Offener Raum

ORGANISIERUNG OHNE DEMOKRATIE, KOLLEKTIV-IDENTITÄTEN, HIERARCHIEN UND FLAGGEN

Zusammenschau: Organisierung von unten


1. Grundsätze herrschaftsfreier Organisierung
2. Emanzipatorische Organisierung praktisch
3. (Keine) Entscheidungsfindung in der Praxis
4. Anarchie - bitte ohne Label und kollektive Identitäten
5. Zusammenschau: Organisierung von unten

Anarchistische Organisierung, ob nun im Rahmen der Alltagsorganisierung, in Kultur oder politischem Kampf, in Produktion, Kommunikation oder Konfliktaustragung ist folglich der radikale Verzicht auf jede Form zentraler Steuerung und inszenierter Einheit. Basis ist die Autonomie der Teile, also der Menschen und ihrer freien Zusammenschlüsse als AkteurInnen. Das Netz zwischen ihnen strickt sich aus freien Vereinbarungen, Kooperation, Austausch, produktivem Streit usw. Ziel ist ein Rahmen, in dem viele Aktivitäten Platz haben.

Im Original: Welt der Vielfalt
Aus Ratsch, Ulrich: "Vom guten und vom bösen Menschen", in: Diefenbacher, Hans (Hrsg., 1996): "Anarchismus", Primus Verlag in Darmstadt (S. 53)
Die Schweizer Uhrmacher arbeiteten damals nicht in Fabriken, sondern überwiegend in Heimarbeit. Sie waren, darauf wies Kropotkin hin, weniger an die Einordnung in ein hierarchisches System mit Anweisungen "von oben" und der Ausführung zugewiesener Arbeiten gewöhnt. Sie organisierten ihren Arbeitsablauf selbst und - so Kropotkin - entwickelten mehr geistige Freiheit und Beweglichkeit als die typischen Fabrikarbeiter. Deshalb gab es in dieser Sektion der Arbeiterbewegung keine straffe Kaderorganisation und keine Führer, obwohl es herausragende Köpfe gab, Einzelpersonen, die durch besonderen Eifer oder durch Ideenreichtum hervorstachen. In Genf hatte Kropotkin kurz zuvor erlebt, wie die Führer der dortigen Bewegung die Bauarbeiter manipulierten und daran hinderten, in einen Streik zu treten, nur um sicherzustellen, daß ein Rechtsanwalt, der sich der Bewegung angeschlossen hatte, Aussichten bei der nächsten Bürgerwahl hatte. Diesen Betrug vor Augen, fand Kropotkin die Organisation der jurassischen Uhrmacher erheblich sympathischer. Ähnliche Erfahrungen machte er kurz darauf in Belgien, wo er wiederum den Gegensatz zwischen zentralisierter politischer Agitation in Brüssel und unabhängiger, individualistischer Aktion unter den Tuchmachern in Verviers beobachtete. "Diese Tuchmacher gehörten zu den sympathischsten Bevölkerungsklassen, die ich in Westeuropa angetroffen habe" (MR 11, 92).

Aus Fuchs, Christian (2001) Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus, Libri Books on Demand, Norderstedt (Quelle)
Es kann gesagt werden, daß der Anarchismus i.A. von kleinen organisatorischen Einheiten ausgeht, in denen basisdemokratische Entscheidungen getroffen werden. Dabei ist es eine Streitfrage, ob ein Konsens erzielt werden sollte oder ob Mehrheitsabstimmungen über Entwürfe, an deren Ausarbeitung alle Betroffenen beteiligt waren, stattfinden sollten. Mehrheitsbeschlüsse erhöhen den Exklusionsgrad demokratischer Prozesse, da der Mehrheitswille verbindlich gilt und der Wille der Minderheit unberücksichtigt bleibt. Der Selbstorganisationsgrad sinkt dadurch also und soziale Informationen, die in dem Sinn inklusiv sind, daß jedeR dieselbe Möglichkeit der Gestaltung und Mitbestimmung hat, bekommen einen zusätzlichen, nämlich exklusiven Charakter. In einer anarchistischen Entscheidungsstruktur mit Mehrheitsprinzip haben Entscheidungen einen inklusiv-exklusiven Charakter: Die Exklusion besteht im Mehrheitsprinzip, die Inklusion in dem hohen Maß der Beteiligung aller Betroffenen. Konsensentscheidungen wären also die Idealform, um inklusive soziale Informationen zu etablieren. ...
Allgemein kann festgehalten werden, daß anarchistische Entscheidungsmodelle, die sich durch Dezentralität, Basisdemokratie, kleinere organisatorische Einheiten, Rätemodelle, den Föderationsgedanken und die Selbstbestimmung Betroffener charakterisieren lassen, der Vorstellung von sozialer Selbstorganisation näher kommen als etablierte repräsentativ- und direktdemokratische (Volksentscheid, Volksbegehren, Volksinitiative usw.) Modelle und Elemente, da sie die Etablierung inklusiver sozialer Informationen zu einem wesentlichen Bestandteil ihres Ansatzes machen. Es geht dabei um die Vorstellung, daß Betroffene die Entscheidungsprozesse, als deren Ergebnisse soziale Informationsstrukturen entstehen, selbst bestimmen und gestalten können und daß sie unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch die Fähigkeiten entwickeln können, dies in der Praxis durchzuführen. Es wird von anarchistischer Seite argumentiert, daß der bestehende Gesetzes- und Staatsfetisch sowie die kapitalistischen Verhältnisse dazu beitragen, daß unter den herrschenden Bedingungen eine radikale Basisdemokratie, wie sie der Anarchismus befürwortet, für die Menschen nur schwer vorstellbar ist.


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