Offener Raum

IWF/WELTBANK IN PRAG 2000

Prag – ein Resümee


1. Einleitung
2. Prag – ein Resümee
3. Prag ist vorbei, seit einem Monat
4. S26 in Prag war ein voller Erfolg: Die Straßen von Prag gehörten uns!!
5. Bericht aus der Aktionswoche
6. Der Sturm nach dem Sturm
7. Soli-Arbeit danach 
8. Links

Kungel, Eventhopping und Inhaltsleere – ein „deutscher“ Weg nach Prag
oder: Irgendwann fängt alles bei Null an!
Ein Text der Gruppe Landfriedensbruch zu Kritik und Perspektiven politischer Arbeit nach der jämmerlichen deutschen Mobilisierung zu IWF/Weltbank

Vorweg
Dieser Text beschreibt die Vorbereitung der Proteste gegen IWF- und Weltbank in Deutschland. Er sagt nichts über Aktivitäten in anderen Ländern und auch nichts über die Aktionswoche in Prag selbst.

Spalten, Kungeln und Intransparenz
Die Vorbereitung von Prag war Beginn an durch gegenseitige Ausgrenzung und Spaltungen gekennzeichnet. Die HauptakteurInnen des Widerstandes zu Prag verhielten sich nicht offen, sondern agierten in intransparenten Gruppenstrukturen. Mitsprache und –wirkung blieb so auf einen kleinen Personenkreis beschränkt.
1. Rekordverdächtig: Gar kein erstes Treffen mehr! Alle Abgrenzungen und Spaltungen vollzogen sich bereits ohne ein erstes gemeinsames Treffen – ein Novum in der Geschichte der „Linken“. Erstmal gab es gar kein offenes Treffen zur Vorbereitung der Aktivitäten. Nach der Formulierung entsprechender Kritik versuchten Einzelpersonen aus einigen Gruppen (Anti-Expo, Linksruck, Netzwerk gegen Konzernherrschaft) ein informelles Koordinationstreffen zu schaffen, um wenigstens das Minimum an Informationsaustausch und gegenseitiger Unterstützung zu erreichen. Diese Runde, die „Koordination Prag 2000“ (dreimaliges Treffen in Frankfurt) gewann aber nie an Bedeutung und konnte daher nur wenig an tatsächlicher Zusammenarbeit initiieren. Als Grundlage der Spaltungen und Ausgrenzungen dienten z.B. Antipathien zwischen radikalen Gruppen (vor allem aus der sog. „autonomen Szene“) und den etablierten Verbänden und Netzwerken sowie die Ausgrenzung von Linksruck. Kritik an Linksruck wurde nie als (wichtige und auch aus unser Sicht richtige!) Infragestellung der internen, oft hierarchischen Strukturen, der Oberflächlichkeit politischer Parolen oder der Bündnispolitik formuliert, sondern immer ausgrenzend. Dabei wurden die aktuelle Lage und das reale Verhalten von Linksruck im bundesweiten Pragwiderstand gar nicht betrachtet, sondern frühere Erlebnisse, Vorurteile und Gerüchte benannt.
2. Keine Treffen, keine Rundbriefe, keine offenen Verteiler: Von den HauptakteurInnen des Pragwiderstandes, vor allem der sog. „Neolib@“-Gruppe und einigen NGO, gingen keinerlei Aktivitäten aus, andere Gruppen oder größere Personenkreise an der Vorbereitung zu Prag zu beteiligen. Die wichtigsten Aktivitäten, die Erarbeitung von zwei Broschüren, einem Plakat und der Internetseite liefen sogar ohne jegliche Mitwirkungsmöglichkeit für Außenstehende. Es gab in der gesamten Vorbereitung zu Prag in Deutschland KEIN von den HauptakteurInnen eingeladenes offenes Treffen, KEINEN offenen Rundbrief oder andere Infoflüsse sowie bis auf die letzten Tage vor der Aktionswoche in Prag KAUM Informationsstreuung über die offene Mailingliste. Zeitweise bauten einige zentrale Personen in „Neolib@“ eigene Verteiler ausgewählter Personen auf, um nicht einmal die gesamte „Neolib@“-Runde informieren zu müssen (Hinweis: Die Kritik an der „Neolib@“-Gruppe wird hier pauschalisiert, tatsächlich gab es innerhalb der Gruppe, die selbst eine Vernetzung zwischen AkteurInnen aus verschiedenen Zusammenhängen ist, sehr unterschiedliche Auffassungen und auch Kritik an der Intransparenz der Prag-Mobilisierung – zudem sei darauf hingewiesen, daß in der Vorbereitungszeit gerade die „Neolib@“-Runde richtige Überlegungen zu horizontaler Vernetzung und Aktionsformen von unten entwarf, aber dann selbst nicht verfolgte).
3. Intransparente Arbeitsschritte: An KEINER Stelle war für Außenstehende jemals sichtbar, wer was wo macht und wie eine Kontaktaufnahme mit den konkreten Personen möglich war. Einzig wurde eine Kontaktadresse in Bonn angegeben. Wer dort Anfragte, trat als BittstellerIn auf (Material- oder ReferentInnenanfrage), Mitwirkung war über diesen Weg – und damit gänzlich - nicht möglich. Durch eine Vielzahl von Kontakten in wichtige Verteiler, Organisationen und andere Strukturen (Internet, fzs, BUKO usw.) und aufgrund der geringen Aktivität aus anderen Zusammenhang (was nicht Schuld von „Neolib@“ ist!) konnte die handelnde Gruppe die gesamte Prag-Vorbereitungsarbeit dominieren.
4. Kontrollierte Auswertung: Fortsetzung nichttransparenter Strukturen: Eine öffentlich vereinbartes Nachbereitungstreffen soll es nicht geben. Das aus dem Expo-Widerstand vorgeschlagene Treffen vom 13.-15.10. zur gemeinsamen Auswertung von Expo- und IWF/Weltbank-Widerstand (siehe Termine am Ende) wurde von den meisten pragvorbereitenden Gruppen ignoriert – auch in vielen Pressetexten in „linken“ Medien, die aus den Vorbereitungskreisen heraus geschrieben werden, sowie in den Broschüren der „Neolib@“-Gruppe zu Prag fehlt dieser Termin. Angestrebt wird ein informelles Nachbereitungstreffen am Rande des BUKO (siehe Termine am Ende).
4. Weitere Zusammenhänge: Neben der „Neolib@“-Gruppe haben auch andere Gruppen und Netzwerke Aktivitäten zu Prag vorbereitet. Den Versuch, transparent zu agieren, gab es nur bei der „Koordination Prag 2000“. Ebenfalls ohne jegliches Bemühen um Vernetzung agierten einige etablierte Verbände oder Netzwerke etablierter Gruppen. Bei der Mobilisierung in Städten und Regionen verliefen die Vorbereitungen sehr unterschiedlich. Im Mittelpunkt stand meist das Chartern von Bussen, seltener eine inhaltliche Debatte oder die Vorbereitung dezentraler Aktionen. Viele Gruppen ignorierten die Mobilisierung, federführend bei der Mobilisierung für Busfahrten nach Prag waren meist Linksruck-Gruppen. In einigen Städten grenzten Linksruck-Gruppen radikale Gruppen gezielt aus, um mit GewerkschaftsfunktionärInnen Bündnisse eingehen zu können (z.B. in Marburg).

Restauration alter Machtverhältnisse in der „Linken“
Der Prag-Widerstand steht einerseits in Kontinuität der „linken“ und NGO-Strategien der 90er Jahre, zum anderen in einer deutlichen Distanz zu den Diskussion um den Expo-Widerstand. Gegenüber diesem kommt die Art des Prag-Widerstandes einer Restauration alter Strategien und Machtstrukturen gleich.
1. Zur Lage im Sommer 2000: Vor allem im Jahr 1999 ging aus dem Expo-Widerstand eine Debatte um Strategien radikaler Politik hervor, die die Überwindung verkrusteter Strukturen und zentralistischer Aktionsformen zum Ziel hatte. Zudem entstand eine inhaltliche Debatte, die etliche neue Aspekte und Weiterentwicklungen politischer Positionen erreichte, z.B. die Thematisierung der Biopolitik als Handlungsfeld, die Formulierung von visionären Ideen für eine emanzipatorische Gesellschaft, die Debatte um eine emanzipatorische Ökologie oder die Planung von Blockade- und Aktionsformen „von unten“. Durch eigene Fehler (z.B. die Fixierung auf eine aktionsbezogene Debatte zum 1.6.), aber auch durch im Frühjahr 2000 stark zunehmende Kritik an den neuformulierten Strategien des Expo-Widerstandes seitens altlinker Gruppen, die die alten zentralistischen und intransparenten Arbeitsformen oder eine reine Theorieorientierung verteidigten, konnte sich der Expo-Widerstand in der konkreten Aktion nicht so umsetzen wie erhofft. Nach der nur teilweise gelungen Expo-Aktionswoche um den 1.6. entwickelte sich die Debatte nicht weiter. Ganz im Gegenteil: In der Mobilisierung zu Prag setzen sich wieder alte Konzepte durch. Diese wurden z.T. bewußt gegen die Strategien aus dem Expo-Widerstand gesetzt, der auch direkt z.B. als „inhaltslos“ diskreditiert wurde.
2. Führungsansprüche, Ausgrenzung und Kungel: Im Konkreten entstanden für die Vorbereitung von Prag die für die Linke der 90er Jahre typischen zentralistischen Strukturen, die keinerlei Offenheit oder Chancen der Mitarbeit boten für Menschen, die nicht zum Dunstkreis der HauptakteurInnen gehörten (siehe oben). Symptomatisch war die deutsche Version der Internetseiten zu den Aktivitäten in Prag: Statt Berichterstattung aus Prag fand sich dort die ganzen Aktionstage über nur der Text, daß autonome Gruppen den Widerstand prägen und die tollsten seien. Null politischer Inhalt, nicht einmal das einfachste, nämlich eine Berichterstattung, funktionierte auf irgendeiner deutschsprachigen Seite.
3. Bewegungsarroganz in „linke“ Medien: Wie schon bei früheren Aktivitäten entpuppten sich die meisten „linken“ Medien als bewegungsarrogant. Sie verschwiegen Termine, Diskussionen usw. oder diffamierten teilweise die AkteurInnen. Ähnlich wie beim Global Action Day am 30.11.99 oder zum Expo-Widerstand muß auch rund um Prag festgestellt werden, daß die meisten „linken“ Medien keinesfalls als Teil politischer Bewegung zu begreifen sind, sondern sich bewußt außerhalb und über diese stellen. Sie sind KommentatorInnen des politischen Geschehens, entwickeln dieses aber nicht mit. Ihre politische Relevanz ist so minimal.

Strategische Fehler
Nicht nur die zentralistischen Strukturen verhinderten eine sinnvolle Vorbereitung des IWF/Weltbank-Widerstandes aus Deutschland heraus, es kam zudem zu teilweise unfaßbaren organisatorischen Mängeln.
1. Mobilisierung zur Mitarbeit: Obwohl gerade die „Neolib@“-Gruppe (richtigerweise!) zur Selbstorganisation von Aktionen aufrief, tat die Gruppe wenig, um diesen Prozeß auch tatsächlich zu fördern. Dafür wäre nötig gewesen, konkretere Hilfen und Anregungen anzubieten, die überregionalen Strukturen für ein Mitmachen und für Selbstorganisationsprozesse zu öffnen. Welch ein Unterschied zum Expo-Widerstand mit seinen intensiven bundesweiten Treffen, dem Aufbau regionaler Zusammenhänge, Seminaren und Hunderten von Veranstaltungen und Veranstaltungsreihen im Vorfeld, Materialien, intensiven Mailinglisten-Debatten usw.!
2. Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: In Deutschland gab es überhaupt keine organisierte Pressearbeit. Einzelne AkteurInnen nutzten ihre Kontakte zu einzelnen Zeitungen für Texte. Selbst die für den Expo-Widerstand geschaffene Pressestelle, betreut von AkteurInnen aus dem „Neolib@“-Zusammenhang (daher wäre ihre Aktivität zu Prag eigentlich naheliegend gewesen), wurde nicht für Prag genutzt. Die „Koordination Prag 2000“ konnte niemals eine Arbeitsfähigkeit erreichen, so daß die dort formulierte Idee, Pressearbeit vor, während und nach Prag zu machen, mißlang.
3. Streuung von Materialien: Immer wieder waren die gedruckten Materialien nicht verfügbar, teilweise wurden einzelne Gruppen als Akt gezielter Ausgrenzung bewußt nicht beliefert. So litt die „Koordination Prag 2000“, das einzige offene Vernetzungstreffen zu Prag, ständig darunter, daß die Materialien aus der „Neolib@“-Gruppe nicht rechtzeitig oder gar nicht verfügbar waren. So entstand aus dieser Not auch die eigene Mobilisierungszeitung – ein Stück Kraftverschwendung durch Doppelarbeit.
4. Mangelnde Aktionsfähigkeit etablierter Verbände: Wie schon bei früheren Kampagnen zeigten sich die etablierten Verbände (in Deutschland vor allem über den Begriff „NGO“ abgrenzbar) unfähig, konkrete Aktionen vorzubereiten bzw. Menschen zu mobilisieren. Hier hat sich gegenüber den katastrophal entpolitisierten Aktionsformen zu den Gipfeln in Köln (Juni 1999) sogar noch eine deutliche Verschlechterung ergeben: Die modernen NGOs Deutschland mobilisieren gar nicht mehr, sondern ihre SpitzenfunktionärInnen versuchen, als LobbyistInnen und PR-ManagerInnen am Geschehen teilzuhaben. Einige, vor allem neuere Gruppen bestehen nur aus einigen SpitzenfunktionärInnen, die herumreisen, Lobbypolitik und hochprofessionelle PR-Arbeit machen, aber keinerlei Basis(kontakte) mehr haben. KEIN großer deutscher Verband und nur wenige Netzwerke (BUKO, Euromarsch u.a.), jedoch mit wenig Aktivitäten, mobilisierten für den Prag-Widerstand mit!!! Als einzige Organisation stand Linksruck voll hinter der Mobilisierung und setze seine Strukturen dafür ein.

Inhaltsleere, Langeweile, Eventhopping
1. Fehlende Diskussionen um Inhalte und Strategien: Der Prag-Widerstand zeigte eine beeindruckende Geschichtslosigkeit. Vor allem die in den Monaten davor gelaufenen Strategiedebatten und anschließenden Analysen zum Expo-Widerstand wurden sehr grundlegend mißachtet – und das bewußt. So fehlten die dort entwickelten Aktionsstrategien und inhaltlichen Positionen ebenso wie die Strukturen, z.B. Presseverteiler und –stellen, Adreßverteiler usw. Inhaltliche Debatten aus dem Expo-Widerstand fanden keinen Eingang in die Prag-Vorbereitung. Die Broschüren und Zeitungen der Prag-Vorbereitung enthalten kaum inhaltliche oder strategische Positionen – und wenn, dann sind sie niveaulos und/oder veraltet. Bereits nach der Expo-Aktionswoche analysierte Fehler wurden zu Prag wiederholt.
2. Vorbereitungsarbeit: Die Vorbereitungsarbeit konzentrierte sich fast ausschließlich auf die Organisation einfacher Aktionsformen, z.B. die Mobilisierung von Bussen oder das Erstellen von Schriften mit organisatorischen Hinweisen. Konkrete Aktionen wurden (mit Ausnahme der Karawane) nicht verfolgt, obwohl z.B. durch Anregungen aus anderen Ländern (Frankreich oder vor allem Italien) dieses sehr einfach möglich gewesen wäre.
3. Karawane: Als einzige eigenständige Aktion in Bezug auf Prag rollte ab dem 10. September die Karawane NIXDA 2000 von Hannover nach Prag. Der Verlauf der Karawane bietet eine bemerkenswerte Anschauung über die Interventionsunfähigkeit, die Positionslosigkeit und die intransparenten Strukturen deutscher „Linker“. Die Karawane baute bis zum Ende keinerlei Handlungsstrukturen auf, die eine Aktionsfähigkeit hätten entwickeln können. So gab es zwar auf dem ersten Plenum bereits den Vorschlag zur Bildung von Bezugsgruppen (der auch angenommen wurde), jedoch außer einer, bestehend aus dem Team des Aktionsmobils plus einigen Einzelpersonen, die in der zweiten Hälfte der Karawane auch eigene Plena durchführten und Vorschläge in das Gesamtplenum einbrachten bzw. eigene Aktionen vorbereiteten, gab es keinerlei Selbstorganisationsstrukturen. Alles wurde über das (völlig planlos agierende) Plenum oder über informelle, intranspartente Strukturen (z.B. die InhaberInnen der drei Funkgeräte) entschieden. Zwischen den informellen Dominanzstrukturen und der transparenten Bezugsgruppe rund um das Aktionsmobil entwickelten sich etliche Konflikte. Am Ende wurde der Bezugsgruppe ums Aktionsmobil sogar „Separatismus“ vorgeworfen, obwohl sie als einzige das gemacht hatten, was von allen beschlossen war: Handlungsfähigkeit in kleinen Bezugsgruppen herstellen. Neben diesen organisatorischen Punkten fiel noch die völlige Inhaltsleere, die Unlust zu politischen Debatten und die unfaßbare Ablehnung von konfrontativem Verhalten (z.B. gegenüber der Polizei) auf. So wurde der Gruppe um das Aktionsmobil beim Erreichen der tschechischen Grenze untersagt, Ausrufe wie „Für offene Grenzen“ über das Soundsystem durchzusagen, da dies die Grenzpolizei negativ einstimmen könnte. Die Karawane glich so meist mehr einer netten Radtour als einer politischen Aktion.
4. Mitwirkung von deutschen AktivistInnen in Prag: Schwach war auch die Beteiligung aus Deutschland an der konkreten Vorbereitung in Prag. Meist hielten sich nur sehr wenige Personen dort auf, obwohl die Entfernung am geringsten war gegenüber Ländern, die sich intensiver beteiligten.
5. Masse statt Klasse: Große Teile der Vorbereitung waren reines Eventhopping. Ohne jegliche inhaltliche Debatte und Öffentlichkeitsarbeit wurden Busse gechartert, um Massen nach Prag zu bringen. Die reine Orientierung auf das Eventhopping ist z.B. deutlich daran zu erkennen, daß es keine oder kaum Aktionen in Städten und Regionen gab. Der Global Action Day fiel in Deutschland mehr oder weniger aus. Auf den internationalen Internetseiten zum Global Action Day war nicht einmal eine Kontaktadresse für Berichte aus Deutschland zu finden. Spitzenreiter des Eventhoppings war Linksruck, die vor allem Busfahrten nur für den 26.9. nach Prag organisierten, während die „Neolib@“-Runde immerhin mit dem kurzen Text „Prag selbst organisieren“ an einer Stelle in politische Debatten eingriff. Das wars dann aber auch.

Perspektiven
Die Qualität der Prag-Aktivitäten in Deutschland ist kaum zu unterbieten. Gegenüber den Aktivitäten zu Köln im Juni 1999 ist zwar als Verbesserung zu vermerken, daß es keine direkt sichtbaren Anbiederungen an Regierungs- oder Wirtschaftskreise gegeben hat, aber das lag bei näherer Betrachtung mehr an der Unfähigkeit weniger radikaler Gruppen (z.B. Verbände und Netzwerke) und der noch gestiegenden Neigung vieler SpitzenfunktionärInnen zum Agieren in Hinterzimmern. Es war die notwendige Entscheidung, emanzipatorische Politik unter den gegebenen Verhältnissen widerständig zu begreifen.

Debatte um Strategien und Ziele
Die Diskussion um Strategien und Ziele politischer Arbeit muß wieder aufgenommen werden. Anknüpfungspunkte bieten vor allem die Diskussionen im Expo-Widerstand in der Vorbereitungsphase im Jahr 1999 sowie die Diskussionen in einigen Teilbewegungen, die emanzipatorische Politikformen und –themen neu entwickeln (Biopolitik, Umweltschutz von unten, einige inhaltlich-strategische Positionen der „Neolib@“-Gruppe, Gender-Debatte usw.). Anregungen können zudem andere Länder bieten, in denen der Aufbau widerständiger Bewegungen für eine emanzipatorische Politik weiter vorangeschritten ist (Chiapas, Indien, Italien, seit Seattle auch USA/Kanada). Wichtig ist die Neuformulierung politischer Position angesichts modernisierter Herrschaftssysteme (Neoliberalismus, Biopolitik, Ökokapitalismus usw.), die Entwicklung konkreter Formen widerständiger Praxis und der Entwurf visionärer Alternativen und Szenarien für die Zukunft oder Teile von Gesellschaft (hier könnte das Buch „Freie Menschen in Freien Vereinbarungen“ einen ersten Ansatzpunkt bieten, das dieses Jahr mit einer visionären Gesellschaftsanalyse und –konzeption erschien).
Emanzipatorische Binnenverhältnisse: Was als Ziel emanzipatorischen Widerstands gilt, sollte dort, wo Räume erobert oder geschaffen werden können, konsequent umgesetzt werden. Der Abbau aller Herrschaftsstrukturen, Diskriminierungen und zentralistischen Entscheidungsformen muß wieder neu inganggesetzt und konsequent verfolgt werden. Bewegung von unten als Ziel bedeutet, allen zentralen Gremien und Vernetzungsstrukturen jegliche Entscheidungskompetenz zu nehmen. Bewegung ist ein Zusammenhang „freier (d.h. selbständiger, autonomer) Gruppen in freien Vereinbarungen“. Vernetzung organisiert den Austausch und die Bildung von Kooperationen/Vereinbarungen zwischen wenigen, vielen oder allen.
Unser konkreter Vorschlag: Überall die Debatte um „Bewegung von unten“, politische Positionen und Visionen, Aufbau autonomer Strukturen (eigener Medien, Aktions- und Kommunikationsformen) usw. beginnen. Möglich sind neben der Diskussion in Gruppen und Vernetzungstreffen Veranstaltungen wie Vorträge, Diskussionen und Seminare sowie die Debatte in „linken“ Medien, sofern sie gewillt sind, sich als Teil der Debatte um politische Strategien zu begreifen. Teil der Debatte muß die offene Kritik an gemeinsamen Aktivitäten sowie auch untereinander sein – nur durch die ständige direkte Intervention gegenüber Fehlern, Mängeln usw. kann ein Prozeß der emanzipatorischen Umgestaltung auch intern bewirkt werden. Kritik hat dabei aber nicht die Funktion von Ausgrenzung, emanzipatorische Veränderung geschieht nicht durch Spaltungen und Rauswürfe, sondern durch kontinuierliche Veränderung, angeregt durch offene, wenn nötig schonungslose Kritik an der eigenen Politik- und Vernetungsformen, dem Verhalten von Einzelnen und Zusammenhängen.

Aktionsformen entwickeln und trainieren
Den meisten politischen Gruppen und EinzelakteurInnen in Deutschland fehlt die Fähigkeit zur direkten Aktion. So fallen konkrete Aktionen meist sehr bieder aus, dominieren zentralistisch-langweilige Großaktionen (Latschdemos, Sitzblockaden u.ä.) oder verlagern sich (wie bei den etablierten Verbänden) immer mehr in den Bereich des Lobbyismus. Ein Prozeß, der andernorts (wie z.B. vor Seattle, in Italien oder England) dazu führte, daß viele aktionsfähige Basisgruppen und auch wirkungsvolle Konzepte für Großaktionen (z.B. „White overalls“ in Italien) entstanden, ist in Deutschland weitgehend unterblieben oder nur in geringem Umfang gelungen (z.B. einige Gruppen bei Anti-Castor-Aktionen, einzelne Anti-Naziaufmarsch-Aktionen oder der Expo-Widerstand am 1.6.).
Unser konkreter Vorschlag: In allen Regionen und Städten (Direct-Action-)Gruppen bilden (möglichst mit Menschen aus verschiedenen Gruppen von Antifa über feministische und internationalistische bis zu Ökogruppen), Strategien und Aktionsformen diskutieren und trainieren (von Blockade über Sabotage, Schutz vor Repression bis zu Kommunikationsguerilla und Internethacking). Dazu sollte es ein bundesweites Netz der Direct-Action-Gruppen geben mit Seminaren, Trainings und der Diskussion von Aktionsformen bei Großereignissen. Ziel ist, daß dann jeweils aus diesen Zusammenhängen konkrete Vorschläge entwickelt, in die Diskussion eingebracht und auch umgesetzt werden. Als erstes Treffen ist der 22.-26.11. ins Auge gefaßt (siehe Termine am Ende).

Widerstand organisieren – überall!
Die typische Kritik nach großen Events, nicht weiter die von herrschender Seite bestimmten Termine zu nutzen, sondern eigene Termine zu setzen, teilen wir nicht. Zum einen schließt das eine das andere nicht aus, zum anderen geht die Kritik an den eigentlichen Gründen des Mißerfolgs von Aktivitäten vorbei. Wir halten Symbole von Herrschaft und Ausbeutung, seien es Castortransporte, Gelöbnisse oder Tagungen von Herrschaftsinstitutionen, für angreifbare Punkte, an denen eine politische Thematisierung möglich ist (wenn es auch wegen schwerer Fehler in den politischen Strategien zur Zeit nicht gelingt). Allerdings sollten zum einen die Symbole in Zukunft stärker danach ausgesucht werden, wo eine Thematisierung über den einen Einzelpunkt hinaus möglich ist (nicht nur Castor, sondern z.B. Urananreicherung angreifen; nicht nur Faschoglatzen, sondern z.B. Burschenschaften, rechte Parteizentrale, faschistoide/rassistische Einrichtungen der gesellschaftlichen „Mitte“ angreifen usw.). Zum anderen muß endlich und nachdrücklich ein Widerstand überall, d.h. in allen Städten und Regionen entstehen. Symbole für alle Formen von Herrschaft finden sich überall – seien es Konzerne, Ämter, Denkmäler, Kasernen, Büros usw. Direkte Aktionen bieten die Chance einer Thematisierung und einer damit gekoppelten politischen Debatte.
Unser konkreter Vorschlag: Weiter „Events“ und überregional bedeutsame Symbole nutzen, aber präziser auswählen und die daran geknüpfte politische Debatte konsequent anzetteln (rund um Prag wurde das in Deutschland nicht einmal mehr versucht!). Wichtiger aber ist noch, in allen Städten und Regionen aktionsfähig zu werden. „Basis“ ist nicht nur die Rekrutierungsebene für Großereignisse, sondern der entscheidende Ort gesellschaftlicher Thematisierung über direkte Aktionen und politische Positionen. Faschismus, Sexismus, Umweltzerstörung, rassistische Hetze und Ausgrenzung, die Durchsetzung der Verwertungslogik oder neuer Wertkategorien von Menschen – all das findet ständig und überall statt. Vor Ort, in Schule/Hochschule, in Betrieben, in Behörden und überall anders im direkten Umfeld ist der Widerstand möglich und führt sofort zu direkten Reaktionen, die politische Debatten ermöglichen.

Quellen/Literatur:
  • Expo-Widerstand: Ex-Anti-Expo-Seite www.projektwerkstatt.de/hoppetosse/expo (Berichte, aktuelle Informationen, Auswertung der Aktivitäten
  • Buch „Freie Menschen in freien Vereinbarungen“ (14 € bei der Projektwerkstatt, Ludwigstr. 11, 35447 Reiskirchen und unter www.opentheory.org/proj/gegenbilder mit Diskussionsforen)
  • Ö-Punkte-Ausgabe „Sommer 2000“, Schwerpunkt „Bewegung von unten“ (5 plus 2 DM Porto bei der Projektwerkstatt)
  • Diskussion „Umweltschutz von unten“ unter go.to/umwelt

KÖLN, EXPO, PRAG, NIZZA & DAVOS

(aus den Ö-Punkten, Winter 2000/01, Themenredaktion "Weltwirtschaft")

 Von Event zu Event und vor lauter keine Kraft und Zeit mehr für den Widerstand im Alltag?
Proteste und Aktionen gegen WTO, IWF & Weltbank, sprich den treibendenKräften einer neoliberalen Umstrukturierung der Wirtschaft, sind wahrscheinlichvergleichbar mit Don Quichottes Kampf gegen die Windmühlen, zumindest wenn der Widerstand daran gemessen wird, welche sofortigen Änderungen dadurch erzielt werden. Auch wenn beim nächstenGipfel noch mal mehrere tausend DemonstrantInnen hinzu kommen, wirdsich an der aktuellen Politik dieser Institutionen nichts ändern. Trotzdem haben solche Massenproteste sowohl für die GipfelteilnehmerInnenund Medien als auch für die TeilnehmerInnen der Protestaktionen einenhohen Symbolcharakter. Durch die breiten Bündnisse bei diesen Aktionenkann eine umfangreiche Mobilisierung stattfinden. Die Masse ermöglichtwiederum vielfältige Aktionen und die Treffen könnten zumindesttheoretisch effektiver behindert und gestört werden. Außerdemkommen die Medien nicht drumrum über die Proteste zu berichten. Auchfällt die Kriminalisierung nicht ganz so leicht- es ist schwer dieOma von nebenan als gemeingefährliche Terroristin abzustempeln.
Natürlich ist ein permanenter Widerstand in dieser Größenordnungwünschenswert. Praktisch ist es aber (leider) unmöglich, alle paar Tage zig tausend Menschen aus aller Herren Länder zu denständig stattfindenden Konferenzen, Gipfeln und Tagungen der Herrschendenzu mobilisieren. Darum ist es sinnvoll sich auf ein paar „Events“ zu konzentrieren.
Außerdem bieten solche Massenproteste gute Möglichkeiten,internationale Kontakte zu knüpfen, voneinander zu lernen und zu versuchendie unterschiedlichen Aktionsformen miteinander zu verbinden.
Aber Widerstand sollte auch noch mehr sein als Busfahren und demonstrieren.Vor lauter
Events wird leider all zu oft „vergessen“, daß ein Widerstandvor Ort mindestens genauso wichtig wäre. Sei es an der Schule, derUni, bei der Arbeit, in der Kneipe und und und.
Oder sei es bei dem Versuch, Perspektiven zu entwickeln und Alternativenaufzubauen und auch zu leben.

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