Offener Raum

STRAFE - RECHT AUF GEWALT

„Es gibt weder Recht noch Gerechtigkeit“


1. „Wenn nichts mehr geschützt ist, kann nichts mehr gelebt werden“
2. „Kriminalität ist ein gesellschaftlicher Prozess“
3. „Strafe macht zwischenmenschlich keinen Sinn!“
4. „Strafe ist ein notwendiges Übel“
5. „Eine Empörung gegen unsere Selbstgerechtigkeit“
6. „Es gibt weder Recht noch Gerechtigkeit“
7. „Es gibt eine gewisse Eigenverantwortung“

Heute lebt er als Bauer in Serbien, früher war er Rechtsanwalt: Edmund Schönenberger, Mitbegründer des Zürcher Anwaltskollektivs[1] und Gründer des Vereins Psychex gegen Zwangspsychiatrie[2].

In Ihrer Verteidigungsrede „Nieder mit der Demokratie“[3] schreiben Sie, dass Sie Rechtsanwalt sind, aber nicht an das Recht glauben. An was glauben Sie dann, wenn nicht an das Recht?
Der Ausgangspunkt dieser Aussage war, dass ich Recht studiert habe und in der Praxis mit der Realität konfrontiert worden bin. Ich musste feststellen, das diese Realität mit dem, was uns als Jusstudenten vermittelt worden ist, nichts zu tun hat. Im Anwaltskollektiv verfolgten wir die Politik, nie einen wirtschaftlich Stärkeren gegen einen wirtschaftlich Schwächeren zu verteidigen. Dadurch waren meine Klienten die Unterprivilegierten – Arbeitnehmer, Mieter, Strafverfolgte, von der Vormundschaftsbehörde Verfolgte, Zwangspsychiatrisierte etc.. Indem ich jeweils deren Anliegen bei den Gerichten vertreten habe, musste ich immer wieder feststellen, dass die an den Universitäten gelehrte beschönigte Vorstellung von Recht und Gesetz reine Makulatur ist. Menschen sind Konkurrenten. Jeder will der Stärkste, Beste, Erfolgreichste, Mächtigste sein. Es herrscht ein ewiges Gerangel um die Herrschaft. In diesem Gerangel setzen sich die Skrupellosesten durch. Die denken nicht im Geringsten daran, mit den Abgeschlagenen zu teilen.

Aber die Demokratie dient doch gerade dazu, die Macht der Starken zu brechen, indem die Herrschaft von der Mehrheit ausgeht und auch die Schwächeren beschützt werden.
Genau das habe ich eben nicht erlebt, sondern das exakte Gegenteil, nämlich dass die Schwachen diesen Schutz nicht haben und regelmässig um ihre Rechte geprellt werden. Und nachdem ich dies feststellen musste und andererseits immer die Beteuerungen hörte, dass in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat für alle gleiche Rechte gelten sollen[4], habe ich mir irgendwann die Frage gestellt, ja leben wir denn tatsächlich in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat? Bei dieser Analyse bin ich darauf gestossen, dass die Vermarktung der schweizerischen und auch der übrigen Volksherrschaften als sogenannte Demokratien den wohl gelungensten Betrug der Menschenheilsgeschichte darstellt, dass wir also weder Demokratien, Freiheit noch Rechte haben. Es gilt das Recht des Stärkeren, dessen, der die meisten Machtmittel in sich vereinigt, um seine egoistischen Interessen durchzusetzen. Dass wir keine Demokratie haben, lässt sich mit wenigen Worten begründen. In einer Demokratie müsste das Volk der Souverän sein. Definitionsgemäss kann aber als der Souverän nur gelten, wer sämtliche Machtmittel kontrolliert. Das Medium, welches unbestreitbar die Welt regiert und alle antreibt, heisst Geld. Der scharfe Blick in die schweizerische Bundesverfassung deckt schonungslos auf, dass eben gerade nicht das zum "Souverän" deklarierte Volk die seit Adam und Eva gehorteten und über die jährlich abgepressten Zinsen und Zehnten ins Unvorstellbare gesteigerten Vermögen besitzt, nein, die Verfügungsmacht über die astronomischen Summen bleibt ausdrücklich einer kleinen Schar von Eigentümern vorbehalten.

Aus meiner Analyse der tatsächlichen Verhältnisse wird auch klar, dass die Kompetenzen des Volkes sich lediglich auf die Nebensachen und Hilfsdienste beschränken. Jene Kompetenzen, die unser ganzes heutiges Leben bestimmen und das Leben jedes einzelnen umkrempeln, liegen ausschliesslich in den Händen derjenigen, welche hinter verschlossenen Türen ihre Unternehmerstrategien aushecken und umsetzen. Und bei jenen Strategien ist das Volk nicht dabei. Es hat brav vor der Türe zu warten und die getroffenen Entscheidungen effizient umzusetzen, die erforderlichen gewaltigen Infrastrukturen bereit zu stellen. Das ist die Funktion des Volkes. Es ist faktisch nur Hilfs- und Arbeitskraft, welches die Welt so einzurichten hat, wie sie von den Mächtigen und keineswegs von ihm selbst geplant worden ist.

Sie behaupten also, wir leben nicht in einer Demokratie?
Wenn wir in die Menschheitsgeschichte zurückblicken, erkennen wir, dass alles, was heute herrscht, schon immer geherrscht hat. Was früher noch korrekt als Monarchie oder Diktatur gegolten hat, wird heute einfach „Demokratie“ deklariert. Das Volk hatte immer und hat auch heute noch nur die Funktion, den Herrschenden zu dienen. Die Herrschaft wird von Generation zu Generation weitergereicht. Das Herrschaftssystem ist keine Eintagesfliege, sondern baut auf der Tradition der Vergangenheit auf. Der Reichtum hat sich bei gewissen Familien und Personen konzentriert. Auch das Know-how, wie man herrscht, wird nicht jedes Mal neu erfunden, sondern es werden alte Mechanismen immer wieder neu belebt und mit den modernsten technischen Methoden ergänzt. In der Schweiz dient das gesamte Polizei-, Militär- und Anstaltswesen dazu, das Volk in der Zange zu halten.

Müsste man die Demokratie also erst verbessern und weiter entwickeln hin zu dem, was sie eigentlich ist?
Die Demokratie ist und bleibt eine Totgeburt. Von Anfang an. Eine „Verbesserung“ würde konkret bedeuten, dass diejenigen, welche jetzt die Macht und die dazugehörigen Mittel – vorab das Geld – besitzen, zugunsten der Habenichtse abgeben müssten. Das ist eine vollkommene Illusion! Während der bisherigen Jahrtausende der Menschheitsgeschichte ist ein solcher Ausgleich nie gelungen, weder über die Religionen noch über die Demokratie. Wenn es eine Möglichkeit für eine bessere Welt gäbe, dann wäre der Mensch in der Vergangenheit längst darauf gestossen. Die Tatsache, dass es bis jetzt nicht geschehen ist, ist für mich der Beweis, dass das auch in Zukunft nicht der Fall sein wird. Und wenn man von der menschlichen Natur ausgeht, so ist der „gerechte Mensch“ genau so unrealistisch wie ein Löwe, der keine Gazellen mehr verzehrt.

Der Gedanke an eine bessere Welt ist also eine Illusion?
Ja. Eindeutig. Wer versucht, Gerechtigkeit zu schaffen, verschleudert Zeit und Energie für etwas vollkommen Unmögliches. Den Profiteuren kann das nur recht sein. Indem sie ständig eine Verbesserung der Demokratie propagieren, stellen sie eine miese Falle. Die Menschen werden darauf fixiert, das schreiende Unrecht, das geschieht, durch endlose, von vorneherein zum Scheitern verurteilte Diskussionen, Initiativen, Referenden etc. irgendwie in den Griff zu bekommen. Durch das ewige Betonen nichtexistierender Demokratien, Freiheiten und Menschenrechten werden die Menschen von effizienteren Möglichkeiten abgelenkt, welche sie ergreifen könnten, um ihre eigenen Interessen gegen die Mächtigen durchzusetzen. Meine These ist klar: In dem ganzen Gerangel um die Herrschaft geht es für jeden darum, seine eigenen Interessen durchzusetzen. Wenn sich jeder bewusst ist, dass das, was hier herrscht, keine Demokratie ist, sondern eine Diktatur der Reichen, so kann sich jeder in seinem Verhalten und seinen Strategien dem anpassen und seine eigenen Interessen besser wahrnehmen. In dem Sinn sehe ich die einzige Verbesserung darin, dass jeder sich bewusst ist und jeder weiss, dass es Gerechtigkeit nicht gibt, sondern dass jeder für seine Interessen kämpfen muss. Wenn das zum allgemeinen Bewusstsein wird, dann ist es für diejenigen, welche herrschen, nicht mehr so einfach, ihre egoistischen Interessen durchzusetzen. Dann haben sie jedes Mal einen grösseren Widerstand durch alle Aufgeklärten zu erwarten. Allerdings: Ein Gleichgewicht entsteht nie. Das ist in der Geschichte nie möglich gewesen, ist heute nicht möglich und wird auch in Zukunft nicht möglich sein. Aber es entstünde ein kleineres Ungleichgewicht unter den Menschen.

Ist dieses „schreiende Unrecht“ nicht etwas übertrieben?
Das Ganze ist natürlich schwer vermittelbar, weil alles, was in diesem Staat schief läuft, alle Verbrechen gegen die Menschenrechte, die tagtäglich begangen werden, dort stattfinden, wo das Volk keinen Einblick hat. Alle Anstalten sind durch Hochsicherheitsschleusen hermetisch abgedichtet. Es kommt keiner raus – aber auch keiner rein. Das Volk, welches eigentlich der Souverän wäre und sich jederzeit in all diesen intimsten Bereichen des Staats mit eigenen Augen müsste überzeugen können, was läuft, kommt dort gar nicht rein. Der Durchschnittsbürger ist nicht annährend über das Unheil informiert, welches in diesem Staat geschieht. Kaum ein Schweizer ist sich zudem bewusst, wie sehr er von der Ausbeutung der Ärmsten in aller Welt profitiert. Wenn die Bürger der westlichen Demokratien jeden Tag miterleben würden, was auf dieser Welt in ihrem Namen alles geschieht, würde keiner mehr behaupten, er lebe in einer schönen Welt. Dann würde er sagen „nein, ich kann doch nicht in einer solchen Welt leben, wo es mir auf Kosten Ausgebeuteter ‚gut geht’“. Wenn ich mir einreden muss, dass es mir „gut“ geht, während andere auf schändlichste Art misshandelt, ihrer Freiheit beraubt und gefoltert werden, damit dieses System, diese Ordnung überhaupt funktioniert, habe ich den gesunden Menschenverstand verloren.

Ein solches Bewusstsein existiert nicht. Es ginge also darum, dieses herzustellen?
Das existiert nicht nur nicht, sondern dessen Entstehung wird durch eine systematische Gehirnwäsche verhindert. Heute ist es so, dass man in den ersten Lebensjahren Eltern unterworfen ist, welche bereits von der herrschenden Moral geleitet werden. Das geben sie alles ihren Kindern weiter. Sie wissen, dass man als Jugendlicher bei Fehlverhalten in ein Heim oder eine Anstalt gesteckt werden kann. Weil sie unter keinen Umständen wollen, dass solches ihren Kindern widerfährt, nehmen sie sie an die Kandare. Im Elternhaus werden also die ersten Weichen gestellt. Danach geht das Ganze weiter. In der Schule, in den Erziehungssystemen, in der Ausbildung, bei der Arbeit – je länger man durch dieses System geschleust wird, umso effizienter und raffinierter greift die Gehirnwäsche. Und die Unterprivilegierten werden dazu benutzt, all die Sklavenarbeiten zu verrichten, während sie durch die Ordnungssysteme – Polizei, Vormundschaftsbehörde, psychiatrische Anstalten, Drohungen der Strafjustiz – darauf konditioniert werden, dass sie sich absolut zu fügen haben. Die Widerspenstigen werden gnadenlos versenkt und so als abschreckende Beispiele benützt, damit sich alle „anpassen“.

Das klingt, als gäbe es irgendeinen abstrakten Herrscher, der offenbar die ganze Menschheit in der Zange hält. Aber gibt es den überhaupt?
Wenn ich der liebe Gott wäre und vom Himmel auf die Erde blicken würde, wenn ich alle diese Menschlein wie Ameisen betrachten würde, wäre ich in der Lage, auch den letzten Rappen, das hinterletzte Goldstückchen, jeden kleinsten Diamant und jeden Milliliter Erdöl und die dazugehöreigen „Besitzer“ zu orten. Dann würde ich erkennen, dass diejenigen, welche über die seit Adam und Eva gehorteten Reichtümer verfügen, die Herren, die Herrscher sind. Was regiert die Welt? Geld! Die wenigen Besetzer können mit ihren unermesslichen finanziellen Mitteln jeden kaufen. „Wir müssen die Arbeitsplätze sichern“, rattert heute pausenlos die Propaganda. Das ist eine dieser Schablonen, mit welcher dem Volk Angst eingejagt wird. „Wenn ihr das, was wir verlangen, nicht alles brav macht, dann sind eure Arbeitsplätze und damit eure Existenz futsch“. Mit solchen Tricks wird heute die Welt auch regiert.

Das heutige moderne Herrschaftssystem entstand, als jene, die früher auf dem Thron gesessen sind und sich als Kaiser und Könige zu erkennen gaben, ungestraft um einen Kopf kürzer gemacht werden durften. Das hat die Clique bewogen, sich in den Untergrund zu verziehen, die sogenannten „Societées Anonymes“ (Aktiengesellschaften) zu gründen und sich in den Verfassungen garantieren lassen, mit ihren Vermögen frei schalten und walten zu können. Diese Verfassungen wurden keineswegs vom Volk, sondern von jenen zusammengeschustert, die damals bereits alle Machtmittel in den Händen hielten.

Aber wenn das etwas ist, was dem Volk Schaden zufügt, so wäre es doch die Aufgabe des Volkes, dies über einen Mehrheitsentscheid zu ändern.
Als das französische Volk vom absolutistisch regierenden König die Nase voll hatte, hat es sich zusammengeschart und die Tuillerien gestürmt. Es war jedoch überhaupt nicht in der Lage, eine funktionierende Alternative auf die Beine zu stellen. Die Gruppen haben sich zerfleischt, ein militärisch erfolgreicher Rädelsführer hat sich wie nichts als neuer Herrscher etablieren können.

Zudem muss man sich vor Augen halten, dass diejenigen, welche jeweils an den Schalthebeln der Macht sitzen, mit Sperberaugen Ausschau nach „Elementen“ halten, welche ihr Machtmonopol gefährden könnten. Gegen Bürger, welche die Diktaturen durchschauen, über die Missstände aufklären und das System denunzieren können, setzen sie sofort ihre geballte Macht in Gang. Das habe ich von Berufs wegen am laufenden Band erlebt. In den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts beispielsweise gab es einige Lehrer, die sich kritisch geäussert und welche wir als Klienten verteidigten haben. Sie sind vom Erziehungsdirektor umgehend mit einem Berufsverbot belegt worden. Die Hüter der herrschenden Ordnung sind jederzeit auch bereit, über Leichen zu schreiten, wenn es um ihren Machterhalt geht.

Daraus schliessen Sie, dass die Demokratie eine Totgeburt ist und man sie deshalb abschaffen muss. Herr Merkli[5] sagt aber, sobald Menschen zusammenleben, funktioniere dieses Zusammenleben nur, wenn sie in einem sozialen Frieden leben. Damit dieser Friede entsteht, braucht es eine bestimmte Ordnung, an die sich alle zu halten haben. Und der legitimste Weg dazu ist immer noch die Demokratie.
Das ist eine dieser ganz schlauen Begründungen der Mächtigen. Sie kreieren den abstrakten Begriff des sozialen Friedens. Was heisst das jedoch konkret? Konkret besteht der soziale Frieden darin, dass sich Menschen dazu degradieren lassen müssen, die in unseren modernen Gesellschaften anfallenden Tölpelarbeiten zu verrichten. Es ist ein Witz, solches als sozialen Frieden, als eine Ordnung, die herrschen muss, zu verkaufen. Fragen wir doch, wer den Preis für diese Ordnung zu zahlen hat? Sind es diejenigen, welche mit solchen Worthülsen um sich werfen? Nein, nein, die hocken gut bewacht in geschützten Büros, profitieren von Privilegien und fetten Honoraren. Nie im Traum würden sie sich herablassen, ein Leben lang in einem Kaufhaus an der Kasse zu sitzen oder in einer Bank am Schalter zu stehen und irgendwelche Knöpfchen zu drücken. Kaum auszudenken, wie sie reagieren würden, würde man sie überfallmässig ihrer Freiheit berauben und in einer psychiatrischen Anstalt mit heimtückischen Nervengiften foltern. Ich bin an der Front und sehe was läuft. Die abscheulichsten Geschehnisse sind mir von meinen über zehntausend unterprivilegierten Klienten aus erster Hand geschildert worden. Alsbald kann ich hochrechnen, was für ein Elend, was für Schweinereien in dieser Gesellschaft herrschen. Hier von einem sozialen Frieden zu sprechen ist eine Verhöhnung aller Gebeutelten, die das zu verrichten haben, was von denjenigen, welche alles inszenieren, bestimmt wird.

Aber ohne diese Ordnung, diesen Frieden, hätten wir das Chaos.
Das stimmt überhaupt nicht. Überall, unter welchem Herrschaftsverhältnis auch immer, entsteht ein Kräfteverhältnis, eine Machtstruktur, eine Hierarchie. Es findet das statt, was die jeweilige Epoche, das Land oder die Gesellschaft charakterisiert. Nehmen wir ein urtümliches Bauerndorf mit überhaupt keiner Infrastruktur, weil jeder seinen eigenen Brunnen besitzt, mit Holz kocht und heizt und den Acker mit einem von Pferden gezogenen Pflug bestellt. Jeder dieser Bauern ist Selbstversorger. Warum sollte in einem solchen Dorf ein Chaos herrschen?

Nehmen wir zwei Kabarettisten, welche sich zusammenraufen und mit ihrem Programm durchs Land tingeln. Herrscht Chaos unter den Beiden? Im Anwaltskollektiv, in welchem wir uns alle unsere Regeln selber gegeben haben, hat es die üblichen Auseinandersetzungen, aber kein Chaos gegeben.

Man muss den Spiess umdrehen: Die perverse Ordnung, welche heute herrscht, wird über kurz oder lang ins Chaos führen. Sors certa, hora incerta (dieses Schicksal ist gewiss, nur die Stunde ist ungewiss).

Zu solchen freien Zusammenhängen zu finden ist eine Lösung für den einzelnen, für das Individuum, aber ist sie für eine Gesellschaft realistisch?
Selbstverständlich mache ich mir absolut keine Illusionen. Die Machtverhältnisse sind einstweilen solide zubetoniert. Ausschliessen lässt sich jedoch nichts. Warum soll sich nicht irgendeinmal das Bewusstsein durchsetzen, dass bisher alle Systeme – von der Monarchie bis zur Demokratie – kläglich versagt haben und es nur noch ein System auszuprobieren gilt, eben niemandes Herr oder Knecht zu sein und seine Interessen effizient durchzusetzen?

Eine schädigende Tat entsteht aber gerade indem der Einzelne ein individuelles Bedürfnis höher stellt als die Bedürfnisse der Allgemeinheit. Die Aufgabe dieser Allgemeinheit ist es, mit Sanktionen dieses Individualbedürfnis zurückzustufen.
Das ist wiederum eine schlaue Kaschierung der Realität. Nehmen wir das Strafrecht. Dieses ist nicht darauf ausgerichtet, Leben und Eigentum des gewöhnlichen „Bürgers“, sondern derjenigen zu schützen, welche die Macht in den Händen halten. Den Herren ist es doch Wurst, ob sich ihre Knechte umbringen oder betrügen. Aber sie benutzen diese Täter, um an ihnen scharfe Exempel zu statuieren, damit niemand auf die Idee kommt, sich an ihrem Leben und Eigentum zu vergreifen. Das ist die eigentliche Funktion des Strafrechts. Der Rest sind Theorien, die aufgestellt werden, um genau das zu verdecken.

Wie ist es dann mit dem Autoraser, der ein kleines Kind überfährt und damit das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit ignoriert?
Das ist wieder so eine Verdrehung. Das Pferd wird am Schwanz aufgezäumt. Am Anfang steht der Automobilfabrikant, welcher, um reich zu werden, den Menschen Autos andreht. Und dieser Fabrikant weiss haargenau, dass ein Mensch, der an eine solche Maschine heran gelassen wird, die Kontrolle über sich verlieren oder zum Raser werden kann. Damit nimmt der Fabrikant auch alle anfallenden Toten in Kauf. Er schreitet buchstäblich über Leichen, um sich Profit und Macht zu sichern. Er müsste als erster vor den Kadi gezerrt werden.

Wenn man aber bei jedem Problem im Kern beginnen will, müsste man auf unseren Fortschritt verzichten.
Das kann ich am besten durch meine eigene Biografie widerlegen. Ich habe meine Anwaltsrobe an den Nagel gehängt und bin ein sich selbstversorgender Bauer geworden. Ich sehe jetzt als einer, der auf einem kleinen Stück Land auf vielfältige und sensationelle Art und Weise seine Existenz fristen kann, was ich alles nicht verpasse. Was im Westen geschieht, ist Schall und Rauch, Schutt und Schund. Alles, was produziert wird, landet früher oder später in der Mülltonne. Die Menschen werden regelrecht zu einem eindimensionalen Leben verführt. Aber das wird als Fortschritt verkauft. Man kann den Leuten alles einreden.

Was sollen wir also unternehmen?
Weder Herr noch Knecht, sondern sein eigener Meister sein.

Und das für sich selber zu verwirklichen?

Ja. (überlegt) Dann macht man sich die Finger nicht schmutzig wie jene, die ihre Interessen mit allen Mitteln bis und mit Krieg durchsetzen. Man muss aber auch nicht den Knecht spielen – eine Position, die bekanntlich niemand gerne einnimmt.

[1] „Die Rechtsauskunft Anwaltskollektiv besteht seit 1981 als Verein und ging aus dem 1975 gegründeten Anwaltskollektiv hervor. Die Idee: kompetente und engagierte Hilfe von praktizierenden AnwältInnen für alle Rechtsuchenden, unabhängig von ihrer Herkunft und sozialen Schicht.“ [www.anwaltskollektiv.ch]

[2] PSYCHEX – raus aus dem Irrenhaus! [www.psychex.ch]

[3] „Täglich habe ich mit dem Gericht zu tun, wo der Wind der Freiheit, der Demokratie und des Rechts weht. Ich aber sehe die Demokratie nicht, höre die Freiheit nicht, bin Rechtsanwalt und glaube nicht ans Recht.“ [www.c9c.net/ch/demokratie]

[4] „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ [Art. 8, Absatz 1, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Stand am 11. Mai 2004]

[5] Siehe Interview mit Thomas Merkli, Seite 58

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