Projektwerkstatt Saasen

(MEDIEN-)GEMACHTE KRIMINALITÄT

Gefühl: Mehr Kriminalität ++ Offizielle Zahlen zeigen aber: Kriminalität nimmt ab


1. Sensations-Journalismus und Straflust
2. Gefühl: Mehr Kriminalität ++ Offizielle Zahlen zeigen aber: Kriminalität nimmt ab
3. Polizei schürt Angst - und weiß es besser
4. Links

Aus "Wie sicher sind wir?", in: FR, 11.9.2009 (S. 10f.)
Ein fataler Dreiklang befördert den Ruf nach steter Strafverschärfung, und der hat wenig zu tun mit realer Kriminalität oder gar mit Terror, Mord und Totschlag bilden in der Statistik 0,1 Prozent aller Fälle; in der über Medien wahrgenommenen Welt ist jede zweite Straftat ein Gewaltverbrechen. So werden über Krimis und Nachrichten die Ängste der Bürger geschürt, die Politik wähnt sich zum Handeln genötigt, also zu Härte, worauf die Medien in ihrer Mehrheit bei jedem neuen, spektakulären Fall dringen.
Diese Endlos-Schleife ist nur schwer zu durchbrechen, auf dem mühevollen Weg über Aufklärung und Vernunft. Wir müssen einsehen, dass es keine perfekte Sicherheit geben kann, nicht mal in Diktaturen. Dann könnten wir auch erkennen, dass ein "Kampf" gegen jegliches Verbrechen die Republik nicht sicherer macht, sondern bedrohlicher. Ein solcher Blickwinkel verändert das Genre: vom biederen "Tatort" zu Wildwest.


Zudem wird ständig gelogen, dass die Kriminalität zunehme - auch nur, um härtere Gesetze und damit den Ausbau der Macht voranzutreiben. Der folgende Auszug ist aus der evangalischen Kirchenzeitung Chrismon (Nr. 1/05)



Kriminalitätsabnahme und Angstzunahme
Abbildung im Spiegel Nr. 45/2016 (S. 62)


Aus einem Interview mit der Spiegel-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen, in: Menschen machen Medien 1/2009 (S. 14)
Justiz und Journalisten spielen sich gegenseitig die Bälle zu. Politiker instrumentalisieren spektakuläre Verbrechen gern. Sie treten dann wie Helden vor die Kameras und fordern, dass nun mit voller Härte des Gesetzes durchgegriffen werden müsse. Das ist verantwortungslos, ein Appell an die niedrigsten Instinkte der Menschen.

  • Text zu Kriminalitätszahlen und gefühlter bzw. gemachter Kriminalitätsangst in einer Zeitung der Bundeszentrale für politische Bildung


Abnehmende Zahl von Straftaten führt zu weniger Gefangenen - die aber werden härter bestraft! (Aus MAZ Gießen)


Aus dem Aufruf "Silvester zum Knast" (Berlin 2005)
Nach einer Untersuchung des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen glauben die Menschen in Deutschland, dass die Zahl der Morde zwischen 1993 und 2003 um 27% zugenommen hat und die Zahl der Sexualmorde um 260% gestiegen sei.
Mit der Realität haben solche Zahlen wenig zu tun. Laut Kriminalitätsstatistik geht die Zahl der Morde seit Jahren zurück, bei den registrierten Sexualmorden und Sexualmordversuchen sank die Zahl zwischen 1981 und 2004 von 81 auf 26 Fälle. 80% der Fälle von sexuellem Missbrauch im europäischen Raum finden in Familien oder im Bekanntenkreis statt. 5% der Anzeigen bei den Sexualstraftaten betreffen die Fälle mit Mord die in den Medien gerne gehypt werden. 60-70% der Morde an Kindern werden von Familie und engeren Bekannten verübt, und nicht vom fremden Mann am Spielplatz.


Dokumentierter Wortbeitrag auf einer Anhörung zu Strafe, in: Komitee für Grundrechte und Demokratie (1994): "Staatliches Gewaltmonopol, bürgerliche Sicherheit, lebenslange und zeitige Freiheitsstrafe" (S. 223)
Da wird im Moment über innere Sicherheit geredet, es werden Kriminalitätsängste produziert, die rufen bei der Bevölkerung wieder den Ruf nach härteren Strafen hervor. Also ein ganzer Teil dieses Problems und dieses Klimas, das wir jetzt haben, ist selbst gemacht für meine Begriffe.



Auszug aus der Kriminalitätsstatistik 2011 des Polizeipräsidiums Mittelhessen: Unten die Straften - deutlich zurückgehend!


Medien und Straftaten
Aus einem Interview mit der Spiegel-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen, in: Menschen machen Medien 1/2009 (S. 14 f.)
Wenn Angeklagte als Bestien dargestellt werden, wird auch der Nachbar schnell zum Monster, nur weil man bei dem schon immer ein komisches Gefühl hatte. ... Journalisten benutzen bei der Schilderung des mutmaßlichen Tathergangs keinen Konjunktiv mehr und keine Fragezeichen am Ende ihrer Sätze. Sie maßen sich die Rolle des Richters an und verkaufen Verdacht als Wahrheit. ... Staatsanwälte
gefallen sich in der Rolle von Medienstars, Rechtsanwälte posieren mit ihren Mandanten für die Fotografen - das ist gut fürs Geschäft. Manche Anwälte vergessen vor lauter Eitelkeit, ihre Mandanten zu schützen. Es ist eine einzige Heuchelei und Inszenierung. Justiz und Journalisten spielen sich gegenseitig die Bälle zu. Politiker instrumentalisieren spektakuläre Verbrechen gern. Sie treten dann wie Helden vor die Kameras und fordern, dass nun mit voller Härte des Gesetzes durchgegriffen werden müsse. Das ist verantwortungslos, ein Appell an die niedrigsten Instinkte der Menschen. ... ich bin nicht Gehilfin der Staatsanwaltschaft oder Handlanger der Polizei. Meine Aufgabe besteht darin, die Umstände einer Tat zu erklären. Diese Arbeit machen sich viele meiner Kollegen nicht mehr. Es wird gar nicht mehr geschaut, was genau passiert ist. Stattdessen empören sie sich und fordern härtere Strafen.


Angstmache: Vergewaltigungen durch Fremde - Verharmlost: Sexuelle Gewalt unter Bekannten

Aus "Gibt es immer mehr Vergewaltigungen? Fünf Behauptungen im Faktencheck", auf: Focus online, 8.7.2019
Behauptung: Die Zahl der Vergewaltigungen nimmt zu.
Bewertung: Falsch. Die Fallzahlen sind rückläufig.
Fakten: Nach Angaben der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für 2018 sind die Zahlen bei Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellem Übergriff im besonders schweren Fall im Vergleich zum Vorjahr um etwa 18,2 Prozent zurückgegangen - von 11.282 auf 9234 Straftaten. Zudem gab es etwa 6300 sexuelle Übergriffe und Nötigungen (die nicht unter die Rubrik "besonders schwer" zählen) sowie 13.700 sexuelle Belästigungen.
"Wir erkennen eine größere Anzeigenbereitschaft bei betroffenen Frauen", sagt Gesa Birkmann von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes. Dadurch sei natürlich auch das Thema in den Medien sehr präsent. Zudem wurden im November 2016 neue Straftatbestände aufgenommen. ...

Behauptung: Frauen sind häufiger in ihrer eigenen Wohnung sexualisierter Gewalt ausgesetzt als auf der Straße.
Bewertung: Stimmt.
Fakten: Wie verschiedene Frauenberatungsstellen angeben, ist es ein Mythos, dass Vergewaltigungen meist nachts in einsamer Umgebung von Unbekannten begangen werden. Terre des Femmes scheibt etwa, dass in 70 Prozent der Fälle die eigene Wohnung Tatort sei. "Die eigene Wohnung ist für Frauen der häufigste Tatort bei einer Vergewaltigung oder anderen Formen sexualisierter Gewalt - und nicht, wie häufig angenommen, der dunkle Park oder die Straße", so Expertin Birkmann. "Somit ist es in der Mehrheit der Fälle auch kein unbekannter Täter, sondern häufig ein Bekannter aus dem näheren Umfeld oder sogar jemand aus der Familie."

Das Beispiel Sophia L.
Im Juni 2018 wird eine Tramperin ermordet. Täter ist vermutlich ein LKW-Fahrer, der nicht in Deutschland wohnt. Die Abläufe stehen bundesweit in den Medien - auch weil Opfer und Umfeld politisch aktiv waren/sind. Sie wehren sich gegen die Instrumentalisierung des Mordes für Hetze gegen Ausländer*innen und Angstmache vor Fremden bzw. dem Trampen. Dass solche Gewalttaten, so schrecklich sie sind und auf jeden Fall jede Gewalttag eine zuviel ist, die seltene Ausnahme sind und tatsächlich Gewalttaten gegen Frauen vor allem in Beziehungen/Ehen vorkommen, findet sich kaum. Selten daher der folgende Text:

Aus "Der Mörder ist immer der Fremde", in: Junge Welt, 29.6.2018 (S. 15)
Unterdessen sind die meisten Feminizide (auch Femizid; jW), also Morde an Frauen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit, in den deutschen Medien selten ein Thema. Dabei gab es nach Angaben des Bundeskriminalamtes 2015 in Deutschland 131 vollendete und 200 versuchte Tötungen von Frauen durch ihren Partner oder Expartner. Frauenhäuser und Beratungsstellen berichten zudem von vielen Fällen, in denen es »Hinweise auf Tötungsabsichten« gibt, die aber nicht strafrechtlich verfolgt werden können.
Die feministische Gruppe »Keine mehr« berichtet auf ihrer Webseite, selbst wenn Gutachterinnen bzw. Rechtsmedizinerinnen bestätigt hätten, dass eine Frau einen Angriff nur durch Zufall überlebt hat, sei dies keine Garantie dafür, dass die Tat als versuchte Tötung gewertet werde. Die Aktivistinnen machen damit auf ein strukturelles Problem aufmerksam: Es wird in Medien wie auch in Behörden immer noch zu wenig berücksichtigt, dass Frauen Gewalt in den allermeisten Fällen von Partnern oder Expartnern erleben und nicht von einem Fremden. Dabei weisen international angesehene Gewaltforscher wie Rebecca und Russell Dobash immer wieder genau darauf hin.
Trotzdem werden Frauen vor allem vor dunklen Gassen und Parks gewarnt. Von Fremden begangene Morde an Frauen werden von Medien reißerisch in Szene gesetzt. Taten, die in Partnerschaften begangen werden, kommen dagegen meist lediglich als »Familientragödien« in den Meldungsspalten der Zeitungen vor. Die Gruppe »Keine mehr« kritisiert, dass in der Bundesrepublik noch immer »sowohl quantitative wie auch qualitative Zahlen und Daten zu Feminiziden/Frauenmorden« fehlen, mit denen sich »sowohl das Ausmaß als auch Risikofaktoren und Schutzlücken zu erkennen« ließen.

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