Projektwerkstatt Saasen

BESTRAFEN DES "SCHWARZFAHRENS": RECHTSWIDRIG, UNSINNIG, AUFWÄNDIG

Wer fährt "schwarz"? Wieviele werden dafür bestraft?


1. Wer fährt "schwarz"? Wieviele werden dafür bestraft?
2. Richter*innen, Staatsanwält*innen und Polizei gegen § 265a StGB
3. Jura-Wissenschaft zum § 265a
4. Parteien und Politiker*innen fordern Entkriminalisierung des "Schwarzfahrens"
5. Medientexte und -kommentare gegen Strafen für "Schwarzfahren"

Aus einem Interview mit Hanna Poddig in: ND, 2.5.2012
Mit den Geldstrafen ist es schön leicht für den Staat: Er verdient an uns und wir sind ständig damit beschäftigt, Solipartys zu machen, um Leute rauszuhauen. Es würde mich freuen, wenn mehr Leute ihre Geldstrafe nicht mehr zahlen würden. Das wäre ein Signal an die Richter und die Gesellschaft.

Zum Stichtag der offiziellen Statistik (31.3.2014) saßen 1469 Menschen wegen "Schwarzfahrens" in Gefängnissen. Im Jahr 2020 gab es 43.134 Verurteilungen nach § 265a Strafgesetzbuch.

Im Original
Wie viele fahren schwarz, werden erwischt, bestraft?
Aus "Debatte über Entkriminalisierung: Schwarzfahrt in den Knast", auf: Spiegel Online, 29.12.2018
In der Strafverfolgungsstatistik sind 50.683 Verurteilungen für 2017 aufgeführt, darunter rund 47.000 Geldstrafen und 3200 Freiheitsstrafen. Die Zahlen gelten für alle Verurteilungen nach Paragraf 265a, also nicht nur, aber ganz überwiegend wegen Fahrens ohne Fahrkarte.
Wer seine Geldstrafe nicht, auch nicht in Raten, zahlen kann, dem droht eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe. 37 Prozent aller Menschen, die 2017 in Berlin deswegen im Gefängnis saßen, waren wegen des Erschleichens von Leistungen verurteilt worden. "Man kann über die meisten Ersatzfreiheitsstrafer sagen, dass es Menschen sind, die zu uns mit multiplen Problemlagen kommen", sagt der Sprecher der Senatsverwaltung für Justiz, Sebastian Brux.
Was das konkret bedeutet, steht in der Stellungnahme, die die Leiterin der Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit, Anke Stein, für den Rechtsausschuss verfasst hat: "Obdachlosigkeit, Drogen- und Alkoholabhängigkeiten, psychische Störungen, psychiatrische Erkrankungen oder desolate körperliche Gesundheitszustände sind die Regel, nicht die Ausnahme." ...
Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen geht bei etwa 10 Milliarden Fahrten pro Jahr von rund 350 Millionen Schwarzfahrten aus.


Zahlen aus dem MDR, 31.5.2014
Bis zu 30 Kontrolleure sind jeden Tag in Bussen und Bahnen der Dresdner Verkehrsbetriebe unterwegs. Täglich erwischen sie etwa 150 Schwarzfahrer, erklärt Unternehmenssprecher Falk Lösch: "Wir gehen davon aus, dass wir jährlich - alle notwendigen Kontrollen eingerechnet - einen Verlust zwischen 1,5 und zwei Millionen Euro haben."
In Leipzig werden täglich 120 Schwarzfahrer geschnappt, teilt die LVB mit, in Chemnitz sind es 20. Stefan Tschöck, Sprecher der Chemnitzer VAG, schätzt aber, dass die Dunkelziffer weitaus höher, nämlich bei einem Prozent liegt: "Wir befördern jeden Tag deutlich über 100.000 Fahrgäste. Wenn also zirka ein Prozent keinen gültigen Fahrschein hat, würde das bedeuten, dass 1.000 Fahrgäste pro Tag in Chemnitz ohne Fahrschein unterwegs sind."


Aus "Statistik der Polizei Stadt der Diebe - Kriminalität in Berlin drastisch gestiegen", in: tagesspiegel, 23.2.2015
Schwarzfahrer verderben der Polizei 2014 die Statistik. Die Zahl verfünffachte sich auf 34 850. Denn 2013 konnte die BVG kaum Fälle an die Polizei übermitteln, da bekanntlich ihr Computer kaputt war. 8000 Fälle wurden 2014 nachgemeldet. Zudem haben BVG und S-Bahn laut Polizei ihre „Kontrollintensität deutlich erhöht“.

Aus "Immer mehr fahren schwarz – und zahlen auch Bußgelder nicht", in: Hamburger Abendblatt, 5.2.2018
Aktuelle Zahlen für das Jahr 2017 belegen nämlich: 4,5 Prozent der Fahrgäste im Hamburger Verkehrsverbund (HVV) waren ohne gültiges Ticket unterwegs. Ein Jahr zuvor lag ihr Anteil bei 4,2 und im Jahr 2012 bei 3,5 Prozent.

Aus "Straftaten im Minutentakt - Berlin ist die Stadt der Diebe", in: Berliner Morgenpost, 23.2.2015
Gäbe es eine Rangliste für die Ab- und Zunahme einzelner Straftaten, Berlins Schwarzfahrer würden einsam und allein an der Spitze stehen. Registrierte die Polizei 2013 noch etwa 7000 Fälle sogenannter Beförderungserschleichung, waren es 2014 knapp 35.000 Fälle. Das bedeutet eine Zunahme um sagenhafte 395 Prozent.
Die Zahlen zu den Schwarzfahrern zeigen aber auch, mit welcher Vorsicht statistische Angaben zu bewerten sind. 2013 gab es vergleichsweise wenige Kontrollen in Bussen und Bahnen, 2014 wurden sie deutlich erhöht. Allein daraus ergibt sich nach Angaben des Polizeipräsidenten der atemberaubende Anstieg.

Aus "Kriminalstatistik 2014 für Baden-Württemberg", Quelle: Innenministerium Baden-Württemberg, veröffentlicht von SecuMedia am 26.2.2015 (Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0)
Armutskriminalität wächst
„Gleichwohl sehe ich auch kritische Entwicklungen, denen wir mit vollem Einsatz begegnen müssen“, erklärte der Innenminister. Auf eine zunehmende Armutskriminalität hin deuteten die Steigerungen im Diebstahlsbereich um 4,1 Prozent auf 217.220 Straftaten - beispielsweise beim Ladendiebstahl um 5,5 Prozent (auf 41.026 Fälle), Taschendiebstahl um 17,1 Prozent (auf 10.021 Delikte), Diebstahl von Fahrrädern um 10,6 Prozent (auf 27.203 Straftaten) – und beim Schwarzfahren um 9,3 Prozent (auf 35.410 Fälle).


Aus "107.000 offene Haftbefehle: Tausende Straftäter sind auf freiem Fuß", auf: n-tv am 21.4.2016 ++ Bericht im HR
Ende 2015 seien mehr als 107.000 Haftbefehle nicht vollstreckt gewesen, berichtet der Hessische Rundfunk unter Berufung auf das Bundeskriminalamt (BKA). Bei einem Großteil der offenen Haftbefehle handle es sich um Ersatzhaftstrafen.
Ersatzhaftstrafen werden wirksam, wenn ein Straftäter eine Geldstrafe nicht bezahlt. Anlass sind häufig kleinere Delikte wie Schwarzfahren oder Drogenbesitz.


Immer mehr Menschen ohne Ticket
Aus "623.000 mal erwischt", in: Berliner Kurier am 14.2.2020
Die Zahl der Schwarzfahrer im öffentlichen Nahverkehr steigt. 2019 erwischten die Kontrolleure 623.000 Menschen, die in S-Bahn, U-Bahn, Straßenbahn oder Bus ohne Ticket unterwegs waren. Allein die BVG meldet einen Anstieg um mehr als 40.000 Schwarzfahrer im Vergleich zu 2018. Weil sie Bußgelder nicht zahlen konnten, sitzen Dutzende Ticket-Sünder in Berliner Gefängnissen ihre Strafe ab. Ihre Unterbringung im Knast kostet viel Geld. ...
Doch auch im Verhältnis betrachtet bleiben die Schwarzfahrer-Quoten hoch oder steigen sogar. Inzwischen drei Prozent fahren in Berlin ohne Ticket. Bei der S-Bahn ging die Quote um 0,4 Prozent nach oben. Bei der BVG ging die Schwarzfahrer-Quote um 0,1 % zurück, in absoluten Zahlen aber nach oben.


Aus "Der Rechtsstaat und das Fahren ohne Fahrschein (§ 265a StGB) – Was kostet die Verfolgung eines umstrittenen Straftatbestands?"
Dieser Text errechnet, wie viel es den Staat kostet, den Straftatbestand zu verfolgen. Wir beziehen dabei Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichte und Justizvollzugsanstalten ein. Am Ende steht eine Zahl von rund 114 Millionen Euro. ...
Im Jahr 2020 erfolgten allein 6 % der Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht aufgrund des Deliktes Erschleichen von Leistungen. Diese Masse bindet Leistungen der Strafjustiz für ein Delikt, welches laut OLG Brandenburg „an der untersten Grenze desjenigen Bereichs menschlichen Verhaltens [liegt], den die Rechtsordnung mit Strafe bedroht“. Gleichzeitig ist Fahren ohne Fahrschein dasjenige Delikt, bei welchem die Geldstrafe am häufigsten in eine Ersatzfreiheitsstrafe mündet. Jede siebte Person, die wegen § 265 a zu einer Geldstrafe verurteilt wird, tritt eine Ersatzfreiheitsstrafe an; bei Diebstählen ist es jede achte und bei Steuerdelikten gar nur jede 43. Die härteste Sanktion des deutschen Strafrechts, die Freiheitsstrafe, wird also regelmäßig wegen des kleinsten Delikts vollzogen.
Diese Praxis wird aus verschiedenen Gründen kritisiert. Erstens wird in Frage gestellt, ob die Beförderungserschleichung überhaupt als Straftat zu werten sei. Strafrecht und insbesondere die Freiheitsstrafe sollte nur als „ultima ratio“, als letztes Mittel, zum Zuge kommen. Die Tatbegehung des „Erschleichens“ erfordere aber nur eine „äußerst geringe kriminelle Energie“ und verursache nur einen sehr geringen Schaden. Die Beförderungserschleichung sei allenfalls, so bspw. der Gesetzentwurf von Bündnis90/Die Grünen, als Ordnungswidrigkeit zu bewerten, wie auch das Falschparken. Andere sehen selbst diese Androhung als nicht notwendig, da, wie im Gesetzentwurf der Linken vorgesehen, die Verkehrsbetriebe ja freiwillig auf Einlasskontrollen verzichten würden und das erhöhte Beförderungsentgelt als Androhung ausreiche. Zweitens treffe diese Norm insbesondere sozial Schwache. Diese hätten Schwierigkeiten sich die Tickets zu leisten, seien aber gleichzeitig auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen. Auch könnten sie, wenn sie sich bereits das Ticket nicht leisten können, auch nicht das erhöhte Beförderungsentgelt der Verkehrsbetriebe entrichten. Sie treffen also zusätzliche negative Folgen, unabhängig von der Kriminalisierung: So reichen die Verkehrsbetriebe bei Nichtzahlung des erhöhten Beförderungsentgeltes (60 EUR) die Forderung an Inkassounternehmen weiter. Solche Verfahren sind kostspielig und erhöhen die Kosten schnell um 50 % (siehe unten). Drittens wird die Verhältnismäßigkeit in Frage gestellt. Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichte und Justizvollzug müssen sich mit dem Massendelikt Fahren ohne Fahrschein beschäftigen, und setzen dabei wertvolle Ressourcen ein, die folglich bei der Verfolgung schwerer Kriminalität und bei der Resozialisierung von Menschen, die schwere Straftaten begangen haben, fehlen.


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