MACHT NIX! ... ZEITUNG GEGEN WAHL, DEMOKRATIE UND HERRSCHAFT
Herrschafts ausmachen!
Herrschaftskritik im Überblick:
Es geht um mehr als die Frage, wer regiert ...
Für viele Menschen ist es heute noch recht einfach und früher war das Stand aller "Linken": Die PolitikerInnen und die Firmenchefs, also "die da oben", sind alle böse, von Kapitalinteressen durchdrungen oder den Reizen der Macht erlegen. Darum läuft alles so scheiße, werden Kriege geführt, die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer, geht die Umwelt vor die Hunde. Und darum ist die Lösung auch, die Mächtigen auszutauschen, damit die "Richtigen" das Richtige machen. So werden neue Parteien gegründet oder Menschen versuchen es selbst, per Gang durch die Institutionen. Wer das nicht als erfolgreich ansieht, greift zum Mittel der Kontrolle, baut öffentlichen Druck auf und fordert mehr Regeln für die Mächtigen oder einfach alle. So werden neue Gesetze und Steuern gefordert, Appelle geschrieben, Petitionen eingereicht, Zeitungen gedruckt, Transparente geschwungen oder Parolen gerufen.
Doch all das hat einen entscheidenden Haken - es greift Herrschaft nicht an, sondern versucht sie, für eigene Ziele einzusetzen. Dahinter steht das Fehlen einer Analyse von Herrschaft. Macht wird neutral gesehen, Menschen in ausführenden Positionen nicht als Rädchen in einem System, sondern als frei Handelnde begriffen. Immer wieder gehen politische Vorschläge sogar über den bisherigen Herrschaftsrahmen hinaus: Für die Tobin Tax oder die Ökosteuer müssen neue Institutionen und Kontrollen geschaffen werden. Nazis sollen in den Knast, Vergewaltiger nie wieder rauskommen. Schutzgebiete werden international immer öfter von paramilitärischen Ökomilizen gesichert - rein kommt nur, wer Geld hat (TouristInnen). Armeen marschieren für die Umwelt, die Menschenrechte und die Befreiung der Frau. Solche politischen Forderungen schaffen eine Einheit aus den Institutionen der Herrschaft und denen, die sie kritisieren. Bei allen Unterschieden im Detail - beide Seiten halten an der Illusion fest, dass der Staat, die Demokratie, die zentralistisch organisierte Gesellschaft zum Positiven gewendet werden können. Dabei übersehen wird:
Herrschaft verstärkt konkurrierendes Verhalten, weil Konkurrenz, d.h. Durchsetzungsfähigkeit, über Machtstrukturen immer gestärkt sowie der Zwang zum kooperativen Verhältnis mit anderen Menschen überwunden werden können. So können Metropolen der Peripherie die Energiegewinnungsanlagen, Rohstoffgewinnung und Mülldeponien aufzwingen - um nur ein Beispiel zu nennen. Herrschaft ist deutlich mehr als die Institutionen der Herrschaft, vielmehr sind Denkkategorien, biologistische Schubladen, Standardisierungen usw. Formen der Herrschaft, die viel stärker den Alltag der Menschen berühren, bis in die entlegendsten Winkel des Lebensalltags vordringen und so Denken und Handeln kontinuierlich beeinflussen. Herrschaftsfreie Räume sind so gar nicht mehr herstellbar - wohl aber Räume, in denen Herrschaft ausgemacht (erkannt, offengelegt) und ausgemacht (abgebaut, überwunden) wird!
Die Kritik an Herrschaftsverhältnisse hat eine lange Geschichte. Viele ältere Theorien werden noch heute hochgehalten, neuen Ansätzen gegenübergestellt - oftmals feindselig, was gemeinsame Debatten und Praxis verhindert. Der folgende Text soll keine umfassende Herrschaftskritik aufstellen, sondern eine vereinfachte geschichtliche Entwicklung sowie die aktuellen Debatten und Texte um Herrschaftskritik zeigen. Bei vielen kurzen Einführungen sind Links auf weitergehende Texte zu finden. Das Nachforschen lohnt!
Personale Verhältnisse werden zu Marktbeziehungen ...
Der Blick zurück in die Tiefen von Fürstentümern, Monarchien bis religiösen Regimes zeigen statt ökonomischen vor allem personale Herrschaftsbeziehungen. Die Mächtigen, ihre Clans und Dynastien unterwarfen die Menschen in ihren Ländern mit plumper Gewalt, trieben Steuern ein und sicherten ein Regime, in dem viele Menschen zum Eigentum wurden der Sklavenhalter, Lehnsherren, Fürsten und Militärbefehlshaber. Mit der Industrialisierung des 18. Jahrhunderts, für Teile der Bevölkerung schon vorher in den bürgerlichen Handelsstädten, begann die Veränderung hin zu marktförmigen Herrschaftsbeziehungen. Diese hätten sich niemals durchgesetzt ohne die personalen Bedingungen, die den Menschen immer mehr den Zugriff auf selbstbestimmtes Leben nahmen. Eigentum wurde akkumuliert, d.h. immer weniger Einheiten (Menschen, Betriebe, Staat) hatten immer mehr Zugriff auf Land, Rohstoffe und Maschinen. Den vielen Menschen wurde die Möglichkeit zum selbständigen Leben genommen mit der Folge, dass sie das Angebot der Massen-Arbeitsplätze und fremdbestimmter Tätigkeit annehmen mussten. Marktförmige Herrschaft funktioniert über die personal hergestellte Alternativlosigkeit zum Markt. Die personale Herrschaft blieb, übte oft sogar direkten Zwang zur Aufnahme von Arbeit aus. Sie organisierte sich mit dem Aufkommen des Kapitalismus mehr und mehr als moderner Nationalstaat in demokratischer Verfassung dar.
Kritik am Kapitalverhältnis
Mit dem Zwang zur massenhaften Ver-Arbeitung vieler Menschen endeten zwar personale Machtverhältnisse nicht - zum einen wurde der Zwang zur Unterwerfung unter Arbeitsverhältnisse ja personal durchgesetzt (siehe oben), zum anderen bestand er weiter im Verhältnis von Obrigkeit zu Mensch (Justiz, Polizei, Ämter ...), innerhalb vieler Gruppen sowie in der Organisierung von Alltagsverhältnissen z.B. vom erwerbstätigen Mann zum abhängigen Rest der Familie, von Erwachsenen zu Kindern sowie in rassistischer und Behinderungs-Diskriminierung. Dennoch wurde das Lohnabhängigkeitsverhältnis als zentral gesehen, weil es deutlich mehr als die anderen auch öffentlich sichtbar gemacht und diskutiert wurde. Arbeitskämpfe erzeugten weit mehr Aufmerksamkeit als die Kämpfe um Rechte oder gar Befreiung von Frauen, Nichtangehörigen des jeweiligen Staates oder sog. Minderjährigen.
Daraus entwickelte sich eine einseitige Wahrnehmung von Herrschaftsverhältnissen. Der Kapitalismus bzw. noch enger das Kapitalverhältnis, also die Akkumulation von Kapital (Land, Rohstoffe, Maschinen, Geld) bei wenigen und ökonomische Abhängigkeit bei vielen, wurde als zentrale Unterdrückungsform beschrieben. Würde sie überwunden, entstünde umfassende menschliche Befreiung. Die wichtigsten Werke dieser Debatte finden sich bei Marx/Engels sowie in den Schriften damals lebender TheoretikerInnen des Anarchismus - wobei die AnhängerInnen von Marx mehr der Idee anhingen, den Staat zu funktionalisieren, während AnarchistInnen meist die Zerschlagen desselben anstrebten.
Kapitalismus als Hauptwiderspruch ist bis heute in marxistischen Kreisen gut verbreitet (siehe aktuelle Texte z.B. von Jürgen Elsässer in Konkret oder aus kommunistischen Parteien). Und er lebt neu auf in den staatstreuen Massenorganisationen der Neuzeit von Attac über marxistische, z.B. trotzkistische Gruppen, die mit der Reduzierung an ökonomischen Details zwar nicht einmal mehr den Kapitalismus kritisieren, aber das Leben auf die Kapitalverhältnisse reduzieren. Kein Wunder, daß die meisten MarxistInnen Attac lieben ... sie halten sich halt beide am Emblem von Attac auf: Politik - jetzt noch mehr reduziert!
Haupt-Widerspruch in Mode
Die Idee des Hauptwiderspruchs Kapitalismus war auffällig verkürzt. Ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse in Massen gab es erst sei wenigen Jahrzehnten - Herrschaft und Unterdrückung war jedoch viel älter, Umweltzerstörung auch. Die Mobilisierung von Arbeitskraft in Massen brachte zwar einen erheblichen "Fortschritt" gerichteter (also nicht individueller bis selbstbestimmter) Produktivkraft, jedoch hat der Kapitalismus Herrschaft nicht erfunden, sondern gewandelt bzw. erweitert. Das wiederum klagten zurecht andere Zusammenhänge ein. Es dauerte aber lange, bis sie auch massenwirksam wurden - z.B. die Frauenbewegung im Zuge der zunächst vollständig, dann weiter überwiegend männerdominierten und hauptwiderspruchsorientierten 68er-Bewegung. Antirassistische Projekte entstanden auf breiter Ebene noch später.
Aufgrund ebenso verkürzter Analyse sowie des Gegensatzes zur Hauptrichtung politischer Arbeit, die im Kapitalismus den Hauptfeind sah, wurden in den neueren Zusammenhängen jeweils andere Themen zum Hauptwiderspruch. Nun war plötzlich das Patriarchat die Ausgangsform aller Herrschaft usw. - folglich mußte die Herrschaft der Männer als erstes abgebaut werden. Egal wie: Mit härteren Strafen, mehr Staat oder Armeen. Gegen den Rassismus war auch jedes Mittel recht - mehr Polizei, Knast usw. Letztlich war es immer der Staat und dessen personalen Herrschaftslogiken, die als große Hoffnung am Himmel linker (Nicht-)Visionen zu sehen waren ... als wäre das alles nicht schon mal dagewesen sowie ständig auch weiter gültig als Teil von Herrschaft.
Vorläufige Einigung: "triple oppression"
Zwischen den AnhängerInnen der verschiedenen Richtungen tobte der Streit - bis ein Teil eine vorläufige Einigung fand. Die drei Haupt-Widersprüche, die bis zu diesem Zeitpunkt "erfunden" waren, wurden einfach alle drei als gültig anerkannt. Sie bestanden so nebeneinander her und wer von zwei oder gar drei dieser betroffen war (arme, dunkelhäutige Frau) hatte es am schlechtesten. Das war einfach. Die psychiatrisierten Menschen, Kinder und Jugendliche und andere Unterdrückungsverhältnisse blieben außen vor - für sie gab es in der "Linken" keine Lobby, z.T. nicht einmal ein Fremdwort! Insofern war die "triple oppression" eher ein Bündnis als eine Herrschaftsanalyse. Typisch dafür waren die Organisierungsversuche Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre, z.B. das als Abspaltung aus der ÖkoLi-Gründung entstandene Bundestreffen von Basisgruppen und Einzelpersonen.
Neue Kritik und "unity of oppression"
Die Kritik an der plumpen Summierung kam dann aus unvorhergesehener Ecke. Viele TierrechtlerInnen machten sich über die verkürzte Herrschaftstheorie her, übersahen weiter Kinder, Psychiatrisierte usw. und entdeckten die Tiere als unterdrückte Gruppe. Speziezismus nannte sie ihre Theorie der Unterdrückung von nichtmenschlichen Arten, "unity of oppression" die neue wirre Analyse von Herrschaftsverhältnissen. Die Kritik an der Ausbeutung von Tieren ist wichtig und in jedem Fall zulässig als gesellschaftlicher Kampf, die Herrschaftsmechanismen jedoch sind grundsätzlich nicht vergleichbar - schließlich geht es bei der Unterdrückung von Menschen um eine Zurichtung auf Rollen innerhalb der Gesellschaft, die als herrschaftsfreie Alternative aus "Freien Kooperationen" bzw. "Freien Vereinbarungen" der Menschen bestehen könnte. Hunde, Katzen, Kühe und Nashornkäfer werden dagegen niemals an dieser Debatte teilnehmen.
Daher ist die Herrschaft über Tiere zwar da, aber eine grundsätzlich andere - eine "unity of oppression" vermenschlichte somit die Tiere (oder machte Menschen zu Tieren). Biologismus war in Tierrechtskreisen lange Zeit sehr prägend und wird auch heute noch von wichtigen TheoretikerInnen vertreten (z.B. im deutschsprachigen Raum von Helmut F. Kaplan in verschiedenen Bücher und der "tierbefreiung aktuell").
Und ganz brandheiß: Der vierte Haupt-Widerspruch
Während zunehmend grundlegendere Herrschaftsanalysen erschienen, erfand eine recht neu entstandene Gruppe einen neuen Hauptwiderspruch, der als Unterdrückungsform bekannt und sich als besonderer Schrecken durch die Geschichte zog: Antisemitismus. Hauptwiderspruch war der noch nie und es bedurfte auch etlicher Verrenkungen, bis die nach dem 11. September 2001 schlagartig wachsende Gruppe frustrierter Alt-Antifas und Umfeld eine Theorie entwickelte, die sogar ausreichte, um weltweit Kriege, Vertreibung, Grenzabschottungen usw. zu begründen. Alles wurde plötzlich auf den Judenhaß reduziert, der von den Antideutschen in allem gefunden wurde, was sich regte. Wer Fensterscheiben von Banken klirren ließ oder vegan leben wollte - alles waren Antisemiten, weil ihre Angriffsziele Symbole des Judentums waren, direkt oder indirekt. Und Deutschland war die schlimmste Nation (was aus anderen Gründen durchaus zutreffen mag), weil es den AmerikanerInnen (gemeint war die US-Regierung, aber Differenzierung paßt nicht zur Hauptwiderspruchslogik) nicht komplett loyal zur Seite steht und darauf spekuliert, zusammen mit den arabischen Ländern die Weltherrschaft zu erobern, die USA zurückzudrängen und Israel zu vernichten (Belege für diese Thesen fehlen erwartungsgemäß immer, umso militaristischer ist der Tonfall).
Daß Antisemitismus dauerhaft und überall vorkommt, ist unbestritten, aber als alleiniger Erklärungsansatz für Herrschaftsverhältnisse taugt er nicht.
Antisemitismus in linken Gruppen: Auf diesen Seiten, www.antisemitismusstreit.siehe.website
Antideutsche im Internet: www.antideutsch.de, Bahamas, Sinistra.
Das klappt alles nicht: Diskursive Herrschaft
Alle Hauptwiderspruchsanalysen einschließlich derer, die mehrere summarisch verknüpften, hingen stark an institutionalisierter Herrschaft bzw. an festen normativen Prägungen in den Köpfen. Viele überwanden die Trennung in HerrscherInnen und Beherrschte - durchaus ein wichtiger Schritt. "Hitlers willige Vollstrecker" oder die patriarchalen Verhältnisse in allen Winkeln der Gesellschaft sind Beispiele. Herrschaft wird zwar auch (und oft besonders massenwirksam) von institutionalisierter Macht hergestellt (Bildungseinrichtungen, Justiz, Armeen, Behörden, Polizei usw.), aber sie lebt auch ohne diese fort. Moderne Herrschaftssysteme, allen voran die "Demokratie" leben sehr stark von dieser diskursiven Herrschaft, welche die institutionalisierte Form nur noch als Drohung und Potential im Hintergrund braucht. Dass Menschen glauben, arbeiten gehen zu müssen und sich darauf ächzend Jahrzehnte vorbereiten, bedarf kaum noch direkter Sanktionen. Die Diskriminierungsverhältnisse zwischen den Geschlechtern und Nationalitäten, zwischen Menschen verschiedenen Alters oder mit sog. Behinderungen - all das bedarf im Alltag keinem Herrschaftsdurchgriff mehr.
Schon überhaupt die Annahme, dass es Geschlechter, Rassen, Nationen, Normal und Unnormal gibt, ist diskursive Herrschaft, schafft Kategorien, die in den Köpfen weiterleben und von Mensch zu Mensch weitergeben werden. Das Leben wird durch und durch normiert, standardisiert und eine direkte Kontrolle dann immer öfter überflüssig.
Die Debatte um diskursive Herrschaft verläßt aber teilweise selbst den Bezug zu spürbaren Herrschaftsverhältnissen. Alles wird relativiert, Herrschaft selbst sei nur konstruiert, direkte Gewalt nicht mehr relevant. Wenn diskursive Herrschaft wie Sprache oder Wahrnehmung verändert würde, entstünde bereits Befreiung? Die Esoterik läßt grüßen ...
Aktuelle Herrschaftstheorien I: Aliens ...
Wie kann mensch diese diskursive Herrschaft begreifen, anschaulich machen? Christoph Spehr hat einen einzigartigen Versuch gemacht mit dem Buch "Die Aliens sind unter uns".
Rund um das Buch lief und läuft eine Debatte um Utopien, u.a. mit den Kongressen "Out of this world", angereichert immer wieder mit Bildern aus Science Fiction - so wie sich der Kreis der Diskutierenden "FreundInnen des Maquis" nennt (Maquis, franz. der Busch, ist nicht nur ein Begriff aus dem französischen Widerstand, sondern auch die anarchistische "Zone" in Star Trek).
Doch die Aliens sind schlau - sie verliehen in Form von PDS-FunktionärInnen Spehr den Rosa-Luxemburg-Preis für seine Arbeit "Gleicher als andere", das zweite wichtige Werk dieser Debatte. Seitdem vermehren sie sich. Der Kongreß "Out of this world" wurde zunächst unterstützt von der PDS-Stiftung, später war er eine Veranstaltung der PDS-Stiftung, während Spehr und Umfeld selbst zu FunktionärInnen im Bremer Landesverband wurden. Auch der Siedler-Verlag ist nicht ohne - Kontakte zu rechten Kreisen sind unübersehbar. Das Ganze ist noch offen, aber die Aliens haben den Fuß in der Tür.
Wichtig ist die Spehr'sche Idee der Freien Kooperation, dem wichtigsten Baustein einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Herrschaftsfreie Beziehungen zwischen Menschen können nur entstehen, wenn der Preis der Menschen, diese einzugehen oder wieder zu verlassen, gleich hoch ist. Gleichberechtigung bedarf also gleicher Möglichkeiten - ein wichtiger Beitrag zur Debatte über Utopien und ihre Bausteine, die bereits heute Schritte ermöglichen.
Weitersuchen: C. Spehr, 2000: "Die Aliens sind unter uns" (Siedler Verlag). Download von "Gleicher als andere" alsd .pdf. Seite des Out Of This World Kongreß
Theorie II: Freie Menschen in Freien Vereinbarungen
Im Jahr 1999, mitten im Gewühl um den Widerstand gegen die geplante Zukunftsshow Expo 2000 (die dann doch als billige Unterhaltungsschau endete, was auch dem Widerstand die Flügel nahm), fand sich die Gruppe Gegenbilder zusammen - drei Menschen aus marxistischem und anarchistischem Umfeld. Ihr Ziel: Ein Buch mit Herrschaftskritik und Entwürfen für herrschaftsfreie Formen von Gesellschaft. Dort wird Herrschaft als komplexes Gebilde beschrieben mit verschiedenen Teilen - direkten, ökonomischen und diskursiven Formen. Die Debatte darüber läuft weiter, und Ende November 2002 soll die zweite heiße Phase beginnen.
Grundidee einer herrschaftsfreien Zukunft ist der Begriff der Freien Menschen (die also nicht unter dem Zwang zur eigenen Verwertung, zur Unterwerfung oder Kooperation stehen - siehe auch bei C. Spehr) und Freien Vereinbarungen (also einem Geflecht von Verabredungen, die nicht institutionalisiert sind, sondern immer wieder neu geschlossen, weiterentwickelt usw. werden, allerdings nicht formal, sondern als dauernder, nicht endender Prozeß. Es gilt, was auf Akzeptanz stößt.
Mehr: Gruppe Gegenbilder, 2000: "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen" (die zweite Auflage 2012 ist für 14 Euro über die Projektwerkstatt zu beziehen). Diskussionsforum www.opentheory.org/gegenbilder (allgemein) und Textsammlung Übersicht: Herrschaftkritik
Theorie III: Herrschaft ausmachen und mehr ...
In der Folge der beiden beschriebenen Werke erschienen weitere Texte, die lohnenswert sind. Sie nahmen andere Blickwinkel ein, arbeiteten fehlende Aspekte auf usw., z.T. "Herrschaft ausmachen" der Göttinger Gruppe schöner leben, die Überlegungen zu gesellschaftlich übergreifenden Vereinbarungen von Stefan Meretz oder Diskussionsbeiträge im Philosophenstübchen von Annette Schlemm. Hinzu kamen weitere Texte wie die 10 Thesen über Anti-Macht von John Holloway (alle bisherigen über index.php?domain_id=13&p=10174 verlinkt), das Buch "Empire" usw. ... die Debatte läuft!
Praxis: Ähm ... war da was?
Nur wenige der Herrschaftsanalysen kümmern sich um eine Praxis ausgehend im Hier und Jetzt. Darum sind viele so beliebt - sie haben nichts mit der eigenen Realität zu tun. Herrschaftsverhältnisse innerhalb politischer Bewegung, die Akzeptanz von Normen und Institutionen sowie die Abneigung gegenüber visionären Positionen (stattdessen: "Nazis raus" oder "Mehr Kontrolle der Wirtschaft") sind weit verbreitet. Änderungen: Fehlanzeige. Oder zumindest fast. Es sind sehr kleine Kreise, die Aktionsformen entwickeln, die sich gegen Herrschaft richten, zumindest diese immer auch mitdiskutieren oder Visionen sichtbar machen wollen.
Zeitgleich setzt sich eine breite Strömung, ja ein Wille zur Ausblendung von Herrschaftskritik durch. Mit der künstlichen Trennung von Staat und Markt, dem Ruf nach Reregulierung (die modernisierte Variante des "starken Mannes") und mit einer Enthaltsamkeit jeglicher Kritik an Institutionen bis zur Forderung nach neuen Machtzentren (UN, Weltpolizei, internationaler Staatsgerichtshof) rollen die Medienstars von Attac, PDS, Lafotainisten und Anhang der Herrschaft wieder rote Teppiche aus. Und was geschieht? Sogar AnarchistInnen folgen dem Lockruf, MarxistInnen zu großen Teilen und das gesamte Spektrum an Parteien, Bürgergruppen und NGOs der "Neuen Mitte" von konservativ bis demokratie-fanatisch sowieso ...
International: Peoples Global Action (PGA) Deutschsprachig: index.php?domain_id=13&p=20066 (Netzwerk für kreativen Widerstand
herrschaft.ausmachen.
Es geht um mehr als die Frage, wer regiert ...
Für viele Menschen ist es heute noch recht einfach und früher war das Stand aller "Linken": Die PolitikerInnen und die Firmenchefs, also "die da oben", sind alle böse, von Kapitalinteressen durchdrungen oder den Reizen der Macht erlegen. Darum läuft alles so scheiße, werden Kriege geführt, die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer, geht die Umwelt vor die Hunde. Und darum ist die Lösung auch, die Mächtigen auszutauschen, damit die "Richtigen" das Richtige machen. So werden neue Parteien gegründet oder Menschen versuchen es selbst, per Gang durch die Institutionen. Wer das nicht als erfolgreich ansieht, greift zum Mittel der Kontrolle, baut öffentlichen Druck auf und fordert mehr Regeln für die Mächtigen oder einfach alle. So werden neue Gesetze und Steuern gefordert, Appelle geschrieben, Petitionen eingereicht, Zeitungen gedruckt, Transparente geschwungen oder Parolen gerufen.
Doch all das hat einen entscheidenden Haken - es greift Herrschaft nicht an, sondern versucht sie, für eigene Ziele einzusetzen. Dahinter steht das Fehlen einer Analyse von Herrschaft. Macht wird neutral gesehen, Menschen in ausführenden Positionen nicht als Rädchen in einem System, sondern als frei Handelnde begriffen. Immer wieder gehen politische Vorschläge sogar über den bisherigen Herrschaftsrahmen hinaus: Für die Tobin Tax oder die Ökosteuer müssen neue Institutionen und Kontrollen geschaffen werden. Nazis sollen in den Knast, Vergewaltiger nie wieder rauskommen. Schutzgebiete werden international immer öfter von paramilitärischen Ökomilizen gesichert - rein kommt nur, wer Geld hat (TouristInnen). Armeen marschieren für die Umwelt, die Menschenrechte und die Befreiung der Frau. Solche politischen Forderungen schaffen eine Einheit aus den Institutionen der Herrschaft und denen, die sie kritisieren. Bei allen Unterschieden im Detail - beide Seiten halten an der Illusion fest, dass der Staat, die Demokratie, die zentralistisch organisierte Gesellschaft zum Positiven gewendet werden können. Dabei übersehen wird:
Herrschaft verstärkt konkurrierendes Verhalten, weil Konkurrenz, d.h. Durchsetzungsfähigkeit, über Machtstrukturen immer gestärkt sowie der Zwang zum kooperativen Verhältnis mit anderen Menschen überwunden werden können. So können Metropolen der Peripherie die Energiegewinnungsanlagen, Rohstoffgewinnung und Mülldeponien aufzwingen - um nur ein Beispiel zu nennen. Herrschaft ist deutlich mehr als die Institutionen der Herrschaft, vielmehr sind Denkkategorien, biologistische Schubladen, Standardisierungen usw. Formen der Herrschaft, die viel stärker den Alltag der Menschen berühren, bis in die entlegendsten Winkel des Lebensalltags vordringen und so Denken und Handeln kontinuierlich beeinflussen. Herrschaftsfreie Räume sind so gar nicht mehr herstellbar - wohl aber Räume, in denen Herrschaft ausgemacht (erkannt, offengelegt) und ausgemacht (abgebaut, überwunden) wird!
Die Kritik an Herrschaftsverhältnisse hat eine lange Geschichte. Viele ältere Theorien werden noch heute hochgehalten, neuen Ansätzen gegenübergestellt - oftmals feindselig, was gemeinsame Debatten und Praxis verhindert. Der folgende Text soll keine umfassende Herrschaftskritik aufstellen, sondern eine vereinfachte geschichtliche Entwicklung sowie die aktuellen Debatten und Texte um Herrschaftskritik zeigen. Bei vielen kurzen Einführungen sind Links auf weitergehende Texte zu finden. Das Nachforschen lohnt!
Personale Verhältnisse werden zu Marktbeziehungen ...
Der Blick zurück in die Tiefen von Fürstentümern, Monarchien bis religiösen Regimes zeigen statt ökonomischen vor allem personale Herrschaftsbeziehungen. Die Mächtigen, ihre Clans und Dynastien unterwarfen die Menschen in ihren Ländern mit plumper Gewalt, trieben Steuern ein und sicherten ein Regime, in dem viele Menschen zum Eigentum wurden der Sklavenhalter, Lehnsherren, Fürsten und Militärbefehlshaber. Mit der Industrialisierung des 18. Jahrhunderts, für Teile der Bevölkerung schon vorher in den bürgerlichen Handelsstädten, begann die Veränderung hin zu marktförmigen Herrschaftsbeziehungen. Diese hätten sich niemals durchgesetzt ohne die personalen Bedingungen, die den Menschen immer mehr den Zugriff auf selbstbestimmtes Leben nahmen. Eigentum wurde akkumuliert, d.h. immer weniger Einheiten (Menschen, Betriebe, Staat) hatten immer mehr Zugriff auf Land, Rohstoffe und Maschinen. Den vielen Menschen wurde die Möglichkeit zum selbständigen Leben genommen mit der Folge, dass sie das Angebot der Massen-Arbeitsplätze und fremdbestimmter Tätigkeit annehmen mussten. Marktförmige Herrschaft funktioniert über die personal hergestellte Alternativlosigkeit zum Markt. Die personale Herrschaft blieb, übte oft sogar direkten Zwang zur Aufnahme von Arbeit aus. Sie organisierte sich mit dem Aufkommen des Kapitalismus mehr und mehr als moderner Nationalstaat in demokratischer Verfassung dar.
Kritik am Kapitalverhältnis
Mit dem Zwang zur massenhaften Ver-Arbeitung vieler Menschen endeten zwar personale Machtverhältnisse nicht - zum einen wurde der Zwang zur Unterwerfung unter Arbeitsverhältnisse ja personal durchgesetzt (siehe oben), zum anderen bestand er weiter im Verhältnis von Obrigkeit zu Mensch (Justiz, Polizei, Ämter ...), innerhalb vieler Gruppen sowie in der Organisierung von Alltagsverhältnissen z.B. vom erwerbstätigen Mann zum abhängigen Rest der Familie, von Erwachsenen zu Kindern sowie in rassistischer und Behinderungs-Diskriminierung. Dennoch wurde das Lohnabhängigkeitsverhältnis als zentral gesehen, weil es deutlich mehr als die anderen auch öffentlich sichtbar gemacht und diskutiert wurde. Arbeitskämpfe erzeugten weit mehr Aufmerksamkeit als die Kämpfe um Rechte oder gar Befreiung von Frauen, Nichtangehörigen des jeweiligen Staates oder sog. Minderjährigen.
Daraus entwickelte sich eine einseitige Wahrnehmung von Herrschaftsverhältnissen. Der Kapitalismus bzw. noch enger das Kapitalverhältnis, also die Akkumulation von Kapital (Land, Rohstoffe, Maschinen, Geld) bei wenigen und ökonomische Abhängigkeit bei vielen, wurde als zentrale Unterdrückungsform beschrieben. Würde sie überwunden, entstünde umfassende menschliche Befreiung. Die wichtigsten Werke dieser Debatte finden sich bei Marx/Engels sowie in den Schriften damals lebender TheoretikerInnen des Anarchismus - wobei die AnhängerInnen von Marx mehr der Idee anhingen, den Staat zu funktionalisieren, während AnarchistInnen meist die Zerschlagen desselben anstrebten.
Kapitalismus als Hauptwiderspruch ist bis heute in marxistischen Kreisen gut verbreitet (siehe aktuelle Texte z.B. von Jürgen Elsässer in Konkret oder aus kommunistischen Parteien). Und er lebt neu auf in den staatstreuen Massenorganisationen der Neuzeit von Attac über marxistische, z.B. trotzkistische Gruppen, die mit der Reduzierung an ökonomischen Details zwar nicht einmal mehr den Kapitalismus kritisieren, aber das Leben auf die Kapitalverhältnisse reduzieren. Kein Wunder, daß die meisten MarxistInnen Attac lieben ... sie halten sich halt beide am Emblem von Attac auf: Politik - jetzt noch mehr reduziert!
Haupt-Widerspruch in Mode
Die Idee des Hauptwiderspruchs Kapitalismus war auffällig verkürzt. Ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse in Massen gab es erst sei wenigen Jahrzehnten - Herrschaft und Unterdrückung war jedoch viel älter, Umweltzerstörung auch. Die Mobilisierung von Arbeitskraft in Massen brachte zwar einen erheblichen "Fortschritt" gerichteter (also nicht individueller bis selbstbestimmter) Produktivkraft, jedoch hat der Kapitalismus Herrschaft nicht erfunden, sondern gewandelt bzw. erweitert. Das wiederum klagten zurecht andere Zusammenhänge ein. Es dauerte aber lange, bis sie auch massenwirksam wurden - z.B. die Frauenbewegung im Zuge der zunächst vollständig, dann weiter überwiegend männerdominierten und hauptwiderspruchsorientierten 68er-Bewegung. Antirassistische Projekte entstanden auf breiter Ebene noch später.
Aufgrund ebenso verkürzter Analyse sowie des Gegensatzes zur Hauptrichtung politischer Arbeit, die im Kapitalismus den Hauptfeind sah, wurden in den neueren Zusammenhängen jeweils andere Themen zum Hauptwiderspruch. Nun war plötzlich das Patriarchat die Ausgangsform aller Herrschaft usw. - folglich mußte die Herrschaft der Männer als erstes abgebaut werden. Egal wie: Mit härteren Strafen, mehr Staat oder Armeen. Gegen den Rassismus war auch jedes Mittel recht - mehr Polizei, Knast usw. Letztlich war es immer der Staat und dessen personalen Herrschaftslogiken, die als große Hoffnung am Himmel linker (Nicht-)Visionen zu sehen waren ... als wäre das alles nicht schon mal dagewesen sowie ständig auch weiter gültig als Teil von Herrschaft.
Vorläufige Einigung: "triple oppression"
Zwischen den AnhängerInnen der verschiedenen Richtungen tobte der Streit - bis ein Teil eine vorläufige Einigung fand. Die drei Haupt-Widersprüche, die bis zu diesem Zeitpunkt "erfunden" waren, wurden einfach alle drei als gültig anerkannt. Sie bestanden so nebeneinander her und wer von zwei oder gar drei dieser betroffen war (arme, dunkelhäutige Frau) hatte es am schlechtesten. Das war einfach. Die psychiatrisierten Menschen, Kinder und Jugendliche und andere Unterdrückungsverhältnisse blieben außen vor - für sie gab es in der "Linken" keine Lobby, z.T. nicht einmal ein Fremdwort! Insofern war die "triple oppression" eher ein Bündnis als eine Herrschaftsanalyse. Typisch dafür waren die Organisierungsversuche Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre, z.B. das als Abspaltung aus der ÖkoLi-Gründung entstandene Bundestreffen von Basisgruppen und Einzelpersonen.
Neue Kritik und "unity of oppression"
Die Kritik an der plumpen Summierung kam dann aus unvorhergesehener Ecke. Viele TierrechtlerInnen machten sich über die verkürzte Herrschaftstheorie her, übersahen weiter Kinder, Psychiatrisierte usw. und entdeckten die Tiere als unterdrückte Gruppe. Speziezismus nannte sie ihre Theorie der Unterdrückung von nichtmenschlichen Arten, "unity of oppression" die neue wirre Analyse von Herrschaftsverhältnissen. Die Kritik an der Ausbeutung von Tieren ist wichtig und in jedem Fall zulässig als gesellschaftlicher Kampf, die Herrschaftsmechanismen jedoch sind grundsätzlich nicht vergleichbar - schließlich geht es bei der Unterdrückung von Menschen um eine Zurichtung auf Rollen innerhalb der Gesellschaft, die als herrschaftsfreie Alternative aus "Freien Kooperationen" bzw. "Freien Vereinbarungen" der Menschen bestehen könnte. Hunde, Katzen, Kühe und Nashornkäfer werden dagegen niemals an dieser Debatte teilnehmen.
Daher ist die Herrschaft über Tiere zwar da, aber eine grundsätzlich andere - eine "unity of oppression" vermenschlichte somit die Tiere (oder machte Menschen zu Tieren). Biologismus war in Tierrechtskreisen lange Zeit sehr prägend und wird auch heute noch von wichtigen TheoretikerInnen vertreten (z.B. im deutschsprachigen Raum von Helmut F. Kaplan in verschiedenen Bücher und der "tierbefreiung aktuell").
Und ganz brandheiß: Der vierte Haupt-Widerspruch
Während zunehmend grundlegendere Herrschaftsanalysen erschienen, erfand eine recht neu entstandene Gruppe einen neuen Hauptwiderspruch, der als Unterdrückungsform bekannt und sich als besonderer Schrecken durch die Geschichte zog: Antisemitismus. Hauptwiderspruch war der noch nie und es bedurfte auch etlicher Verrenkungen, bis die nach dem 11. September 2001 schlagartig wachsende Gruppe frustrierter Alt-Antifas und Umfeld eine Theorie entwickelte, die sogar ausreichte, um weltweit Kriege, Vertreibung, Grenzabschottungen usw. zu begründen. Alles wurde plötzlich auf den Judenhaß reduziert, der von den Antideutschen in allem gefunden wurde, was sich regte. Wer Fensterscheiben von Banken klirren ließ oder vegan leben wollte - alles waren Antisemiten, weil ihre Angriffsziele Symbole des Judentums waren, direkt oder indirekt. Und Deutschland war die schlimmste Nation (was aus anderen Gründen durchaus zutreffen mag), weil es den AmerikanerInnen (gemeint war die US-Regierung, aber Differenzierung paßt nicht zur Hauptwiderspruchslogik) nicht komplett loyal zur Seite steht und darauf spekuliert, zusammen mit den arabischen Ländern die Weltherrschaft zu erobern, die USA zurückzudrängen und Israel zu vernichten (Belege für diese Thesen fehlen erwartungsgemäß immer, umso militaristischer ist der Tonfall).
Daß Antisemitismus dauerhaft und überall vorkommt, ist unbestritten, aber als alleiniger Erklärungsansatz für Herrschaftsverhältnisse taugt er nicht.
Antisemitismus in linken Gruppen: Auf diesen Seiten, www.antisemitismusstreit.siehe.website
Antideutsche im Internet: www.antideutsch.de, Bahamas, Sinistra.
Das klappt alles nicht: Diskursive Herrschaft
Alle Hauptwiderspruchsanalysen einschließlich derer, die mehrere summarisch verknüpften, hingen stark an institutionalisierter Herrschaft bzw. an festen normativen Prägungen in den Köpfen. Viele überwanden die Trennung in HerrscherInnen und Beherrschte - durchaus ein wichtiger Schritt. "Hitlers willige Vollstrecker" oder die patriarchalen Verhältnisse in allen Winkeln der Gesellschaft sind Beispiele. Herrschaft wird zwar auch (und oft besonders massenwirksam) von institutionalisierter Macht hergestellt (Bildungseinrichtungen, Justiz, Armeen, Behörden, Polizei usw.), aber sie lebt auch ohne diese fort. Moderne Herrschaftssysteme, allen voran die "Demokratie" leben sehr stark von dieser diskursiven Herrschaft, welche die institutionalisierte Form nur noch als Drohung und Potential im Hintergrund braucht. Dass Menschen glauben, arbeiten gehen zu müssen und sich darauf ächzend Jahrzehnte vorbereiten, bedarf kaum noch direkter Sanktionen. Die Diskriminierungsverhältnisse zwischen den Geschlechtern und Nationalitäten, zwischen Menschen verschiedenen Alters oder mit sog. Behinderungen - all das bedarf im Alltag keinem Herrschaftsdurchgriff mehr.
Schon überhaupt die Annahme, dass es Geschlechter, Rassen, Nationen, Normal und Unnormal gibt, ist diskursive Herrschaft, schafft Kategorien, die in den Köpfen weiterleben und von Mensch zu Mensch weitergeben werden. Das Leben wird durch und durch normiert, standardisiert und eine direkte Kontrolle dann immer öfter überflüssig.
Die Debatte um diskursive Herrschaft verläßt aber teilweise selbst den Bezug zu spürbaren Herrschaftsverhältnissen. Alles wird relativiert, Herrschaft selbst sei nur konstruiert, direkte Gewalt nicht mehr relevant. Wenn diskursive Herrschaft wie Sprache oder Wahrnehmung verändert würde, entstünde bereits Befreiung? Die Esoterik läßt grüßen ...
Aktuelle Herrschaftstheorien I: Aliens ...
Wie kann mensch diese diskursive Herrschaft begreifen, anschaulich machen? Christoph Spehr hat einen einzigartigen Versuch gemacht mit dem Buch "Die Aliens sind unter uns".
Rund um das Buch lief und läuft eine Debatte um Utopien, u.a. mit den Kongressen "Out of this world", angereichert immer wieder mit Bildern aus Science Fiction - so wie sich der Kreis der Diskutierenden "FreundInnen des Maquis" nennt (Maquis, franz. der Busch, ist nicht nur ein Begriff aus dem französischen Widerstand, sondern auch die anarchistische "Zone" in Star Trek).
Doch die Aliens sind schlau - sie verliehen in Form von PDS-FunktionärInnen Spehr den Rosa-Luxemburg-Preis für seine Arbeit "Gleicher als andere", das zweite wichtige Werk dieser Debatte. Seitdem vermehren sie sich. Der Kongreß "Out of this world" wurde zunächst unterstützt von der PDS-Stiftung, später war er eine Veranstaltung der PDS-Stiftung, während Spehr und Umfeld selbst zu FunktionärInnen im Bremer Landesverband wurden. Auch der Siedler-Verlag ist nicht ohne - Kontakte zu rechten Kreisen sind unübersehbar. Das Ganze ist noch offen, aber die Aliens haben den Fuß in der Tür.
Wichtig ist die Spehr'sche Idee der Freien Kooperation, dem wichtigsten Baustein einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Herrschaftsfreie Beziehungen zwischen Menschen können nur entstehen, wenn der Preis der Menschen, diese einzugehen oder wieder zu verlassen, gleich hoch ist. Gleichberechtigung bedarf also gleicher Möglichkeiten - ein wichtiger Beitrag zur Debatte über Utopien und ihre Bausteine, die bereits heute Schritte ermöglichen.
Weitersuchen: C. Spehr, 2000: "Die Aliens sind unter uns" (Siedler Verlag). Download von "Gleicher als andere" alsd .pdf. Seite des Out Of This World Kongreß
Theorie II: Freie Menschen in Freien Vereinbarungen
Im Jahr 1999, mitten im Gewühl um den Widerstand gegen die geplante Zukunftsshow Expo 2000 (die dann doch als billige Unterhaltungsschau endete, was auch dem Widerstand die Flügel nahm), fand sich die Gruppe Gegenbilder zusammen - drei Menschen aus marxistischem und anarchistischem Umfeld. Ihr Ziel: Ein Buch mit Herrschaftskritik und Entwürfen für herrschaftsfreie Formen von Gesellschaft. Dort wird Herrschaft als komplexes Gebilde beschrieben mit verschiedenen Teilen - direkten, ökonomischen und diskursiven Formen. Die Debatte darüber läuft weiter, und Ende November 2002 soll die zweite heiße Phase beginnen.
Grundidee einer herrschaftsfreien Zukunft ist der Begriff der Freien Menschen (die also nicht unter dem Zwang zur eigenen Verwertung, zur Unterwerfung oder Kooperation stehen - siehe auch bei C. Spehr) und Freien Vereinbarungen (also einem Geflecht von Verabredungen, die nicht institutionalisiert sind, sondern immer wieder neu geschlossen, weiterentwickelt usw. werden, allerdings nicht formal, sondern als dauernder, nicht endender Prozeß. Es gilt, was auf Akzeptanz stößt.
Mehr: Gruppe Gegenbilder, 2000: "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen" (die zweite Auflage 2012 ist für 14 Euro über die Projektwerkstatt zu beziehen). Diskussionsforum www.opentheory.org/gegenbilder (allgemein) und Textsammlung Übersicht: Herrschaftkritik
Theorie III: Herrschaft ausmachen und mehr ...
In der Folge der beiden beschriebenen Werke erschienen weitere Texte, die lohnenswert sind. Sie nahmen andere Blickwinkel ein, arbeiteten fehlende Aspekte auf usw., z.T. "Herrschaft ausmachen" der Göttinger Gruppe schöner leben, die Überlegungen zu gesellschaftlich übergreifenden Vereinbarungen von Stefan Meretz oder Diskussionsbeiträge im Philosophenstübchen von Annette Schlemm. Hinzu kamen weitere Texte wie die 10 Thesen über Anti-Macht von John Holloway (alle bisherigen über index.php?domain_id=13&p=10174 verlinkt), das Buch "Empire" usw. ... die Debatte läuft!
Praxis: Ähm ... war da was?
Nur wenige der Herrschaftsanalysen kümmern sich um eine Praxis ausgehend im Hier und Jetzt. Darum sind viele so beliebt - sie haben nichts mit der eigenen Realität zu tun. Herrschaftsverhältnisse innerhalb politischer Bewegung, die Akzeptanz von Normen und Institutionen sowie die Abneigung gegenüber visionären Positionen (stattdessen: "Nazis raus" oder "Mehr Kontrolle der Wirtschaft") sind weit verbreitet. Änderungen: Fehlanzeige. Oder zumindest fast. Es sind sehr kleine Kreise, die Aktionsformen entwickeln, die sich gegen Herrschaft richten, zumindest diese immer auch mitdiskutieren oder Visionen sichtbar machen wollen.
Zeitgleich setzt sich eine breite Strömung, ja ein Wille zur Ausblendung von Herrschaftskritik durch. Mit der künstlichen Trennung von Staat und Markt, dem Ruf nach Reregulierung (die modernisierte Variante des "starken Mannes") und mit einer Enthaltsamkeit jeglicher Kritik an Institutionen bis zur Forderung nach neuen Machtzentren (UN, Weltpolizei, internationaler Staatsgerichtshof) rollen die Medienstars von Attac, PDS, Lafotainisten und Anhang der Herrschaft wieder rote Teppiche aus. Und was geschieht? Sogar AnarchistInnen folgen dem Lockruf, MarxistInnen zu großen Teilen und das gesamte Spektrum an Parteien, Bürgergruppen und NGOs der "Neuen Mitte" von konservativ bis demokratie-fanatisch sowieso ...
International: Peoples Global Action (PGA) Deutschsprachig: index.php?domain_id=13&p=20066 (Netzwerk für kreativen Widerstand
Anmerkung: Dieser Text verkürzt die tatsächlichen Abläufe sehr stark. So werden Widersprüche und abweichende Strömungen gänzlich ausgeblendet - sie waren und sind aber immer vorhanden und meldeten Bedenken bis Protest gegen den Polit-"mainstream" an.
herrschaft.ausmachen.