsames Programm. Linken und aktivistischen Zusammenhängen gelang es, die Reste unberechenbarer Aktionsgruppen in große Kampagnen einzubinden oder auszugrenzen. Dabei war die Ankündigung noch ganz anders: Es sollten "die Möglichkeiten und die Kräfte der Veränderung in der Aktion sichtbar werden".

Aus der Mobilisierungsseite zur 2. Aktionskonferenz in Rostock zum G8-Gipfel
Nach den bisherigen Planungen, wie sie auf der Rostocker Aktionskonferenz im März 2006 diskutiert worden sind, soll es nicht beim Pflichtprogramm Großdemonstration, Gegengipfel und Kulturevent bleiben. Die Perspektive vieler sind kraftvolle Tage des Widerstands, bei denen mit der Kritik der G8 und der bestehenden Weltordnung, auch gleichzeitig die Möglichkeiten und die Kräfte der Veränderung in der Aktion sichtbar werden. In diesen Zusammenhang gehören der migrationspolitische Aktionstag, das Camp – und eine Aktionsperspektive, die es noch zu füllen gilt: Blockade der G8!

Stattdessen aber setzte sich eine Zuspitzung auf eine große gemeinsame Aktion durch, durch die eine "möglichst kalkulierbare Situation geschaffen werden" sollte. Es ging um "Kollektivität vieler". Die Kontrolle verkaufte sich als freundliche Sorge, in dem "eine politische und praktische Verantwortung für den Ablauf der Blockaden übernommen" werde.

Einheitliche Aktion statt Vielfalt
Aus der Mobilisierungsseite zur 2. Aktionskonferenz in Rostock zum G8-Gipfel
Unser Ziel sind Blockaden, an denen sich tausende von Menschen aus unterschiedlichen politischen und kulturellen Spektren und unterschiedlicher Aktionserfahrungen beteiligen, die sich in den Aktionen nicht nur gegenseitig respektieren und tolerieren, sondern tatsächlich zum gemeinsamen Handeln finden. Dazu braucht es keine Helden , sondern den Mut, der aus der Solidarität und Kollektivität vieler entsteht. Unsere Aktionsplanungen orientieren sich daher gerade nicht an den Bedürfnissen der vermeintlich Entschlossensten und Radikalsten.
Vielmehr soll eine möglichst kalkulierbare Situation geschaffen werden, in der Entscheidungsstrukturen transparent sind, die Grenzen aller respektiert werden und eine politische und praktische Verantwortung für den Ablauf der Blockaden übernommen wird. Wir sind der Überzeugung, dass dies die Voraussetzung dafür ist, dass sich tatsächlich tausende von Menschen unterschiedlicher Hintergründe aktiv beteiligen. ...
Dieser Aufruf hat zunächst nur die Aufgabe, unsere bisherigen Überlegungen zu Massenblockaden vorzustellen. Wir würden uns freuen, wenn an möglichst vielen Orten in den nächsten Wochen und Monaten Blockadegruppen entstehen würden, die sich vorstellen können, an solchen Massenblockaden teilzunehmen Mit einer gemeinsamen „Blockade on Tour“ Rundreise ab dem Herbst wollen wir diese Gruppenbildungen unterstützen. Wir hoffen, dass dann viele dieser Blockadegruppen und sonstigen Zusammenhänge sich auf der Internationalen G8-Aktionskonferenz vom 10.-12. November 2006 zusammenfinden werden und ein gemeinsames Blockadenetzwerk ins Leben rufen.
Antifaschistische Linke Berlin; Avanti – Projekt undogmatische Linke; Grüne Jugend (Bundesvorstand), X-tausendmal quer, sowie AktivistInnen aus: Attac, Solid und der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion 


Das Konzept gelang - zumindest aus dem Blickwinkel des Ziels, eine Einheit zu schaffen und (fast) alle Menschen als große Herde zusammenzuführen. Unter Einsatz erheblicher Ressourcen (Medien, Treffen, TrainerInnen und Dominanz in Camps bzw. Plena) entstand eine Aktion, die als Aktion durchaus Erfolge erzielte, aber hinsichtlich des Selbstorganisierungsgrades sehr niedrig lag. Die Wirkung über den Aktionstag hinaus ließ sich absehen: Die Bewegungseliten priesen sich selbst als HeldInnen, erzielten Medienaufmerksamkeit, rekrutierten Mitglieder und sammelten Spenden. Doch die herbeiphantasierte Belebung der Bewegung blieb aus. Überraschen konnte das nicht. Wer Menschen entmündigt, macht sie zu Angehörigen einer Herde, nicht zu einer Vielfalt selbständig aktionsfähiger Individuen, Zusammenschlüsse und Kooperationen.
Das Selbstorganisierungsdesaster von Rostock verwundert hinsichtlich seiner allgemeinen Akzeptanz und unkritischen Übernahme auch deshalb, weil viele Jahre vorher im Castorwiderstand ein anderes Aktionskonzept gewählt wurde und seit Jahren zeigt, dass es anders geht und wirksamer ist: Das Streckenkonzept. Es sollte Vereinheitlichung überflüssig machen und eine Vielfalt schaffen - was auch gelang. Den Bewegungseliten mit ihrem ständigen Anspruch, Menschen zu Rädchen ihrer Ideen zu machen, scheint das nicht zu gefallen ...

Erinnert sei an den Spruch aus dem zapatistischen Widerstand in Chiapas (Mexico), auf den sich viele soziale Bewegungen auch hierzulande positiv bezogen haben. Sinngemäß hieß es: "Für eine Welt, in der viele Welten Platz haben". Dieser Zielsetzung werden sowohl politische Ziele wie auch Organisierungskonzepte sozialer Bewegungen regelmäßig nicht gerecht. Gefordert wird mehr Einheit, mehr Handlungsstärke zentraler Strukturen wie dem (National-)Staat oder globaler Institutionen. Gleichzeitig werden intern einheitliche Aktionsformen durchgesetzt statt Vielfalt organisiert und gefördert.

Noch ein Viertes: Privilegien und Zugang zu Wissen/Ressourcen
Wissen ist Macht - das wissen auch die Eliten der Bewegungen. Sie brauchen keine formalen Hierarchien, nicht einmal die Tricks der Verhandlungsführung in den egalitär wirkenden Plena und konsensualen Debatten. Sie benötigen nur das für die Durch- und Umsetzung von Ideen und Themen nötige Wissen: Adressen, Pressekontakte, Zugang zu materiellen und finanziellen Ressourcen usw. Sind die ungleich verteilt, entstehen Privilegien. Das ist regelmäßig der Fall. Meist wird das einfach vertuscht, ab und zu aber sogar begründet, z.B. mit vermeintlichen Gefahren.

Im Original: Geheimdiplomatie?
Text von Jörg Djuren aus der Graswurzelrevolution Oktober 2005 (S. 18)
Eine der zentralen Forderungen alter Revolutionen war die Aufhebung der Geheimdiplomatie
Eine Forderung, die nie umgesetzt wurde und an deren Nichtumsetzung u.a. die Revolutionen gescheitert sind. Informationsmonopole, das Beschränken von Informationen auf bestimmte In-Gruppen, sind insbesondere in informellen Strukturen der anarchistischen und autonomen Linken ein oft genutztes Mittel zur Durchsetzung von Entscheidungen und zum Aufbau informeller Hierarchien.
In der BRD gibt es nur wenige Bereiche, in denen auf Grund der realen Repression eine solche Geheimhaltung notwendig ist (also dort, wo Dritte betroffen sind, bei der Arbeit im Ermittlungs-Ausschuß, bei der direkten Soli-Arbeit für Illegalisierte, usw.). Im Regelfall ist die Geheimhaltung aber sogar unter Sicherheitsgesichtspunkten eher kontraproduktiv, macht sie doch die klandestin organisierten Gruppen zur idealen Projektionsfläche der Medien und der Spitzelbehörden für alles Böse auf der Welt. Und vereinfacht so ihre Kriminalisierung. Außerdem schafft sie auf Grund des nicht mehr offen mit einander Umgehens/Sprechens eine Situation, in der es Spitzelbehörden und Spitzellinnen leicht gemacht wird, Gruppen zu zerstören, indem Personen durch gezielt gestreute Halbwahrheiten und Fehlinformationen gegeneinander ausgespielt werden. Zumindest werden die Gruppen dazu gebracht, sich primär mit sich selbst zu beschäftigen. Die größte Sicherheit gegen staatliche Repressionen bildet ein offener Umgang untereinander und eine Öffnung nach Außen, was auch den offenen Umgang mit Konflikten beinhaltet.
Ich rede hier nicht vom Verhalten in laufenden Ermittlungsverfahren, hier gilt immer: keine Aussage machen, zumindest nicht ohne Anwältln und Rücksprache mit der eigenen Gruppe. Dies ist aber die Ausnahme und nicht der politische Alltag.
Mir geht es hier um die Paranoia, die zum Teil aus der Computer- und Hackerszene in die Linke rüberschwappt und als Aspekt des sich Wichtigmachens über Geheimhaltung („Ich weiß was, was Du nicht weißt - Ätsch -!“) schon länger Element der link(sradikal)en Szene ist. Wieso soll ich meine Email unleserlich machen oder meinen Namen geheim halten, ich tue schließlich das Richtige als Anarchist, die SpitzelInnen sollen gefälligst unter ihren Abtretern bleiben und am besten auch dort verschwinden. Die Entwicklung von link(sradikal)er Politik hin zu politischem Klappensex halte ich für fatal. Das bewußte Besetzen öffentlicher Räume ist ein wesentlicher Bestandteil der Durchsetzung von politische Anschauungen. Die lesbische und die schwule Szene haben wesentliche politische Erfolge ihrem offensiven Coming Out zu verdanken. Wenn Link(sradikal)e heute den umgekehrten Weg gehen und beginnen, sich auf dem Klo zu verstecken, werten sie damit nicht nur sich selbst und ihre Position ab, sie werten auch die SchnüfflerInnen und andere Büttel der verschiedenen Repressionsdienste symbolisch auf.
Freiräume, die ich nicht nutze, werden eingeschränkt. Die unnötige Selbstzensur innerhalb der Linken durch Anonymisierung in Bereichen, wo dies nicht nötig ist, befördert die Repression.
Geheimhaltung und Informationshierarchien produzieren innerhalb einer Gruppe autoritäre Strukturen, und die paranoide Abschottung nach Außen („Feindesland“) produziert sektenähnliche Gruppenstrukturen.

Wie wichtig den Eliten die Frage der Wissenskontrolle ist, zeigte der Versuch einer offenen Presseplattform. Er gelang erfolgreich 2002 bei den Protesten gegen die NATO-Sicherheitskonferenz in München, scheiterte ab dann aber durch Verbote seitens linker Führungskreise im Folgejahr bei gleichem Anlass und beim Castor-Widerstand. Die ursprüngliche und 2002 auch so umgesetzte Idee war die der entpersonalisierten Vermittlung direkter Kontakte zwischen Aktionsgruppen und JournalistInnen. Dieses geschah über sein Suche/Biete-Pinnbrett in einem festen Raum und im Internet, eine eingeladene unmoderierte Pressekonferenz als Begegnungsraum zwischen JournalistInnen und Aktionsgruppen sowie ein Presse-Arbeitstisch mit Faxverteiler und Telefonummern. Durch die öffentliche Zugänglichkeit dieses Wissens verschwanden Privilegien. Im Ergebnis waren 2002 verschiedene Aktionsgruppen mit zum Teil deutlich radikaleren Positionen in den Medien zu finden als in den darauffolgenden Jahren. Die Folge: NGO- und linke Eliten dafür sorgten, dass unabhängige Aktionsgruppen in politischen Zentren der Stadt keine Handlungsmöglichkeit mehr hatten. Ebenso verhinderten linksradikale Szenefürsten in Lüneburg 2003 die Verwirklichung dieser Idee.

Um die eigene Führungsposition zu behaupten, wird politische Einmischung als kompliziert und schwierig beschrieben. Basisprotest hätte wenig Sinn. Im Leitfaden "Gegen die Errichtung von Massentierhaltungsanlagen" schreibt z.B. der BUND, dass Planverfahren von Tierställen zwar keine formalen Eingriffsmöglichkeiten bieten, aber trotzdem nur das versucht werden sollte - eine Anleitung zur Ohnmacht.

Bei der Genehmigung derartiger Anlagen gibt es in aller Regel weder einen Ermessensspielraum noch die Möglichkeit direkter politischer Beeinflussung. Zwar hängt die Ansiedlung einer solchen Anlage auch davon ab, ob sich beispielsweise die Gemeinde oder die Landesverwaltung dafür oder dagegen aussprechen. Allerdings besteht in den Genehmigungsverfahren grundsätzlich ein durchsetzbarer Rechtsanspruch eines potentiellen Betreibers, wenn die geplante Anlage die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt. Dies bedeutet: Beim Kampf gegen Massentierhaltungsanlagen kommt es vor allem auf fachlich qualifizierte Stellungnahmen an, die in den meisten Fällen nicht ohne Zuhilfenahme von Fachleuten erarbeitet werden können. (S. 5) ...
Bei der Frage, ob sich Anwohner gegen die Genehmigung einer Tierproduktionsanlage wehren können, kommt es zum einen darauf an, ob die Anlage tatsächlich alle Genehmigungsvoraussetzungen erfüllt, zum anderen aber auch darauf, ob verletzte Rechte von den Anwohnern überhaupt ins Spiel gebracht werden können. (S. 13) ...
Wichtig für die Organisation des Protestes ist eine zentrale Anlaufstelle. (S. 15)


Fünftens: Aus der Vielfalt eine homogene Masse machen
Menschen sind unterschiedlich. Das könnte in einer Kooperation der Vielfalt, in einer Welt, in der viele Welten Platz haben, viele Vorteile bringen - für das Gemeinsame und auch für alle Einzelnen. Doch Herrschen lässt sich leichter, wenn die Vielen zu einer möglichst homogenen Masse verschmelzen. Das lässt sie verdummen von willigen Mitläufer*innen ...

Aus Julian Nida-Rümelin/Nathalie Weidenfeld, "Die Realität des Risikos" (S. 87f)
So konnte etwa der Psychologe Solomon Asch anhand seines 1951 durchgeführten »Konformitätsexperiments« feststellen, dass sich zwei Drittel der Probanden jeweils der Mehrheitsmeinung anschlossen, und das, obwohl ihre Entscheidungen sichtlich falsch waren. Zum Glück ging es in seinem Experiment nur um die Einschätzung der Länge von Linien, doch Asch konnte mit seinem Studiendesign auf das generelle Verhalten von Menschen schließen, die leider nicht nur gemeinsam über die Länge von Linien zu urteilen haben, sondern auch über wichtige politische Entscheidungen.
Wenn sich die Kommunikation zwischen den Anhängern gegensätzlicher Auffassungen in diskursiven Gemeinschaften wie den sozialen Medien abspielt, wird ein solcher Mechanismus nur noch verstärkt. Eine derart diskursive Abschottung ist heute in weit höherem Umfang möglich, als dies vor der Entstehung der Internetkommunikation der Fall war. Eigene Publikationsorgane in Print- und Rundschreiben konnten sich in früheren Zeiten nur mühsam gegen Massenmedien behaupten. Unterdessen ist es recht einfach geworden, Gruppen zu bilden, deren Zugehörigkeiten durch geteilte Überzeugungen bestimmt sind. Innerhalb dieser Filterblasen der sozialen Medien wirkt sich der Konformismus in Form ideologischer Abschließung aus, das heißt, kritische Einwände kommen erst gar nicht mehr ins Bewusstsein.


Extraseiten zu Individuum und Masse

Das ist noch lang nicht alles ...
Es gibt eine Menge sehr perfider Methoden, Prozesse und Gruppen zu steuern. Einige davon werden sogar mit dem Argument vorgeschlagen, dadurch Gleichberechtigung zu schaffen. Dazu gehören:
Genauere Kritiken und Vorschläge zur Verbesserung dazu auf Extraseiten (Begriffe anklicken).

Das Sechste in der Hinterhand behalten: Formale Macht
Sei es aus mangelndem Vertrauen zu den noch recht neuen Methoden moderner Führung oder als zusätzliche Absicherung: Die klassischen Handwerkzeuge der Macht bleiben erhalten. Spürbar werden die spätestens, wenn moderne Machtmittel hinterfragt werden. Wer das tut, gerät schnell unter Druck. Reichen die diskursiven Steuerungsmittel nicht, kommt der Knüppel: Rauswürfe, Verbreitung von angstmachenden Gerüchten usw. über die missliebigen Personen oder Gruppen sind schnell an der Tagesordnung. In der Regel reicht das hinten rum, d.h. die Masse der MitläuferInnen bekommt von den Ellbogeneinsätzen wenig mit.

Im Original: Ausgrenzung praktisch
Wartelisten statt Selbstorganisierung
Am 27.8.2011 druckte die FR auf S. 21 ein Interview mit der "Ökobuch"-Schreiberin Charlotte Roche (Sexbücher "Feuchtgebiete" und "Schoßgebete") ab. Die berichtete dort, sich auch für den Umweltschutz zu engagieren. Im Original: "Ich wollte mich jetzt auch anketten in Gorleben, gegen das Atomzwischenlager. Hab ich hingeschrieben, an die Organisatoren. Klar gerne, in zwei Jahren, war die Antwort. Die haben eine Warteliste, und ich muss mich wie alle anderen hinten anstellen".

Rauswurf der Projektwerkstatt aus dem Email-Verteiler der deutschsprachigen Infoläden (eigenmächtig durch Infoladen Bielefeld, unterstützt dann aber durch weitere Infoladen, siehe folgende Mail an die Projektwerkstatt-Mailadresse ca. Ostern 2002 - voraussichtliche AbsenderInnen sind die Führungseliten der jeweiligen Infoläden, aber die zeichnen gerne im Namen des Ganzen):
Liebste Projektwerkstatt!
Wen zum Teufel interessiert Eurer Kram? Was habt Ihr auf dieser Mailinglist zu suchen? Meint Ihr den Quatsch ernst? Warum reden Leute von Euch mit den Kieberern? Eigentlich haben wir massenhaft Fragen an Euch, aber wenn wir ehrlich sind, dann möchten wir keine Antworten haben. Schleichts Euch aus dieser Mailing-List.
Infoladen 10 Wien


hallo,
so langsam reichts, die infoladen mailinglist hat eine klare funktion (siehe e-mail 18.5.01), das beinhaltet nicht das, was du da immer rumschickst. wir haben kein interesse an dem ganzen zeug. richte dir doch bitte eine eigene liste ein.
vielen dank
schorsch /il ffm


Ausgrenzung und Herrschaftsvokabular
Auszüge aus Rechtfertigungstexten nach einem Ausschluss einer Person von einer Anti-Atom-Antirepressionsmailingliste im Januar 2014 (ohne vorherige Information der Betroffenen und der anderen Menschen auf der Liste):
"Wir (...) haben beschlossen S. von der Liste zu werfen und das auch getan. ... Diese Liste verliert in unseren Augen ihren Sinn, wenn sich die Menschen darauf nicht vertrauen und auf eindeutige Absprachen verlassen können."
"Ist die Frage nicht erst, ob es reicht, wenn das Vertrauensverhältnis zweier Personen gestört ist, dass eine der beiden von der Liste entfernt werden muss? Das würde eine "öffentliche" Diskussion erübrigen, da niemand, außer der zwei Personen selbst, das beurteilen kann."
"hier eine kurze Erklärung, weshalb bisher keine Reaktion kam. Ich befinde mich gerade mit Unterstützer_innen in den Entzügen meiner Prozessvorbereitung, deshalb haben die Menschen gerade keine weiteren Kapazitäten darauf einzugehen."
"Ich habe auch keine ahnung von nichts, und hatte kein Prozesstraining. Was mache ich dann? Ich höre auf Ratschläge anderer! Das hat S. mir selbst empfohlen!! Den eindruck dass sie selbst diesen Rat befolgt hatte ich bei ihr nicht. Ob es daran liegt wer Ratgeber*in ist, vermag ich nicht zu sagen. Das allein ist kein ausschlusskriterium, manche Leute haben halt nen derberen dickkopf als anderen (...), aber irgendwann - und spätestens zu dem Zeitpunkt zu dem sie den einspruch zurückgezogen hat, ohne zu fragen- reicht es einfach! Jeder Mensch hat eine Chance verdient, vielleicht auch zwei oder drei, oder vier. Es gehört zum Leben dazu Fehler zu machen, und sie zu verzeihen. Aber ich fühle mich außer Stande mit Leuten zusammen zu arbeiten, auf einer vertrauensbasis, die ständig irgendwelche Alleingänge machen! Das kann ich nicht. Sollen die doch allein ihre Alleingänge machen, damit will ich nichts zu tun haben, denn das hält mein Magen nicht aus, wenn ich nicht weiß welcher Schock mich als nächstes erwartet! ...
Ich finde weiter undenkbar über den rausschmiss einer person zu reden, wenn diese auf der Liste steht, da das für die Person sehr verletzend sein kann. ... manchmal sind vorläufige ausschlüsse, die schnell entschieden werden nötig. ...
ich kann die Kritik nachvollziehen, aber so richtig verstehe ich es nicht. ...
und zu letzt: wir sollten unsere gemeinsamen Ziele über diese diskussionen hier nicht aus den Augen verlieren!"
"uns erschien der Rauswurf von Spicky dringlich und notwendig. Wir haben uns damit alles andere als leicht getan und sehen da deutliche Kommunikationsfehler auf unserer Seite. Wir hätten von Anfang an deutlich kommunizieren sollen, dass die Entscheidung nicht endgültig gemeint war, sondern uns als Sofortmaßnahme notwendig erschien."

Natürlich geschah nichts weiter. Wie immer. Das wissen die, die einfach handeln und das, dank ihrer Privilegien (hier: interne Cliquenkommunikation und Listenpasswort) auch können. Es mag vielleicht überraschen, aber sollte deshalb nicht unerwähnt bleiben: Fast alle Zitate und die Ausgangshandlung (Streichen von der Liste) kamen von Leuten aus dem Umfeld der Projektwerkstatt. Die dort gepflege Verbalradikalität gegen Hierarchien stört also nicht, selbst so zu agieren ...

Es ist also wie bei "Animal Farm". Einige sind gleicher als andere. Und die belügen die weniger Gleichen, indem sie ihre Herrschaft zu verschleiern versuchen. Gelingt das nicht, können sie auch anders ...

Aus Bookchin, Murray (1981): "Hierarchie und Herrschaft", Karin Kramer Verlag in Berlin (S. 17 f.)
Der „Managerradikalismus" hat kein wirkliches Interesse für seine Anhänger und für deren Qualitäten als informierte, gesellschaftlich engagierte und aktive Persönlichkeiten. ,,Massenaktion" ist ihm wichtiger als Selbsttätigkeit, die Zahl wichtiger als das Ideal - Quantität geht vor Qualität. Das Konzept der direkten Aktion, das zu aktiven Persönlichkeiten führen soll, die als Individuen und individuierte Gemeinschaften fähig wären, alle sozialen Belange direkt zu ihren eigenen zu machen - eine authentische und von ethischen Oberlegungen anstatt von legislativen Maßnahmen geleitete Öffentlichkeit -, dieses Konzept der direkten Aktion ist auf widerliche Weise zu einer bloßen Sache der „Taktik" - statt Selbsttätigkeit, Selbstentwicklung und Selbstbestimmung - geworden. „Affinitätsgruppen", ein anarchistisches Organisationsmodell, das gedacht war, enge, menschliche und dezentralisierte Formen für die Entwicklung eines neuen Selbst und der Sensibilität für eine wirklich freie Gesellschaft bereit zu stellen, werden lediglich als Einsatzgruppen betrachtet, die man schnell herbeirufen und wieder auflösen kann, um begrenzte, konkrete Aktionen durchzuführen. Kurz gesagt, befaßt sich der „Managerradikalismus" in erster Linie mit Managen und nicht mit Radikalisieren. Und indem er zunehmend die Manipulation der ihm folgenden Massen kultiviert, zersetzt er alle wirklich libertären Ansätze der gegenwärtigen Epoche, oft auf Kosten der Geschichte, die ein abstoßender Karrierismus innerhalb seiner selbsternannten Elite und der Zynismus in den Kreisen seiner naiven Anhänger einbringt.


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