Offener Raum

THOMAS ELLWEIN: POLITISCHE VERHALTENSLEHRE

Führungsschicht und einzelner Bürger


1. Aus dem Buch "Demokratie" (SeitenHieb-Verlag)
1. Texte aus Klassikern und aktuellen Theoriewerken (Übersicht)
3. Das Grundlagenprogramm
4. Staat ohne Herrscher
5. Input-orientierte und output-orientierte Demokratie
6. Von den natürlichen Bedingungen der Menschheit im Hinblick auf ihr Glück und Unglück
7. Hamilton/Madison/Jay: Verfassungskommentar
8. Revolution der Demokratie
9. Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein
10. Niklas Luhmann: Die Zukunft der Demokratie
11. Vom Gesellschaftsvertrag
12. Joseph Schumpeter: Elitetheorie
13. Max Weber: Politik als Beruf
14. Die bürgerliche Elite zu ihrem Liebling "Demokratie"
15. Der Staat
16. Thomas von Aquin: Über die Herrschaft des Fürsten
17. Input-orientierte und output-orientierte Demokratie
18. Führungsschicht und einzelner Bürger
19. Die Machtfrage bei Hobbes und Spinoza
20. Vom Staatsrechte, oder dem Rechte in einem gemeinen Wesen
21. Hardt/Negri: Multitude

Aus Ellwein, Thomas (1967): "Politische Verhaltenslehre", W. Kohlhammer in Stuttgart (S. 180 ff. und S. 218 ff.)

Die uns bisher gestellte Frage lautet: Welche Möglichkeiten der politischen Einflußnahme und Kontrolle gibt es unter den gegebenen Verhältnissen für den einzelnen Bürger? Dabei wurden von vorneherein die Besonderheiten einzelner Berufe ausgeklammert. Daß viele Journalisten einen erheblich größeren Einfluß auf die Meinungsbildung in der Öffentlichkeit haben als die meisten anderen Menschen, ist ohnehin klar. Daß Wirtschaftsführer mit Hilfe ihres Geldes und wegen ihrer Position nicht nur in der öffentlichen Werbung ein entscheidendes Wort mitsprechen, versteht sich ebenso wie die Tatsache, daß z. B. Professoren einen weitaus ‘öffentlicheren’ Beruf haben als früher und ihr Einfluß nicht nur aus dem Umgang mit ihren Studenten resultiert. Geistliche beider Konfessionen sind vor allem in der Nachkriegszeit mehr als vordem auch in ihrer meinungsbildenden Funktion beachtet worden; beide Kirchen haben den Zugang zur Öffentlichkeit gesucht und gefunden; ihr ‘Öffentlichkeitsauftrag’ wird nicht bestritten. Auch Schriftsteller, leitende Beamte, führende Militärs, einflußsuchende Schauspieler wären in diesem Zusammenhang zu nennen. Verbandsvorsitzende, Mitglieder von Parteiführungsstäben, die leitenden Berufspolitiker schließlich haben einen gar nicht mehr zu übersehenden Einfluß. In der Demokratie gibt es, das ist zu folgern, eine ‘herrschende Schicht’, gibt es im einzelnen nie genau zu fassende Gruppen, deren Angehörige mehr Einfluß als andere haben, weil insgesamt die wichtigen Schalthebel der Willensbildung und des Vollzugs in ihren Händen liegen und sie deswegen über Amt, Macht oder Reputation leichter zueinander Zugang haben als die, die nicht >dazu’ gehören.
Nur Anhänger utopischer Ideale verkennen solche Gegebenheiten oder lehnen sie ab. Sie erheben z. B. den Vorwurf, dies alles sei Kennzeichen der ‘Klassengesellschaff’. Indessen: Keine Organisation eines Gemeinwesens kann funktionieren, ohne daß Führungsaufgaben der verschiedensten Art wahrgenommen werden. Keine Organisation eines Gemeinwesens kann auch ausschließen, daß die Führungsfunktionen der verschiedenen Bereiche - wie Politik, Wirtschaft, Kultur - miteinander in gewissem Umfange verzahnt sind, also keine reinliche Scheidung erfolgt und im Gegenteil Kontakte der verschiedensten Art geradezu Voraussetzung des Funktionierens der gesamten Organisation sind. Nicht darin läßt sich deshalb ein Verstoß gegen das Leitbild der Demokratie sehen; tatsächlich sind durch dieses Leitbild andere Maßstäbe gesetzt und an ihnen müssen die gegebenen Verhältnisse gemessen werden.
Erstens schließt die demokratische Ordnung nicht das Vorhandensein einer Führungsschicht aus, verlangt aber, daß diese Schicht ‘offen’ ist. Eine solche ‘Offenheit’ kann angenommen werden, solange die Zugehörigkeit zur Führungsschicht nicht ausschließlich durch Abstammung, Besitz oder Bildungszertifikate vermittelt wird, sondern durch Wahl, durdi andere Beauftragung, durch eigene Leistung, durch selbständiges Betreten der ‘Sphäre der Öffentlichkeit’ mit Hilfe eigener Ideen, guter Vorschläge oder verständiger Kritik. Oft genug war von der Chancengleichheit in der Demokratie die Rede. Meist geht es dabei um die Aufstiegschancen; wir müssen hier aber die Chance, Zutritt zur Führungsschicht zu finden, immer mitdenken.
Nun läßt sich zweifellos positiv wie negativ sehr vieles über diese Chancengleichheit und ihre Vorbedingungen in unserem Lande sagen. Würde die vorliegende Verhaltenslehre umfassendere Ansprüche erheben, dann wäre an dieser Stelle auch Platz für solche Ausführungen. Wir müßten z. B. fragen, ob die innerparteiliche Demokratie ausgeprägt genug ist, um befähigten und einsatzbereiten Mitgliedern den Aufstieg innerhalb der Partei zu ermöglichen. Wir müßten weiter z. B. fragen, wie es vergleichbar in den Verbänden und in sonstigen organisierten Gruppen steht, die alle von der Gefahr bedroht sind, daß sich eine selbstgenügsame Hierarchie ausbildet und sich gegenüber den Mitgliedern abschließt. Wir müßten auch fragen, ob denn ein ‘Unbekannter’ überhaupt noch Chancen hat, seine literarischen Produkte in Zeitungen, beim Funk, im Fernsehen oder bei einem Verlag unterzubringen und sich damit eine Plattform zu schaffen, von der aus sich allmählich eine selbständige Position aufbauen läßt. Wir wollen hier aber nicht in Einzelheiten gehen, deshalb nicht noch weitere Fragen markieren und auch die bereits genannten nicht beantworten.
Nur eines muß wohl gesagt werden: Einheitliche Antworten auf solche Fragen sind nicht möglich. Der eine vergleicht mit früheren Zeiten und kommt deshalb zu dem Ergebnis, die Chancengleichheit sei heute erheblich größer. Der andere geht ganz vom Begriff der Gleichheit aus und wird von daher kritisch die Verschiedenartigkeit der Startbedingungen würdigen. Dem dritten ist der Gleichheitsaspekt überhaupt fatal. Er geht von der Freiheit aus und rechnet es um ihretwillen zu den Selbstverständlichkeiten, daß ein jeder entsprechend seinen Fähigkeiten und Begabungen ‘aufsteigt’ oder auf seinem Startplatz verbleibt. Und so läßt sich ein ganzer Katalog von Beurteilungsmaßstäben aufzählen, an denen gemessen die Antwort auf unsere Fragen jedesmal anders ausfällt. In einer eigenen Antwort würde ich wie andere Freiheit und Gleichheit in einen sinnvollen Bezug zueinander setzen wollen, dabei aber der Auffassung sein, daß Wille und Fähigkeit zur Freiheit sehr wohl der Ausbildung bedürfen. Für sie zu sorgen ist Sache des einzelnen; das Gemeinwesen sollte ihm dabei helfen. Ich meine, es helfe ihm zu wenig, solange unser Schulwesen insgesamt noch nicht im Mittelpunkt unserer gemeinsamen Aufgaben steht und seine Organisation noch zu sehr von der ständischen Überlieferung geprägt ist - ganz anders als ‘die Gesellschaff’.
Wie dem auch immer: Zumindest teilweise ist hierzulande Chancengleichheit gegeben. Das Naserümpfen einiger ‘Akademiker’ über Minister, die früher einmal Facharbeiter waren, beweist das ebenso wie das Naserümpfen, das man bekanntlich auch bei Facharbeitern findet, die nicht Minister oder Gewerkschaftsvorsitzende geworden sind und nicht zuletzt deshalb ihre ehemaligen Kollegen für ungeeignet halten. jedenfalls ist das erste Grunderfordernis einer demokratischen Ordnung erfüllt, wenn die Zustände in dieser Hinsicht natürlich auch verbesserungsfähig sind. Im übrigen müssen wir den ganzen Komplex aber ausklammern, weil unsere Verhaltenslehre enger ist und sich nicht mit Aufstiegsproblemen und den Chancen solcher beschäftigt, die hauptamtlich in die Politik einsteigen möchten.
Zweitens schließt die demokratische Ordnung nicht das Vorhandensein einer Führungsschicht aus, verlangt aber, daß diese Schicht kein Herrschaftsmonopol innehat. Mindestens in begrenztem Umfange muß jeder Bürger auf die politische Willensbildung einwirken, die Handelnden beauftragen und kontrollieren und sich gegen erlittenes Unrecht zur Wehr setzen können. Das bisher in diesem Buch Ausgeführte erbringt den Beweis, daß an solchem Maßstab gemessen das zweite hier zu nennende Grunderfordernis einer demokratischen Ordnung weithin erfüllt wird, wenn sich auch wiederum manches verbessern ließe. Viele Bürger, die nicht zur führenden Schicht zählen, wirken nebenamtlich oder auch hauptamtlich am Vollzug politischer Entscheidungen mit.

Alle Bürger nehmen an der Beauftragung der Handelnden teil. jeder Bürger kann die Verantwortung der Handelnden durch kritische Herausforderung deutlich machen. jeder Bürger kann öffentlich Vorschläge für das Bewältigen der gemeinsamen Aufgaben vortragen und andere Vorschläge zurückweisen. Mindestens viele Bürger sind außerdem noch unmittelbar am Prozeß der politischen Willensbildung beteiligt. So gibt es wohl ein übergewicht der führenden Schicht, aber kein wirksames Monopol. Praktisch besteht eine klare Wechselbeziehung zwischen dieser Schicht und den übrigen Bürgern, die in der Wahl ganz deutlich wird. Sie könnte natürlich wirksamer sein, wenn sich mehr Bürger sinnvoll ihrer Möglichkeiten bedienten und mehr Angehörige der führenden Schicht bereitwilliger auf das hörten, was an sie herangetragen wird.
Drittens muß endlich die demokratische Ordnung dem einzelnen nicht nur irgendwelche Mitwirkungsmöglichkeiten einräumen. Freiheit setzt auch voraus, daß solche Möglichkeiten der Zahl nach unbegrenzt und der Art nach zumindest nicht zu sehr eingeschränkt sind. Das bedeutet: Werden Verhaltensmöglichkeiten derart stark kanalisiert, wie das z. B. in einem Strafverfahren der Fall ist, wenn dem Angeklagten nur die Alternative eingeräumt ist, sich über das Verhängen einer Untersuchungshaft zu beschweren oder gar nichts zu tun, dann hat das zwar prohibitive und kontrollierende Wirkung und läßt auch denjenigen, der so fragt, nicht ganz ohne Schutz, begrenzt aber seine Entschließungsmöglichkeiten mehr als es mit wirklicher Freiheit der Entscheidung zu vereinbaren ist. Freiheit verlangt die Möglichkeit der Wahl, und diese muß bis zu einem gewissen Grade unberechenbar sein, weil nur so die verschiedenartige Verhaltens- und Reaktionsweise der Menschen zum Ausdruck kommen kann. Das ist noch näher zu begründen.

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