Offener Raum

CHAOS UND ANARCHIE ALS PROJEKTION DER APOKALYPSE?

Anarchiehetze war immer ... Blicke in die Geschichte


1. Anarchie als moderne Figur des Teufels
2. Anarchie-Hetze in Theorieform: Herrschaft oder Barbarei
3. Anarchiehetze war immer ... Blicke in die Geschichte
4. Anarchiekritik von Links
5. Seelenheilung: Sind die AnarchistInnen noch zu retten

Seit die Idee von Herrschaftslosigkeit existiert, wird auch gegen sie gehetzt - immer zur Legitimation der Herrschaft und im Interesse der Obrigkeit. Angst vor Chaos und Untergang ersetzt theoretische Fundierung zentraler Steuerung. (Quelle der folgenden Ausführungen)

Anarchiehetze im antiken Athen durch Aristoteles, Platon & Co.
Eine negative politische Dimension im Sinne von 'Verlust der gesetzlichen Ordnung' und 'politischem Chaos' erlangte der Begriff Anarchie bereits in der konservativen aristokratischen Parteisprache Athens des 4. Jhs. v.u.Z. Aristoteles (384-355 v.u.Z.), der den Begriff ebenso wie Platon im Zusammenhang mit seiner Kritik an der Demokratie verwendete, definierte die Anarchie als einen "Zustand der Sklaven ohne Herren", der die Gefahr des Untergangs in Gesetzlosigkeit und Zügellosigkeit beinhalte. Platon (427-347 v.u.Z.) prägte die Formel von der Aufeinanderfolge von Aristokratie, Oligarchie, Demokratie, Anarchie und Tyrannei, die im 19. Jh. von Alexis-Charles-Henry-Maurice Clérel de Tocqueville (1805-1859) u.a. mit geringer Veränderung wieder aufgegriffen wurde.

Hetze im Mittelalter: Anarchie als Entartung der Demokratie?
Ähnlich wie vor ihm Aristoteles und Platon definierte z.B. Niccolo Machiavelli (1469-1527), der Theoretiker des modernen weltlichen Machtstaates, den Begriff Anarchie als eine Entartungserscheinung der Demokratie. Für Machiavelli gibt es drei gute Herrschaftsformen: Monarchie, Aristokratie und Demokratie, welche davon bedroht sind, in Tyrannei, Oligarchie und Anarchie zu degenerieren. ...
Der Humanist Erasmus von Rotterdam (1466-1536) betrachtete die Anarchie als eine ebenso negative, wenn nicht sogar als eine verwerflichere Tendenz wie die Tyrannei, die beide nur durch ein politisches Gleichgewicht aller Machtfaktoren im Staate überwunden werden könnten. Diese Bewertung der Anarchie als einer Degenerationserscheinung des Staates, der sogar die Tyrannei vorzuziehen sei, vertrat auch der französisch-schweizerische Reformator Jean (Johann) Calvin (1509-1564). Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) griff in seiner staatstheoretischen Schrift "Leviathan" den von Machiavelli geprägten Topus "Demokratie produziert Anarchie" erneut auf und kennzeichnete sie als eine Verfallsform politischer Herrschaft. In Deutschland war Friedrich Schiller 1789 in seinen Jenaer Vorlesungen über "Die Gesetzgebung des Lykurg und Solon" zu einer ähnlichen, wenngleich nicht gänzlich antidemokratischen Schlußfolgerung gelangt. Denn unter Verweis auf die Verfassung Solons vertrat Schiller die Auffassung, dass sich die Gefahr der Demokratie, in Anarchie auszuarten, durch "starke Zügel der Demokratischen Gewalt" vermeiden ließe.

Im Original: Geschichte der Anarchieprojektion
Aus Diefenbacher, Hans (Hrsg., 1996): "Anarchismus", Primus Verlag in Darmstadt (S. 7 f.)
Bei einer weit verbreiteten Spielart des Kampfes um die Definitionsmacht wird versucht, den Begriff durch Definition oder Assoziation so zu fassen, daß er als Bezeichnung für gefährliche, abwegige, die Zivilisation bedrohende Ideologien schlechthin dienen kann. Da Autoren, die sich dieser Technik befleißigen, im Fortgang dieses Bandes kaum mehr zu Wort kommen, eine Übersicht über das Verständnis von Anarchie in den letzten 150 Jahren ohne sie aber nicht vollständig wäre, sollen einige besonders krasse Fälle aus den letzten dreißig Jahren zumindest genannt werden. Dies ist eine Auswahl aus einer fast beliebigen Anzahl von Beispielen. Bereits hier begegnet einem eine Eigentümlichkeit, die der Auseinandersetzung um den Anarchismus in besonderem Maße zu eigen ist, die Tatsache nämlich, daß sich bestimmte Diskussionslinien über mehr als hundert Jahre nahezu unverändert erhalten: Schon Hector Zoccoli, der 1906 die erste wissenschaftlich anspruchsvolle Geschichte der anarchistischen Theorie veröffentlicht hat, vertritt die Auffassung, "daß man um so mehr die Bedeutung der Erscheinung des Anarchismus durchdringen kann, je mehr man von dieser Gattung von Publikationen absieht". In diesem Zusammenhang ist es nicht ohne Interesse, daß Zoccoli nach eigenem Bekunden sein sechshundertseitiges Werk abgefaßt hat, "um die praktischen Konsequenzen der anarchistischen Theorie zu überwinden", die seiner Ansicht nach "die allerbedeutendste ethische Verirrung darstellt, die jemals die Welt erschüttert hat". Eine Auswahl der neueren Beispiele in aller Kürze:
  • Der Bund katholischer Unternehmer widmet seine Frühjahrstagung 1971 dem Anarchismus, und den Hauptvortrag beginnt Rechtsanwalt Friedrich Graf von Westphalen mit der Aussage, daß die ihm zugemessene Zeit nicht ausreichen würde, "ein Bild der Zeitirrtümer, Modetrends und mannigfaltigen Auflösungserscheinungen unserer gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung zu malen, aus dessen näherer Beschreibung sich dann die Gefahren des Anarchismus herausschälen würden, die das Morgenrot des Chaos ankündigen.“4 Graf von Westphalen identifiziert eine "breiige, revolutionär gestimmte Masse", deren "intellektuelle Statur und moralische Redlichkeit in aller Regel nicht sonderlich imponierend" sei, und in die er unter anderem die Namen Marcuse, Adorno, Habermas, Dutschke und Cohn-Bendit einordnet.
  • 1975 gibt das Bundesministerium des Innern eine "Dokumentation über Aktivitäten anarchistischer Gewalttäter in der Bundesrepublik Deutschland" heraus, in der "Zellenzirkulare der Häftlinge Baader, Meinhof und Ensslin" sowie "Schriftstücke aus konspirativen Wohnungen der RAF" abgedruckt werden. Inwieweit die Zuordnung der RAF und zu welcher Variante des Anarchismus gerechtfertigt ist, darüber werden keine weiteren Überlegungen angestellt.
  • 1983 verleiht die Philosophische Fakultät der Universität Würzburg mit dem Erst-Gutachter Prof. Dr. Lothar Bossle einen Doktortitel für eine Dissertation zum Thema "Zeitgenössische deutsche Literatur als Ursache oder Umfeld von Anarchismus und Gewalt". Das fünfzehnseitige Literaturverzeichnis der Arbeit nennt keinen einzigen anarchistischen Titel; als Wegbereiter des Anarchismus, der als "direkte Vorstufe zum Terrorismus“ deklariert wird, werden Böll, Enzensberger, Wallraff und Gollwitzer behandelt, deren verzerrte Darstellung der bundesrepublikanischen Wirklichkeit den Boden für Gewalt bereiten würden.
„In jeder Tasche eine Bombe, angefüllt mit Dynamit, den Mordstahl in der einen, die Brandfackel in der anderen Hand - so stellt sich ein Gegner des Anarchismus in der Regel einen Anarchisten vor. Er erblickt in ihm einen Menschen, der, halb Narr, halb Verbrecher, nichts weiter im Sinn hat als die Ermordung eines jeden, der nicht seiner Meinung ist, und dessen Ziel der allgemeine Wirrwarr, das Chaos ist." Diese Worte von Johann Most - der in seinen eigenen Veröffentlichungen sinnigerweise alles nur Erdenkliche getan hat, um dieses (Vor-)Urteil zu bestärken - gelten, wie zu sehen war, hundert Jahre später fast unverändert.


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