Offener Raum

STRAFE - RECHT AUF GEWALT

Von Reformen und wie es sein sollte


1. Eine gewaltfreie Welt ... und wie man das nicht erreicht
2. Von Gewalt, Kriminalität und was davor geschieht
3. Von Schuld und Verantwortung
4. Von Verbrechen und wie man sie verarbeitet
5. Von Sündenböcken und fragwürdigen Ursachen
6. Das Recht – wessen Recht?
7. Ich will nur das Beste für dich!
8. Von Rache und Gerechtigkeit
9. Die alles entscheidende Frage
10. Von Reformen und wie es sein sollte

Der Ausgang einer Diskussion über Strafe hängt von der eigenen Weltanschauung der Diskutierenden ab. Von der Art, wie man über die Welt denkt, über deren Vergangenheit, deren Gegenwart und Zukunft. Vom Sinn, den man seinem Leben und dem Leben ganz allgemein gibt. Von den Theorien, auf die man sich abstützt – und schliesslich ganz einfach von den Erlebnissen, Gefühlen und Empfindungen, die man hatte oder nicht hatte. Davon hängt ab, wie mensch mit der gegebenen Situation umgeht, mit der Tatsache, dass Unrechtes – oder, um den Rechtsbegriff beiseite zu lassen – Ungutes geschieht; mit der Tatsache, dass Dinge geschehen, die seinem Rechtsverständnis, seinem Gerechtigkeitsverständnis oder ganz einfach seinen Bedürfnissen widerstreben; und schliesslich auch mit der Tatsache, dass unser ordnendes, herrschendes System – der Staat, die Demokratie, die Strafjustiz – dieses Problem nicht lösen. Je nach dem möchte man das gegenwärtige System verändern. Es so anpassen, dass es seiner Sicht der Dinge entspricht. In der Strafdiskussion sind das die Reformer. Die gegenwärtige Strafkultur ist zwar falsch und fehlgeschlagen, aber sie muss reformiert werden. Gewisse Dinge laufen falsch, die Kriminalität steigt, die Sanktionsstruktur erzielt nicht die gewünschte Wirkung. Und dann gibt es verschiedene Vorschläge, wie man es bessern kann. Oft fällt dabei das Argument, die Strafkultur habe sich in der Vergangenheit bereits mächtig entwickelt und sei heute um einiges besser als noch vor Jahrhunderten. Jetzt gehe es darum, noch besser zu werden. Dieses „Besser werden“ sehen allerdings zahlreiche Historiker (unter anderem Michel Foucault) in einer anderen Hinsicht, als sie den Reformern lieb wäre:

Die Geschichte des Strafrechts (ist) nicht eine Geschichte der fortschreitenden Humanisierung des Strafens, sondern eher eine der immer durchdringenderen und feinmaschiger werdenden Disziplinierung und Beherrschung des Einzelnen. [...] Es ist davon auszugehen, dass sich die Schrecken der Zeiten in ihrer Form und ihrem Inhalt ändern, sich der Zeit anpassen. Jedes Zeitalter entwickelt eine besondere Fähigkeit seiner Zeitgenossen, die Schrecken und Ungerechtigkeiten der eigenen Zeit zu akzeptieren und als normal oder – was wohl gleichbedeutend ist – als unumgänglich und nicht als menschenunwürdig zu empfinden.[1]

In der Vergangenheit führten die meisten Reformen im Strafsystem auch nicht zu einem Herrschaftsabbau – sondern vielmehr zu einer Herrschaftssicherung. Wenn damit eine Revolution verhindert werden konnte, war das Einführen von Menschenrechten durchaus nützlich. Wenn dadurch die Kriminalitätsrate sichtbar sank und dies dem Herrscher (oder der Volksmehrheit) nützlich erscheint, so waren auch Strafrechtsreformen willkommen. Radikale Reformen hin zu mehr Menschlichkeit sind aber meist chancenlos. Ich möchte nicht behaupten, dass Reformen nie eine Situation verbessert hätten – aber insbesondere in der Bestrafung sollte man keine grossen Hoffnungen an Reformen knüpfen. Denn, wie der Historiker Michel Foucault sagte:

Man sollte sich daran erinnern, dass die Bewegung zur Reformierung der Gefängnisse, zur Kontrolle ihres Funktionierens keineswegs etwas Neues ist. Sie scheint nicht einmal auf eine Erkenntnis des Scheiterns zurückzugehen. Die „Reform“ des Gefängnisses taucht praktisch zur selben Zeit auf wie das Gefängnis selbst: Sie bildet sozusagen sein ureigenes Programm.[2]

Aber wieso ist das so? Da es in der Reformdiskussion darum geht, das Strafsystem seinem Gerechtigkeitsempfinden anzupassen, setzen wir dieser Diskussion voraus, dass der Mensch ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit hat. Mit dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit entwickelt der Mensch ein Gefühl für „richtig“ und „falsch“. Falsch ist in der Regel, was mir oder anderen schadet. Das Gerechtigkeitsempfinden ist somit eine Stütze für das soziale Zusammenleben. Unabhängig davon, ob nun ein Ur-Gewissen existiert, welches dafür sorgt, dass der Mensch von Natur aus „gut“ und „richtig“ handelt (und welches zuweilen von anderen Bedürfnissen/ Einflüssen übertönt wird, wodurch das Handeln eines Menschen abweicht), ob dieses Gewissen einen Ausdruck der eigenen Individualität ist oder ob es durch die Kultur oder gar durch das egoistische Interesse des einzelnen an einem intakten sozialen Umfeld entsteht.

Ein Element, welches aus diesem Gerechtigkeitsempfinden entsteht, sind die Menschenrechte. Nicht die Menschenrechte im Sinne eines juristischen Rechtes, sondern in der Art, wie ein Schulkind von Menschenrechten spricht. Wie ein einfacher Bürger von Menschenrechten spricht. Die Gleichheit aller Menschen in ihrem Recht auf Leben.

Wir brauchen uns aber nicht weit umzusehen um zu erkennen, dass es ausserordentlich schwierig wird, dieses Gerechtigkeitsempfinden, diese Menschenrechte durchzusetzen. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass offenbar jeder einzelne Mensch ein anderes Gerechtigkeitsempfinden hat. Eine andere Definition von Menschenrecht. Andere Dinge als „unantastbar“ bezeichnet. Will man jetzt aber eine allgemeingültige Ordnung errichten, ein für alle gültiges Gesetz, so hat man bloss zwei Durchsetzungs-Möglichkeiten: Entweder erklärt man eine spezifische Gerechtigkeitsdefinition kompromisslos für die herrschende und setzt diese durch. Dieses vorgehen wird im Volksmund Diktatur genannt. Oder man wählt einen Kompromiss als vorherrschend, dem die Mehrheit der Gruppe, der Bevölkerung, zustimmt. Dies nennt sich Demokratie.

In der Geschichte ist beides bereits zu Genüge vorgekommen. Mit den Diktaturen haben die meisten von uns bereits abgerechnet. Die Demokratie hingegen erscheint uns als legitim. Schlechtestenfalls als momentan einzige Lösung aufgrund fehlender Alternative. Aber selbst hier haben wir bereits unsere Erfahrungen gemacht. Man nehme das beliebteste Beispiel – Deutschland während dem Nationalsozialismus. Auch wenn die damalige Zeit häufig als Diktatur abgetan wird, so muss man dennoch eingestehen, dass in jener Zeit eine Mehrheit des deutschen Volkes mit ihrem Gerechtigkeitsempfinden hinter dem ganzen Geschehen gestanden hat. Wenn man das Volk also nicht entmündigen und für dumm erklären will – was man als guter Demokrat besser unterlässt – so muss man sich zufrieden geben, dass des „Volkes Wille“ und des Volkes Gerechtigkeit noch lange nicht dem entspricht, was jeder einzelne von uns mit seinem Gefühl für Gerechtigkeit, mit seinem Gewissen, vereinbaren kann. Selbst heute geschehen Dinge, die man vielleicht bereits in zwanzig Jahren als „überaus unmenschlich“ bezeichn könnte. Mir fällt dazu die Zwangspsychiatrie oder die Kriminalisierung einer benachteiligten Unterschicht ein. Staatshandlungen, die möglicherweise in Zukunft nicht mehr mit dem Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerungsmehrheit vereinbar sind.

An diesem Punkt erscheinen uns unsere Menschenrechte und unser Gerechtigkeits-empfinden erstaunlich verlogen. Erstaunlich unwirklich. Erstaunlich unrecht. Es stellt sich die Frage, ob es nicht doch nur den Ausweg gibt, konsequent alle Herrschafts- Ordnungs- und Strafkonzepte zu verneinen? Gewalt in jeder Form abzulehnen? Weder Opfer noch Henker zu sein und sich mit seinen Bedürfnissen möglichst konfliktfrei ergänzend seinen Mitmenschen gegenüberzustellen? Erachtet man Gewalt jedenfalls als etwas schlechtes, dem es entgegenzuwirken gilt, so steht fest, dass es darum geht, autoritäre Gewalt und Strafe zurückzudrängen. Sie jedenfalls auf keinen Fall zu legitimieren. Nur diese Entwicklung käme einem gewaltfreien und selbstbestimmten Leben zwischen Menschen zu Gute. In den Worten des irischen Schriftstellers Oscar Wildes:

Mit der autoritären Gewalt wird die Justiz verschwinden. Das wird ein großer Gewinn sein - ein Gewinn von wahrhaft unberechenbarem Wert. Wenn man die Geschichte erforscht, nicht in den gereinigten Ausgaben, die für Volksschulen und Gymnasien veranstaltet sind, sondern in den echten Quellen aus der jeweiligen Zeit, dann wird man völlig von Ekel erfüllt, nicht wegen der Taten der Verbrecher, sondern wegen der Strafen, die die Guten auferlegt haben; und eine Gemeinschaft wird unendlich mehr durch das gewohnheitsmäßige Verhängen von Strafen verroht, als durch das gelegentliche Vorkommen von Verbrechen. Daraus ergibt sich von selbst, daß, je mehr Strafen verhängt werden, umso mehr Verbrechen hervorgerufen werden, und die meisten Gesetzgebungen unserer Zeit haben dies durchaus erkannt und es sich zur Aufgabe gemacht, die Strafen, soweit sie es für angängig hielten, einzuschränken. Überall, wo sie wirklich eingeschränkt wurden, waren die Ergebnisse äußerst gut. Je weniger Strafe, umso weniger Verbrechen. Wenn es überhaupt keine Strafe mehr gibt, hört das Verbrechen entweder auf, oder, falls es noch vorkommt, wird es als eine sehr bedauerliche Form des Wahnsinns, die durch Pflege und Güte zu heilen ist, von Ärzten behandelt werden.[3]

[1] Peter Zihlmann, Macht Strafe Sinn?, Schulthess 2002, S. 24f, in Bezug auf Michel Foucault

[2] Michel Foucault, Surveiller et punir - la naissance de la prison, Paris 1975

[3] gutenberg.spiegel.de/kraus/buch/k1_042.htm

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