Projektwerkstatt Saasen

ANARCHIE

Murray Bookchin
Die Neugestaltung der Gesellschaft (Auszüge)

Veröffentlicht in deutscher Übersetzung: 1992 im Trotzdem-Verlag, Grafenau
Im gesellschaftlichen Sinne leben wir in einer verzweifelten Unsicherheit über die Beziehungen der Menschen untereinander. Wir leiden nicht nur als Individuen unter Entfremdung und Konfusion über unsere Identität und unsere Ziele; unsere ganze Gesellschaft, als Einheit gesehen, scheint sich über ihre eigene Natur und Zielsetzung unklar zu sein. Wenn frühere Gesellschaften Eigenschaften wie gegenseitige Hilfe und (S. 7)
Wir verspüren erste Anzeichen eines Vertrauensverlustes in unsere einzigartigen menschlichen Fähigkeiten - unsere Fähigkeit, in Frieden mit anderen zu leben, unsere Fähigkeit, uns um Mitmenschen und andere Lebewesen zu kümmern. Dieser Pessimismus wird täglich von Soziologen genährt, die die Ursachen unseren Versagens innerhalb unserer Gene lokalisieren, von Antihumanisten, die unsere "antinatürlichen" Sensibilitäten beklagen, und durch "Biozentristen", die unsere rationalen Qualitäten durch Beiträge herabsetzen, in denen wir von unserem "inneren Wert" her schließlich nicht anders als Ameisen seien. Alles in allem sind wir Zeuge eines breitangelegten Angriffs auf die Fähigkeitvon Vernunft, Wissenschaft und Technik diese Welt für uns und das Leben generell zu verbessern. (S. 9)
Stattdessen, so wie wir vage Begriffe wie "Menschheit" oder zoologische Wörter wie Homo sapiens benutzen, die riesige Unterschiede bis hin zu erbitterten Antagonismen verdecken, welche zwischen privilegierten Weißen und Menschen anderer Hautfarbe bestehen, zwischen Männern und Frauen, Reichen und Armen, Unterdrückern und Unterdrückten - gerade so benutzen wir vage Begriffe wie "Gesellschaft“ oder "Zivilisation", die in sich ebenso solche enormen Unterschiede, nämlich zwischen freien, nicht-hierarchischen, klassen- und staatenlosen Gesellschaften zum einen, und andererseits graduell unterschiedlich hierarchisch, klassengeschichtet, staatlich und autoritär gestaltete Gesellschaften verbergen. Somit wird eine sozial orientierte Ökologie letztlich durch Zoologie ersetzt. Über alles hinwegfegende "Naturgesetze", abgeleitet von Populationsschwankungen bei Tieren, sollen zur Erklärung widerstreitender ökonomischer und sozialer Interessen unter den Menschen herhalten.
Einfach nur "Gesellschaft" gegen "Natur", "Menschheit" gegen die "Biosphäre", und "Vernunft", "Technik" und "Wissenschaft" gegen weniger entwickelte, oft primitive Formen menschlicher Interaktion mit der natürlichen Welt auszuspielen, hindert uns daran, die hochkomplexen Unterschiede und Spaltungen innerhalb der Gesellschaft zu untersuchen, was zur Bestimmung unserer Probleme und deren Lösungen so notwendig wäre. (S. 10)
Wenn wir Menschheit und Gesellschaft so radikal von der Natur trennen bzw. sie ganznaiv auf bloße zoologische Einheiten reduzieren, dann können wir letzten Endes nicht mehr erkennen, wie die menschliche Natur aus der nicht menschlichen Natur und die Evolution der Gesellschaft aus der Evolution der Natur entstanden ist. Die Menschheit wird dadurch in unserem "Zeitalter der Entfremdung" nicht nur sich selbst entfremdet, sondern auch der natürlichen Welt, in der sie von jeher als komplexe und denkende Lebensform verwurzelt war.
Entsprechend wird uns ständig von liberalen und menschenfeindlichen Umweltschützern vorgehalten, wie "wir" als Art für den Verfall der Umwelt verantwortlich seien. Man muß sich nicht unbedingt in die Enklaven der Mystiker und Gurus in San Francisco begeben, um diesem arten-zentrierten, vom Gesellschaftlichen abgehobenen Verständnis ökologischer Probleme und ihrer Ursachen zu begegnen. In New York ist es nicht anders. Ich werde nicht so schnell eine "Umwelt"-Ausstellung im New Yorker Museum für Naturgeschichte in den siebziger Jahren vergessen. Hier wurden dem Besucher eine lange Reihe von Objekten präsentiert, die alle beispielhaft für Umweltverschmutzung und ökologische Zerrüttung waren. Das Objekt, das die Ausstellung abschloß, trug den alarmierenden Titel "Das gefährlichste Tier der Erde" und war einfach nur ein großer Spiegel, der den menschlichen Betrachter, der vor ihm stand, reflektierte. Deutlich kann ich mich an einen kleinen schwarzen Jungen erinnern, dem ein weißer Lehrer die Botschaft zu erklären versuchte, die dieses arrogante Ausstellungsobjekt vermitteln sollte (S. 11)
Nicht ausgestellt hingegen waren Bilder von Vorständen oder Aufsichtsräten, die gerade die Rodung einer Berglandschaft planen, oder von Regierungsvertretern, die mit jenen unter einer Decke stecken. Die Ausstellung vermittelte in erster Linie die eine, zutiefst menschenfeindliche These: Menschen an sich, und nicht eine habgierige Gesellschaft mit ihren wohlhabenden Nutznießern, sind für das ökologische Ungleichgewicht verantwortlich - die Armen wie die Reichen, Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe ebenso wie privilegierte Weiße, Frauen nicht anders als Männer, die Unterdrückten nicht weniger als die Unterdrücker. An die Stelle von Klassen war der Mythos von der "biologischen" Art "Mensch" getreten; statt Hierarchien wirkten Einzelne; der persönliche Geschmack (oft genug von zudringlichen Massenmedien geformt) hatte soziale Beziehungen ersetzt; und die Machtlosen, so arinselig und isoliert sie lebten, nahmen die Rolle ein, die gigantischen Konzernen, korrupten Bürokratien und dem ganzen gewalttätigen Staatsapparat zukommt. (S. 12)
Um solche indiskutablen "Umwelt“-Ausstellungen, die unterschiedslos die Privilegierten gleich den Unterprivilegierten im selben Rahmen erscheinen lassen, hinter uns zu lassen, scheint es an dieser Stelleangebracht, etwas sehr Relevantes und Notwendiges zu tun: Gesellschaft nämlich wieder in einen ökologischen Kontext zu stellen. Mehr denn je muß betont werden, dass fast alle ökologischen Probleme soziale Probleme sind und nicht einfach oder in erster Linie das Ergebnis religiöser, geistlicher oder politischer Ideologien. Daß diese Ideologien eine unökologische Haltung in Menschen aller gesellschaftlicher Schichten fördern, muß hier sicherlich nicht besonders hervorgehoben werden. Aber statt Ideologien einfach für bare Münze nehmen, müssen wir viel eher fragen, woraus sich diese Ideologien entwickeln. (S. 12)
Wenn wir unsere heutigen ökologischen, ökonomischen und politischen Probleme verstehen wollen, müssen wir ihre gesellschaftlichen Ursachen erforschen und sie mit gesellschaftlichen Mitteln beseitigen. "Deep Ecology", "spirituelle", antihumanistische und menschenfeindliche ökologische Ansätze führen uns in die Irre, wenn sie unsere Aufmerksamkeit von sozialen Ursachen auf soziale Symptome ablenken. Wenn unsere Verpflichtung darin besteht, zum Verständnis bedeutender ökologischer Umwälzungen die Veränderungen gesellschaftlicher Verhältnisse zu betrachten, entfernen uns die genannten ökologischen Ansätze von gesellschaftlichen Kategorien, hin zu "spirituellen", "kulturellen" oder vage definierten "traditionellen" Erklärungen. (S. 13)
Wenn wir anfangen, Sozialisation grundlegend zu betrachten, fällt auf, daß Gesellschaft an sich, in ihren ursprünglichsten Formen, sich aus der Natur entwickelte. Tatsächlich ist jede soziale Entwicklung eine Fortführung des natürlichen Evolutionsprozesses in das Reich der Menschheit. Wie der römische Redner und Philosoph Cicero bereits vor etwa zweitausend Jahren sagte:"...durch den Gebrauch unserer Hände schaffen wir innerhalb des Reiches der Natur eine zweite Natur für uns selbst." Ciceros Beobachtung ist allerdings nur sehr unvollständig: das ursprüngliche, vorgeblich unberührte "Reich der Natur", das auch als "Erste Natur" bezeichnet wird, ist nicht allein durch den "Gebrauch unserer Hände" ganz oder teilweise zur "Zweiten Natur" umgearbeitet worden. Vielmehr haben das Denken, die Sprache sowie komplexe, sehr wichtige biologische Veränderungen eine wesentliche, ja zeitweise eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung einer "Zweiten" innerhalb der "Ersten Natur" gespielt.
Ich benutze bewußt den Begriff "umgearbeitet" als Hinweis auf die Tatsache, daß die "Zweite Natur" nicht nur einfach ein Phänomen ist, welches sich außerhalb der "Ersten Natur" entwickelt hat - deshalb der spezielle Wert, der Ciceros Gebrauch des Ausdrucks "innerhalb des Reiches der Natur..." beigemessen werden sollte. Wenn ich betone, daß die "Zweite Natur", - oder genauer gesagt, die Gesellschaft im weitesten Sinn des Wortes - innerhalb der ursprünglichen "Ersten Natur" ins Dasein getreten ist, dann will ich damit verdeutlichen, welche naturalistische Dimension das soziale Leben immer gehabt hat, und dies trotz des Gegensatzes von Natur und Gesellschaft, wie er in unserem Denken verankert ist. Soziale Ökologie ist demnach ein Ausdruck, der in besonderem Maße verdeutlicht, daß (S. 14)
Gesellschaft nicht plötzlich, sozusagen wie ein Vulkanausbruch, über die Welt gekommen ist. Gesellschaftliches Leben ist nicht notwendigerweise mit der Natur in einem unerbitterlichen Kriegszustand konfrontiert. Die Herausbildung der Gesellschaft ist eine natürliche Tatsache, die ihre Ursprünge in der Biologie menschlicher Sozialisation hat. (S. 15)
..., eine Verlängerung, die Briffault im Zusammenhang mit einer Erhöhung der Schwangerschaftsdauer und Weiterentwicklung der Intelligenz sieht.
Die biologische Dimension, die Briffault dem zuweist, was wir mit Gesellschaft und Sozialisation bezeichnen, kann nichtdeutlich genug betont werden. Sie ist ein entscheidendes Merkmal, nicht nur im Ursprung von Gesellschaft im Verlaufe der Evolution der Tierwelt, sondern auch in der täglichen Neuformierung der Gesellschaft in unserem alltäglichen Leben. Jedes neugeborene Kind und die ausgiebige Pflege und Sorgfalt, die es in den folgenden Jahren erfährt, erinnern uns daran, daß hier nicht nur ein neuer Mensch entstanden ist, sondern die Gesellschaft selbst eine Reproduktion erfahren hat. Im Vergleich mit Nachkommen anderer Arten entwickeln sich Kinder langsam und über einen sehr langen Zeitraum. Durch die enge Verbindung mit den Eltern, Geschwistern, Verwandten und dem sich stetig erweiternden gesellschaftlichen Kreis bewahren sie sich den formbaren Geist, aus dem schöpferische Individuen und flexible soziale Gruppierungen erwachsen können. Auch wenn Tiere sich vielfach in menschenähnlicher Weise zusammenschließen, so schaffen sie doch keine "Zweite Natur" um eine kulturelle Tradition herum, ebensowenig wie sie über eine komplexe Sprache verfügen, eine ausgefeilte Begriffsweltbeherrschen oder ihre Umwelt mit derart beeindruckender Zielstrebigkeit umgestalten können. (S. 16)
Die zeitlich verlängerte Formbarkeit des menschlichen Denkens, ihre Abhängigkeit und soziale Kreativität führen zu zwei Erkenntnissen von entscheidender Bedeutung. Erstens müssen frühe menschliche Sozialverbände eine starke Tendenz zur Unabhängigkeit innerhalb eines Gruppenverbandes kultiviert haben - wobei hierunter nicht jener "ungebändigte Individualismus" zu verstehen ist, den wir mit Unabhängigkeit assoziieren. Praktisch die gesamte anthropologische Forschung hat gezeigt, daß Anteilnahme, gegenseitige Unterstützung, Solidarität und Verständnis die vorherrschenden sozialen Tugenden waren, die das Leben früher menschlicher Gemeinschaften bestimmten. Die Vorstellung, daß die Menschen, um gut leben, ja um überleben zu können, aufeinander angewiesen sind, leitete sich von der Abhängigkeit des Kindes von den Erwachsenen ab. Unabhängigkeit, geschweige denn Konkurrenz, wäre für ein Wesen, das über so lange Zeit in sorgsam behüteter Abhängigkeit großgezogen wurde, ein völlig fremder, abwegiger Gedanke. Ein weitgehend kulturell geprägtes Wesen, das selbst einer langen Pflege bedurft hatte, wird mit der gleichen Selbstverständlichkeit Sorge für andere tragen. Unsere moderne Version von Individualismus, oder genauer von Egoismus, würde in völligem Widerspruch zu jenen frühen Formen der Solidarität und gegenseitigen Hilfe stehen, ohne die ein solch physisch zerbrechliches Tier, wie es das menschliche Wesen verkörpert, nicht hätte überleben können - nicht als Erwachsener und schon gar nicht als Kind. (S. 17)
Nichtmenschliche Arten mögen mitunter lose Verbände formen und sich sogar zu einem kollektiven Schutz organisieren, um ihre Jungen vor Angreifern zu verteidigen. Diese Gemeinschaften können aber wohl kaum, außer in einem sehr weiten und oberflächlichen Sinne, als strukturiert bezeichnet werden. Menschen dagegen bilden höchst formalisierte Gemeinschaften, die im Laufe der Zeit in ihrer Struktur ständig weiter ausgebaut werden. Und tatsächlich bilden sie nicht nur Gemeinschaften, sondern ein neues Phänomen, nämlich Gesellschaften.
Wenn wir nicht in der Lage sind, Tiergemeinschaften von menschlichen Gesellschaftsformen zu unterscheiden, setzen wir uns der Gefahr aus, die einzigartigen Züge zu übersehen, die das menschliche Sozialleben von der tierischen Gemeinschaft unterscheidet - vor allem die Möglichkeit, daß eine Gesellschaft sich ändert, ob zum Guten oder Schlechten, und wie es zu solchen Veränderungen kommt. Eine komplexe Gesellschaft auf eine bloße Gemeinschaft zu reduzieren, läßt leicht übersehen, wie sich Gesellschaften im Verlauf der Geschichte voneinander unterschieden. Wir können dabei ebenso übersehen, wie sich einfache Statusunterschiede zu fest etablierten Hierarchien entwickelten, oder Hierarchien zu ökonomischen Klassen. Womöglich verfehlen wir dabei den eigentlichen Kern eines Begriffs wie "Hierarchie", als hochorganisiertes System von Befehl und Gehorsam ganz im Gegensatz zu persönlichen, individuellen und oft kurzlebigen Status unterschieden, die meist gar keines unmittelbaren Zwanges bedürfen. Wir neigen im Endeffekt dazu, die streng institutionalisierten Produkte menschlichen Willens, die aus Intentionen, widersprüchlichen Interessen und aus Traditionen heraus entstanden sind, mit dem immergleichen gemeinschaftlichen Leben an sich zu verwechseln, als hätten wir es mit Wesenszügen, scheinbar unveränderlichen Merkmalen der Gesellschaft zu tun und nicht mit gefertigten Strukturen, die modifiziert, verbessert, verschlechtert oder ganz einfach abgeschafft werden können. Von Anbeginn der Geschichte, bis in die moderne Zeit, bestand der Trick aller herrschenden Eliten einfach darin, die eigenen, gesellschaftlich geschaffenen hierarchischen Herrschaftssysteme mit gemeinschaftlichem Leben als solchem gleichzusetzen, wobei letztlich die von Menschen erschaffenen Institutionen als von Gottes Gnaden erscheinen oder eine biologische Rechtfertigung erhalten. (S. 18)
Ich stelle diese sehr provozierenden Fragen nicht, um eine überhebliche Arroganz gegenüber nichtmenschlichen Lebensformen zu rechtfertigen. Wir müssen des Menschen Einzigartigkeit als Gattung, die sich durch seine sozialen, phantasievollen, konstruktiven und konzeptionellen Eigenschaften auszeichnet, in eine Art Synchronisation mit der Schöpfungskraft, dem Reichtum und der Vielfalt der Natur bringen. Ich habe behauptet, daß dieser Synchronisationsprozeß nicht dadurch erreicht werden kann, daß wir einen Gegensatz zwischen Natur und Gesellschaft konstruieren, zwischen nichtmenschlichen und menschlichen Lebensformen, zwischen lebendiger Frucht (S. 20)
Einer der wichtigsten Beiträge der Sozialen Ökologie im Rahmen der gegenwärtigen ökologischen Diskussion ist die Ansicht, daß die elementaren Probleme zwischen Gesellschaft und Natur nicht aus deren Spannungsverhältnis erwachsen, sondern im Innern der Gesellschaft entstehen. Der Riß zwischen Gesellschaft und Natur hat seine tiefsten Wurzeln in Rissen innerhalb der gesellschaftlichen Sphäre, nämlich in tiefgreifenden Konflikten zwischen den Menschen, die oft durch unseren allumfassenden Begriff von „Menschheit" verschleiert werden. (S. 21)
Ironischerweise umfaßt vieles von dem, was heute als antihumanistische und mystische Ökologie auftritt, dieselben Denkstrukturen - nur in umgekehrter Form. Ebenso wie ihre instrumentalisierenden Gegner gehen auch diese Ökologen von einer Übermacht der Natur über den Menschen aus, die sich entweder in "Naturgesetzen" oder in einer das menschliche Verhalten lenkenden, nebulösen "Naturweisheit" ausdrückt. Während allerdings die Instrumentalisierer verlangen, die Natur müsse sich der aktiv-aggressiven Menschheit "unterwerfen“, treten die Antihumanisten und mystischen Ökologen für die bedingungslose Unterwerfung der Menschheit unter die "allmächtige" Natur ein. Wie weit sich die beiden Meinungen in ihrem Vokabular und Glaubenssätzen auch unterscheiden mögen, so bauen doch beide auf Herrschaft als Grundbegriff auf: Natur wird als ein Zuchtmeister gesehen; entweder man gehorcht ihm, oder man entthront ihn. (S. 22 f.)
Unsere vorherrschende Gesellschaftsordnung dient dazu, unsere menschlichen Fähigkeiten zu hemmen, anstatt sie zu entwickeln. Wir können uns noch nicht einmal vorstellen, wie weit unsere besten menschlichen Züge innerhalb einer ethischen, ökologischen und rationalen Ordnung menschlicher Dinge entwickelt werden könnten.
Im Gegensatz hierzu scheint die uns bekannte nichtmenschliche Welt ersichtlich an die Grenze ihrer Fähigkeit gestoßen zu sein, umweltbedingte Veränderungen zu überleben. Wenn bloße Anpassung an eine veränderte Umwelt als das Kriterium für erfolgreiche Evolution gilt (wie viele Biologen glauben), dann hätten Insekten einen höheren Rang in der Entwicklungsstufe erreicht als jede Säugerart. Sie wären aber ebensowenig in der Lage, eine hochgestochene intellektuelle Einschätzung ihrer eigenen Lage zu vollziehen, wie eine "Bienenkönigin" sich auch nur im entferntesten ihres "königlichen" Status bewußt werden könnte - eines Status, möchte ich hinzufügen, den nur Menschen (die schließlich die Herrschaft dummer, unfähiger und grausamer Königinnen und Könige erlitten haben) einem weitgehend bewußtseinslosen Insekt zuschreiben können.
Keine dieser Bemerkungen soll dazu dienen, Natur und Gesellschaft in einen metaphysischen Gegensatz zu bringen. Ganz im Gegenteil, sie sollen hier argumentativ das die beiden verbindende Element in einem graduellen evolutionären Kontinuum aufzeigen, nämlich in welch bemerkenswertem Ausmaß die Menschen in einer rationalen, ökologisch orientierten Gesellschaft - anders als unter einem rein adaptiven Kriterium des evolutionären Erfolges - die Kreativität der Natur verkörpern könnten. Die großen Errungenschaften menschlichen Denkens, der Kunst, der Wissenschaft und der Technik, dienen nicht nur zur Monumentalisierung der Kultur, sie sind ebenso ein Monument der natürlichen Evolution selbst. Kunst, Wissenschaft und Technik liefern den schlagenden Beweis dafür, daß die menschliche Art eine warmherzige, aufregende, vielseitige und besonders intelligente Lebensform darstellt - in der die Natur ihre höchste Schaffenskraft (S. 25)
Anpassung wird also mehr und mehr durch Kreativität ersetzt, und das scheinbar erbarmungslose Wirken der "Naturgesetze" macht größerer Freiheit Platz. Was frühere Generationen, mit dem Hinweis auf das Fehlen jeglicher moralischer Richtung, "blinde Natur" nannten, wird zur "freien Natur", zu einer Natur, die langsam Stimme und Wege findet, alle Lebensbereiche von unnötigem Leiden zu erlösen, in einer bewußten Menschheit und einer ökologischen Gesellschaft. Das "Noah-Prinzip", jede existierende Form des Lebens um ihrer selbst willen zu erhalten - ein Prinzip, das von (S. 27)
dem Antihumanisten David Ehrenfeld vertreten wird - ist bedeutungslos ohne die Mindestvoraussetzung, nämlich die Existenz eines "Noah", womit eine bewußte Form des Lebens, genannt Menschheit, gemeint ist, die vielleicht auch solche Lebensformen rettet, die die Natur selbst, in einer Eiszeit, Austrocknung des Landes oder einer kosmischen Kollision ausrotten würde. (S. 28)
Was die Menschen zu "Fremden" der Natur gegenüber gemacht hat, sind soziale Veränderungen, die viele Menschen zu "Fremden" in ihrer eigenen sozialen Umgebung werden ließen: die Herrschaft des Alters über die Jugend, der Männer über die Frauen sowie der Männer untereinander. Heute wie vor Jahrhunderten gibt es Menschen - Unterdrücker -, die buchstäblich die Gesellschaft besitzen, und andere, von denen Besitz genommen wird. Solange die Gesellschaft nicht von einer vereinten Menschheit wiedererobert wird, die ihre gesamte kollektive Weisheit, ihre kulturellen Errungenschaften, technologischen Innovationen, wissenschaftlichen Erkenntnisse und angeborene Kreativität zu ihrem eigenen Besten und zum Nutzen der natürlichen Welt einsetzt, erwachsen alle ökologischen Probleme aus sozialen Problemen. (S. 29)
Wenn wir Natur als Entwicklung begreifen, erkennen wir das Vorhandensein dieser Tendenz zur Selbst-Bewußtwerdung und letztlich zur Freiheit. Diskussionen darüber, ob diese Tendenz Beweis für ein vorbestimmtes "Ziel", eine "führende Hand" oder einen "Gote' ist, sind in diesem Zusammenhang völlig irrelevant. (S. 30)
Es fällt auf, wie wenig diese organische, im wesentlichen schriftlose oder "Stammes"-Gesellschaft herrschaftsorientiert war - nicht nur in der Struktur ihre Institutionen, sondern schon in der Sprache. Stimmen die linguistischen Analysen von Anthropologen wie Dorothy Lee, dann kannten bestimmte indianische Stämme, z.B. die Wintus von der Pazifikküste, keine Transitivverben wie "haben", "nehmen" oder "besitzen", die eine Macht über Menschen oder Dinge ausdrücken. So "ging" beispielsweise eine Mutter mit ihrem Kind in den Schatten, ein Häuptling "stand" bei seinem Volk und ganz allgemein "lebten" die Menschen mit Gegenständen, anstatt sie zu "besitzen". (S. 36)
Der Respekt vor dem Individuum, den Radin als erste Eigenschaft der Ureinwohner aufführt, verdient es, gerade heute betont zu werden, in einer Zeit, die das Kollektiv zum einen als für die Individualität destruktiv ablehnt, die jedoch andererseits in einer Orgie von Egoismus eigentlich alle Ego-Grenzen der entwurzelten, isolierten und atomisierten Individuen zerstört hat. Wie genauere Studien bestimmter Ureinwohnergemeinschaften ergeben, kann ein starkes Kollektiv das Individuum weitaus mehr unterstützen als eine "freie Markt"-Gesellschaft, die einem egoistischen, aber verarmten Selbst huldigt. (S. 37 f.)
Schließlich entschied noch ein dritter biologischer Umstand, nämlich das Alter, über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Wie wir noch sehen werden, sind die frühesten wahrhaft gesellschaftlichen Beispiele für Statusunterschiede durch die Altersgruppen verkörpert und durch die Zeremonien, die den jeweiligen Altersstatus legitimierten. Blutsverwandtschaft machte die einfache Tatsache bewußt, daß man dieselben Vorfahren hatte wie die anderen Gruppenmitglieder. Sie definierte die Rechte und Verantwortlich (S. 41)
Unterwürfigkeit männlichen Häuptlingen, Kriegern und Königen gegenüber war nicht nur ein Zwang, den Krieger den Frauen auferlegten. Seite an Seite mit der unterwürfigen Frau steht unverändert das Bild des unterwürfigen Mannes, auf dessen Rücken der Fuß arroganter Monarchen und Kapitalisten ruht. Die Erniedrigung des Menschen durch den Menschen begann schon sehr frühzeitig in der "Männerhütte", wo die auf der Erde kauernden Jungen den Hohn für ihre Unerfahrenheit aus dem Munde erwachsener Männer ernteten und den "kleinen Leuten" Verachtung entgegenschlug, da doch ihre Verdienste um so vieles geringer waren als die der "Großen". Hierarchie, die zum ersten Mal und zögernd mit der Gerontokratie ihr Haupt erhob, ist nicht schlagartig in die Frühgeschichte hineingeplatzt. Sie breitete sich langsam aus, vorsichtig und oft unmerklich, durch eine fast metabolische Art von Wachstum, als "Große Männer" über "Kleine Männer“ zu herrschen begannen, Krieger und ihre "Gefolgschaft" über ihre Landsleute, Häuptlinge über ihre Gemeinschaft und schließlich der Adel über Bauern und Leibeigene.
In gleicher Weise drang die "öffentliche" Sphäre der Männer langsam in die "häusliche" der Frauen ein. Sie machte sich die Welt der Frauen scheibchenweise zu Diensten, ohne sie dabei zu zerstören. Die Gemeinschaft der Frauen nahm in der Konfrontation mit den, von den Männern geschaffenen neuen "öffentlichen" Beziehungen eine versteckte Form an, eine Vertraulichkeit, die die Frauen untereinander, hinter dem Rücken der Männer, teilten.
In den Beziehungen zwischen den Geschlechtern wie auch in denen der Männer untereinander gab es also keinen plötzlichen Sprung von dem sexuellen Egalitarismus früher schriftlosen Gesellschaften zu einer männlichen "Priorität“. Wie Biehl bereits deutlich machte, ist es ziemlich un (S. 47)
möglich, die Herrschaft des Mannes über die Frau von der Herrschaft des Mannes über andere Männer zu trennen. Diese beiden Momente standen immer in dialektischer Interaktion miteinander; das Prinzip von Befehl und Gehorsam durchdrang allmählich die gesamte Gesellschaft und führte sogar bei den Frauen zu - wenn auch weniger stabilen - Hierarchien. Am unteren Ende einer jeden sozialen Leiter standen immer die Außenseiter - ob Mann oder Frau - und die Menge der Kriegsgefangenen, die sich im Zuge der ökonomischen Veränderungen zu einem beträchtlichen Sklavenheer auswuchsen. (S. 48)
Aber nicht nur tritt dieses "dominierende" Verhalten allenfalls bei einem oder einigen wenigen Tieren auf, es ist auch sehr vorsichtig, häufig episodisch, formlos und, vor allem unter Menschenaffen, auf viele Tiere verteilt. Die "Privilegien", die unsere engsten Tierverwandten einfordern, sind von einer Tierart oder sogar Gruppe zur anderen sehr unterschiedlich. Dauerhafte Einrichtungen wie Armeen, Polizei, oder auch kriminelle Gruppen existieren nicht in der Tierwelt. Wo sie zu existieren scheinen, wie etwa die "Soldaten" einiger Insekten wie der Ameisen, handelt es sich um Beispiele genetisch determinierten Verhaltens und nicht um gesellschaftlich hervorgebrachte Institutionen, die durch Rebellion radikal veränderbar sind. (S. 52)
Dies zeigte sich, als euroamerikanische "Erzieher" Hopi-Kindern Wettkampfspiele beizubringen versuchten und es enorme Schwierigkeiten bereitete, die Kinder dazu zu bewegen, das Punkteverhältnis festzuhalten. Die Hopi-Sitte duldet, als für die Solidarität der Gemeinschaft schädlich, keine Rivalitäten und Selbstdarstellungen. (S. 54)
Der institutionelle Gipfel männlicher Zivilisation war der Staat. Auch hier finden wir wieder eine schwierige Dialektik, die uns zu einer vereinfachenden Diskussion über die Entstehung des Staates verleiten kann, wenn wir (S. 56)
Als Mindestdefinition ist der Staat ein professionelles System gesellschaftlicher Zwänge -nicht bloß ein System gesellschaftlicher Verwaltung, wie es naiverweise immer noch von der Öffentlichkeit und vielen politischen Theoretikern gesehen wird. Das Wort "professionell" sollte dabei genauso herausgehoben werden wie das Wort "Zwang". Zwang findet sich auch in der Natur, in persönlichen Beziehungen, in staatenlosen, nichthierarchischen Gemeinschaften. Wenn allein Zwang den Staat definiert, dann müssten wir ihn wider Willen zu einem bereits in der Natur vorhandenen Phänomen erklären - was er sicherlich nicht ist. Nur wenn Zwang in einer professionellen, systematischen und organisierten Form sozialer Kontrolle institutionalisiert wird, - das heißt, wenn Menschen aus ihrem alltäglichen Leben herausgerissen werden und von ihnen erwartet wird, eine Gemeinschaft nicht nur zu "verwalten", sondern dies auch mit Unterstützung eines Gewaltmonopols zu tun -erst dann können wir mit Fug und Recht von einem Staat sprechen. (S. 57)
schen Städtebünde und die Städte der amerikanischen Neu-England-Staaten. Man könnte endlos fortfahren und dezentralisierte, scheinbar freie und unabhängige Städte aufzählen, die sich schließlich aus einigermaßen demokratischen Gemeinschaften in Aristokratien verwandelten.
Das Bemerkenswerte an Athen ist die bewußte Umkehr des offensichtlich "normalen" Trends zur Oligarchie, die Solon, Kleisthenes und Perikles durch ihre radikalen Reformen der gesamten institutionellen Strukturen der Polis in die Wege geleitet haben. Die aristokratischen Institutionen wurden stetig geschwächt und bewußt abgeschafft oder zu rein zeremoniellen Körperschaften reduziert, während die Macht der demokratischen Institutionen verstärkt wurde, bis diese schließlich die gesamte männliche Bürgerschaft unabhängig von Besitz und Reichtum umfaßten. Die Armee wurde in eine Infanteriemiliz verwandelt, deren Macht die der aristokratischen Kavallerie bald bei weitem überstieg. Von daher müssen die negativen Momente der athenischen Demokratie im Kontext einer revolutionären Abkehr von dem normalen Trend zur Oligarchie in den meisten Stadt-Staaten verstanden werden. (S. 61)
erscheinen: direkte Demokratie, Beteiligung der Bürger an Regierungsgeschäften und eine Sensibilität für das Gemeinwohl. Selbst das Wort "Demokratie" erleidet einen SinnverluSt. Sie wird "repräsentativ" anstatt persönlich, hoch zentralisiert anstatt frei konföderativ zwischen relativ unabhängigen Gemeinschaften, und sie verliert ihre Graswurzel-Elemente.
Gebildete, verständige Bürger werden auf bloße Steuerzahler reduziert, die für "Dienstleistungen" Geld bezahlen, und in den Lehrplänen der Schulen tritt an die Stelle von Bürgertugenden die Vermittlung von Wissen, mit dem man viel Geld verdienen kann. Es wird sich noch herausstellen, wie weit dieser schreckliche Trend in einer Welt gehen wird, die von mechanischen Robotern, Computern, die so leicht zur Überwachung genutzt werden können, und Gentechnikem beherrscht wird, die so gut wie unberührt von moralischen Skrupeln sind.
Es ist daher immens wichtig zu wissen, wie wir dahin gelangt sind, daß unsere bedenkenlose "Kontrolle" über die Natur uns tiefer als je zuvor in die Sklaverei einer Herrschaftsgesellschaft geführt hat. Ebenso wichtig ist es, genau diejenigen menschlichen Errungenschaften in der Geschichte zu kennen, die uns, wie unvollkommen auch immer, den Weg weisen, wie Freiheit institutionalisiert - und hoffentlich über alle bisherigen Grenzen ausgeweitet - werden kann.
Es gibt kein Zurück zu dem naiven Egalitarismus der schriftlosen Welt oder zur demokratischen Polis der klassischen Antike. Wir sollten dies noch nicht einmal wollen. Atavismus, Primitivismus und Versuche, eine entfernten mit Rasseln, Trommeln, bemühten Ritualen und rhythmischen Gesängen zu beschwören, deren Wiederholungen und Wunschvorstellungen uns ein übernatürliches Wesen in unserer Mitte erscheinen lassen möchten - so sehr dies auch als harmlos oder "immanent" geleugnet oder bejaht werden mag - lassen uns die Notwendigkeit der rationalen Diskussion, des forschenden Blicks auf unsere Gemeinschaft und der beißenden Kritik an unserem gegenwärtigen Gesellschaftssystem vergessen. Ökologie ruht auf den wundervollen Qualitäten, der Schöpfungskraft und Kreativität der natürlichen Evolution, auf allem, was unsere tiefste emotionale, ästhetische und auch intellektuelle Bewunderung verdient - und nicht auf anthropomorphen Projektionen, auf Gottheiten, seien sie nun "immanent“ oder "transzendental". Nichts wird gewonnen, wenn wir einen naturalistischen, wahrlich ökologischen Rahmen verlassen und uns mystischen, psychologisch regressiven und historisch atavistischen Fantasien hingeben. (S. 62)
Ebensowenig dient es ökologischer Kreativität, sich auf alle Viere zu begeben und wie Coyoten oder Wölfe den Mond anzuheulen. Der Mensch, sicherlich nicht weniger ein Produkt der natürlichen Evolution als andere Säugetiere, ist definitiv in die gesellschaftliche Sphäre eingetreten. Aufgrund seiner spezifischen, biologisch angelegten Geisteskraft ist er im wahrsten Sinne von der Evolution dazu "bestimmt", in der Biosphäre zu intervenieren. (S. 63)
Gerontokratie, die für mich die früheste Form von Hierarchie darstellt, wurde möglich, weil die Jungen die Alten wegen ihres Wissens konsultieren mußten. Keine Schriften oder Bücher ersetzten das Wissen, das allein in den Hirnen der Alten festgehalten war. Die Ältesten nutzten - mit sichtbarer Wirkung -ihr Wissensmonopol, um die früheste Form von Herrschaft in der Vorgeschichte zu etablieren. Das Patriarchat selbst schuldet einen guten Teil seiner Macht dem Wissen, über das der männliche Älteste eines Clans (S. 70)
Ich will damit nicht den Eindruck erwecken, als sei dieser gewaltige Schritt - die Entwicklung der Idee von einer gemeinsamen Humanitas - über Nacht getan worden; außerdem wird bald klar, daß er von einigen ziemlich zweifelhaften Veränderungen der Conditio humana begleitet wurde. Selbst die liberalsten Städte, wie die griechischen Poleis und insbesondere das demokratische Athen, verliehen in der perikleischen Zeit an die ansässigen Fremden keine Bürgerrechte mehr. Noch ein Jahrhundert zuvor hatte Solon allen Auswärtigen, die eine für Athen wichtige Fertigkeit besaßen, ohne Bedenken die Bürgerschaft gewährt. Perikles, der demokratischste der athenischen Führer, beendete bedauerlicherweise Solons Liberalität und machte aus der Bürgerschaft ein Privileg für Männer nachweislich athenischer Abstammung. (S. 73)
Also: Besonders demokratisch = besonders klares Innen und Außen!
Das Konkurrenzprinzip hat nicht nur die Kapitalisten in den Kampf gegeneinander um die Märkte gehetzt, sondern alle Ebenen der Gesellschaft durchdrungen. Käufer und Verkäufer werden gegeneinander ausgespielt, Bedürfnis gegen Habgier und Individuum gegen Individuum gesetzt, bis in die elementarsten Bereiche menschlicher Begegnungen hinein. Selbst Arbeiter begegnen einander auf dem freien Markt sozusagen mit einem Knurren, und jeder sucht aus Überlebenswillen den anderen zu übervorteilen. Kein Moralisieren und kein Predigen kann die Tatsache ändern, daß Rivalität bereits auf den allerelementarsten Ebenen der Gesellschaft ein bourgeoises Lebensgesetz ist das im wahrsten Sinne des Wortes über "Leben" entscheidet. Akkumulation - um den Konkurrenten zu fällen ' aufzukaufen oder auf andere Weise in Verlegenheit zu bringen - ist eine Existenzbedingung innerhalb einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. (S. 85)
Gleich zu Beginn möchte ich eine sehr wichtige Unterscheidung treffen: nämlich zwischen Freiheitsidealen und dem Begriff von Gerechtigkeit. Diese beiden Wörter werden so austauschbar gebraucht, daß sie fast als synonym erscheinen. Gerechtigkeit unterscheidet sich jedoch grundlegend von Freiheit, und es ist wichtig, das eine von dem anderen zu trennen. Im Laufe der Geschichte haben beide zu sehr unterschiedlichen Kämpfen geführt und bis zum heutigen Tag radikal verschiedene Forderungen an die jeweiligen Machthaber und Regierungssysteme gerichtet. Wenn wir zwischen bloßen Reformen und grundlegenden Veränderungen der Gesellschaft unterscheiden, so geht es dabei großenteils bei den einen um Forderungen nach Gerechtigkeit, bei den anderen aber um Freiheit - so eng beide Ideale in instabilen sozialen Perioden auch miteinander verwoben sein mochten.
Gerechtigkeit ist die Forderung nach Gleichheit, nach "Fairneß" und einem Anteil an den Erträgen des Lebens, zu denen man selbst einen Beitrag leistet. Mit den Worten Thomas Jeffersons ist sie auf der Grundlage des Äquivalenzprinzips "gleich und exakt... ". Diese faire, äquivalente, anteilsmäßige Behandlung, die einem sozial, juristisch und materiell im Austausch für die eigene eingebrachte Leistung zuteil wird, wird traditionell durch Justitia, die römische Göttin, dargestellt, die mit einer Hand die Waage und mit der anderen das Schwert hält und deren Augen verbunden sind. Zusammengenommen bezeugt die Ausstattung der Justitia die Quantifizierung von Rechtsgütern, die auf beide Waagschalen verteilt werden können; die Macht der Gewalt, die in der Form des Schwertes hinter ihrem Urteil steht (unter den Bedingungen der "Zivilisation" wurde das Schwert zum Äquivalent des Staates), und die "Objektivität“ ihres Richtens, die sich durch die verbundenen Augen ausdrückt.
Ausführliche Diskussionen über Theorien der Gerechtigkeit, von Aristoteles in der Antike bis zu John Rawls in unserer Zeit, brauchen hier nicht untersucht zu werden. Sie beinhalten Ausführungen über das Naturrecht, über Verträge, Gegenseitigkeit und Egoismus - Themen, die nicht von unmittelbarem Belang für unsere Darstellung sind. Aber die Binde um Justitias Augen und die Waage in ihrer Hand sind Symbole für eine höchst problematische Beziehung, die wir nicht ignorieren dürfen. Vor Justitia sind alle menschlichen Wesen scheinbar "gleich". Sie stehen ihr gleichsam "nackt“ gegenüber, allen Status und aller gesellschaftlicher Privilegien und Sonderrechte entkleidet. Der berühmte "Schrei nach Gerechtigkeit" hat einen langen und komplexen Stammbaum. Schon in den frühen Tagen systematischer Unterdrückung und Ausbeutung gaben Menschen der Justitia mit offenen oder verbundenen Augen -eine Stimme und machten sie zur Sprecherin der mit Füßen Getretenen gegen die gefühllose Ungerechtigkeit und gegen die Verletzung des Äquivalenzprinzips.
Anfänglich wurde Justitia dem stammesmäßigen Gesetz der Blutrache, der bedenkenlosen Vergeltung für die Verletzung eines Blutsverwandten entgegengesetzt. Das berühmte lex talionis - Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben - wurde ausschließlich bei Schädigung eines Verwandten und nicht für Menschen im allgemeinen angewendet. Auch wenn die Forderung nach Rechtsausgleich innerhalb des eigenen Stammes rational erscheinen mag, so zeugte doch dieses Gesetz von einer beschränkten Denkweise und einem engen Horizont. (S. 88 ff.)
ten Leben oder Schlimmerem verurteilt - ist der Grundstein einer ethisch verstandenen Freiheit. Die "freie" Entfaltung des eigenen Potentials und die eigene Selbsterfüllung setzen voraus, daß dieses Potential überhaupt entfaltet werden kann, weil nämlich die Gesellschaft von einer Ethik der Gleichheit unter Ungleichen beherrscht wird. (S. 92)
Wenn Anarchisten und libertäre Utopisten das Element der Wahl in der Geschichte betonten, so schlugen sie damit eine radikal neue Richtung ein, weg von den zunehmend teleologischen Visionen der religiösen und später der "wissenschaftlichen" Sozialismen. Zu einem großen Teil erklärt diese Betonung die Aufmerksamkeit, welche die Anarchisten und libertären Utopisten des 19. Jahrhunderts der individuellen Autonomie schenkten, der Fähigkeit des Individuums, eine Wahl auf der Grundlage rationaler und ethischer Urteile zu treffen. Diese Sicht ist völlig verschieden von der liberalen Tradition, mit der anarchische Vorstellungen von Individualität durch ihre Opponenten und besonders durch die Marxisten, assoziiert wurden. Der Liberalismus offerierte dem Individuum sicherlich ein bißchen "Freiheie', eine Freiheit jedoch, die von der "unsichtbaren Hand" des konkurrierenden Marktes und nicht etwa durch die Fähigkeit freier Individuen, entsprechend ethischen Überlegungen zu handeln, eingeschränkt wurde. Der "freie Unternehmer", an dem der Liberalismus sein Bild von der individuellen Autonomie entwickelte war in Wirklichkeit ein Gefangener eines kollektiven Marktes, auch wenn er sich scheinbar von der erkennbar mittelalterlichen Gemeinschaft der Zünfte und der religiösen Pflichten emanzipiert hatte. Er wurde zum Spielball "höherer Gesetze" einer Marktordnung, die auf konkurrierenden Egos beruht, von denen jedes seine egoistischen Interessen in der Formierung eines allgemeinen gesellschaftlichen Interesses gegenseitig aufhebt.
Der Anarchismus und die libertären Utopisten haben das freie Individuum niemals in diesem Lichtegesehen. Für die anarchistischen Theoretiker sollte das Individuum die Freiheit haben, sich als ethisches Wesen - und nicht als engstirniger Egoist - zu betätigen, um eine rationale, hoffentlich uneigennützige Wahl zwischen rationalen und irrationalen Alternativen in der Geschichte zu treffen. Die marxistische Ente, daß der Anarchismus das das Produkt eines liberalen oder bourgeoisen "Individualismus"sei, hat ihre Wurzeln in Ideologien, die in ihrem tiefsten Kein selbst bourgeois sind, wle jene, die sich auf den Mythos einer "unsichtbaren Hand" (Liberalismus), den Geist (Hegelianismus) und einen ökonomischen Determinismus (Marxismus) gründen. Die Betonung der individuellen Freiheit durch die Anarchisten und libertären Utopisten bedeutete die Emanzipation von einer ahistorischen Präordination der Geschichte selbst und unterstreicht die Bedeutung ethischer Einflüsse auf die Wahl. Das Individuum ist wahrhaft frei und erhält wahre Individualität, wenn es von einer rationalen, humanen und hochstehenden Vorstellung vom Wohle der Gesellschaft oder Gemeinschaft geleitet wird. (S. 114 f.)
Mindestens ebenso aufregend ist die Erkenntnis, daß Marx "Wissenschaftlicher Sozialismus" sich im Gleichklang mit der bösartigen Vernichtung des eigentlichen Ziels wie auch der ideologischen Grundlagen des revolutionären Projekts durch die Bourgeoisie bewegte, indem er nämlich eine Rechtfertigung dafür lieferte, dezentrale Einheiten in einem zentralistischen Staat, föderalistische Visionen in einer chauvinistischen Nation und menschlich angepaßte Technologien in einem System alles verschlingender Massenproduktion aufgehen zu lassen. (S. 122)
Aber selten ist das revolutionäre Projekt durch die "Bourgeoisierung", wie sie Bakunin gegen Ende seines Lebens befürchtete, stärker verwässert worden als heute. Auch waren die Schlüsselwörter dieses Projekts selten so uneindeutig. Wörter wie "Radikalismus" und "links" haben ihre klare Kontur verloren und werden - so steht zu befürchten - bald ernstlich kompromittiert sein. Was heute als Revolutionismus, Radikalismus und Linke durchgeht, wäre vor ein oder zwei Generationen als Reformismus und politischer Opportunismus abgelehnt worden. Das soziale Denken hat sich so tief in den Eingeweiden der heutigen Gesellschaft festgesetzt, daß selbsternannte "Linke" - seien es Sozialisten, Marxisten oder unabhängige Radikale unterschiedlicher Couleur - Gefahr laufen, verdaut zu werden, ohne es selbst zu merken. In vielen euro-amerikanischen Ländern gibt es einfach keine bewußte Linke von irgendeiner Bedeutung. Es gibt, abgesehen von ein paar Enklaven revolutionärer Theoretiker, noch nicht einmal einen kritischen unabhängigen Radikalismus. (S. 123)
Eines ist jedoch klar: dies System muß unauflörlich expandieren, solange bis alle Bindungen zerreißen, die noch zwischen Gesellschaft und Natur bestehen - wie die wachsenden Löcher in der Ozonschicht und der sich verstärkende Treibhauseffekt anzeigen. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes das Krebsgeschwür des sozialen Lebens an sich. (S. 124)
vergangenen Epochen am Werke waren, gezügelt und schließlich unterminiert hätten. Endlose Beispiele ließen sich aufzählen, um zu zeigen, wie das "Bewußtsein" das "Sein" zu bestimmen schien (wenn man sich schon auf eine solche "deterministische" Spracheeinlassen will), richtete man den Blick auf die Geschichte Asiens, Afrikas und das Amerika der Ureinwohner. (S. 126)
das Proletariat als Klasse wandelte sich aus dem unnachgiebigen Todfeind der Bourgeoisie als Klasse zu deren Vertragspartner. In der Sprache, die der proletarische Sozialismus - entgegen seinen eigenen Mythen - entwickelt hat, wurde die Arbeiterklasse schlechterdings zu einem Organ innerhalb des kapitalistischen Systems und nicht etwa der "Embryo" einer zukünftigen Gesellschaft, also zu jenem Begriff, dem eine so zentrale Bedeutung innerhalb des revolutionären Projektes des proletarischen Sozialismus zukam. (S. 129)
Zweitens mystifizierte Marx, Mythos einer "embryonischen" Entwicklung die Geschichte und brachte sie um ihr wesentliches Element, die Spontaneität. In einer solchen Theorie konnte es grundsätzlich nur einen Verlauf der Entwicklung geben; Alternativen waren nicht zugelassen. Wahlmöglichkeiten spielten für die gesellschaftliche Entwicklung nur eine untergeordnete Rolle. Der Kapitalismus, der Nationalstaat, der technische Fortschritt, der Zusammenbruch aller traditionellen Bindungen, aus denen einst ein Gefühl sozialer Verantwortung erwuchs - all dies wurde nicht nur als unvermeidlich, sondern sogar als erstrebenswert angesehen. Im wesentlichen räumte die Geschichte dem Menschen nur ein Minimum an Autonomie ein. "Die Menschen gestalten ihre eigene Geschichte..." schrieb Marx -eine ziemlich offensichtliche Feststellung, die kulturorientierte Marxisten noch lange nach seinem Tode und inmitten zunehmender Widersprüche zwischen seiner Theorie und der objektiven Wirklichkeit betonten. Häufig übersahen sie dabei aber, daß Marx mit diesen Worten eigentlich nur den zweiten Teil des Satzes hervorheben wollte: "...dies geschieht jedoch nicht unter von ihnen selbst ausgesuchten Umständen, sondern unter den von ihnen vorgefundenen, gegebenen und aus der Vergangenheit überlieferten!“ (Anm. zur Quelle: Karl Marx, "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte")
Dem Marx'schen revolutionären Projekt, aber nicht nur dem Marx'schen allein, wurden eine Unzahl von "Stufen", "Vorstufen" und immer weiteren "Vorstufen" auferlegt, die an technologische und politische "Voraussetzungen" geknüpft waren. Im Gegensatz zu der anarchistischen Politik des kontinuierlichen Drucks auf die Gesellschaft, der Suche nach Schwachpunkten und nach Feldern, auf denen eine revolutionäre Veränderung möglich sein würde, war die Marx'sche Theorie entlang einer Strategie der "historischen Grenzen" und der "Entwicklungsstufen" strukturiert. Die Industrielle Revolution wurde als technologische "Voraussetzung" für den Sozialismus begrüßt und buddistische Tendenzen wurden als "reaktionär" (S. 131)
verurteilt; der Nationalstaat wurde als ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur "Diktatur des Proletariats" gefeiert, während konföderalistische Forderungen als atavistisch verdammt wurden. Auf der ganzen Linie wurde die Zentralisierung der Wirtschaft und des Staates als Schritt in die Richtung einer "Planwirtschafe', d.h., einer hoch rationalisierten Ökonomie, begrüßt. So stark waren die Marxisten, bis hin zu Engels persönlich, diesen unglückseligen Auffassungen verbunden, daß sich die marxistische deutsche Sozialdemokratie in den 20er Jahren sogar weigerte, Antimonopol-Gesetze zu verabschieden (zum dauerhaften Verdruß des Kleinbürgertums, das alsbald sein Heil bei den Nazis suchen sollte), da die Konzentration von Handel und Industrie in der Hand weniger Konzerne als "historisch fortschrittlich" - nämlich das Land einer Planwirtschaft näherbringend angesehen wurde.
Drittens wurde das Proletariat selbst, das der Kapitalismus bereits zu einem ziemlich flexiblen Instrument der Produktion reduziert hatte, von der marxistischen Avantgarde ebenfalls als solches behandelt. Arbeiter wurden in erster Linie als ökonomische Wesen und als die Verkörperung ökonomischer Interessen betrachtet. Ansätze von Radikalen wie Wilhelm Reich, der auf ihre Sexualität zielte, oder revolutionären Künstlern wie Majakovski, die an ihre ästhetischen Empfindungen appellierten, wurden bei den marxistischen Parteien in Acht und Bann getan. Kunst und Kultur wurden weitgehend als Vehikel der Propaganda in den Dienst der Arbeiterorganisationen gestellt.
Bezeichnend für das marxistische revolutionäre Projekt war das fehlende Interesse an Urbanität und Gemeinschaftsleben. Diese Themen wurden dem "Oberbau" zugerechnet; für die "grundlegenden" ökonomischen Fragen waren sie angeblich ohne Belang. Menschliche Wesen mit ihren weitreichenden Interessen als kreative Menschen, Eltern, Kinder und Nachbarn wurden künstlich als ökonomische Wesen rekonstituiert, so daß das Marx'sche revolutionäre Projekt die Degradierung, Entkulturalisierung und Entpersönlichung der Arbeiter, die das Fabriksystem mit sich brachte, noch verstärkt. Arbeiterinnen und Arbeiter erreichten ihre Erfüllung nicht als kulturell hochentwickelte Wesen mit weitgespannten moralischen und menschlichen Anliegen, sondern im Dienst der Gewerkschaft oder in Parteifunktionen aufgehend. (S. 132)
Marx' Sprache und seine Ansichten über den uneingeschränkten Gebrauch der Natur für gesellschaftliche Zwecke haben nichts zu tun mit dem sogenannten Humanismus oder Anthropozentrismus, der heutzutage von so vielen anglo-amerikanischen Umweltschützern verunglimpft wird. Marx' "Humanismus" baute vielmehr auf einer ausgesprochen hinterhältigen Reduzierung menschlicher Wesen zu objektiven Kräften der "Geschichte" auf-, er unterwarf sie einer gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeit, über die sie keine Kontrolle hatten. Diese Mentalität ist beunruhigender als jede gefühllose Form des "Anthropozentrismus". Die Natur wird hier zur bloßen "natürlichen Ressource", weil Menschen nämlich als bloße "ökonomische Ressourcen" verstanden werden. Wenn Marx die menschliche Arbeit als das Mittel betrachtet, durch das sich "der Mensch" in der Auseinandersetzung mit der Natur selbst entdeckt, so hat dies die gefährliche Implikation, Arbeit sei das "Wesen" der Menschheit, sei also ein Wesensmerkmal, das sich von allen anderen menschlichen Wesensmerkmalen grundsätzlich unterscheidet.
In diesem Sinne steht Marx im Widerspruch zur authentischen humanistischen Tradition der Vergangenheit, derzufolge der Mensch aufgrund seines Bewußtseins, seiner Moralität, seiner ästhetischen Sensibilitäten und seines Einfühlungsvermögens in alles andere Lebende eine Sonderstellung einnimmt. Schlimmer noch: wenn doch alle Menschen, der marxistischen Theorie nach, bloße "Instrumente der Geschichte" sind, kann das Glück und Wohlbefinden der gegenwärtigen Generation der Befreiung zukünftiger geopfert werden - eine Amoral [im Original steht anstelle von "immorality": "immortality" (Unsterblichkeit), [wahrscheinlich ein Druckfehler, Anm. (S. 133)
d.Ü.], mittels derer die Bolschewiken allgemein, besonders aber Stalin, in erschreckendem Maße und mit todbringenden Folgen auf den Leichenhaufen der Gegenwart "die Zukunft errichten wollten". (S. 134)
Es ist wichtig, die Entwicklung einer Technik, die die moderne Angst vor dem Mangel beseitigen kann, eine Nach-Knappheits-Technik sozusagen, zum Bestandteil des revolutionären Projektes zu machen. Eine solche Technologie muß jedoch in den Kontext einer sozialen Entwicklung gestellt werden und darf nicht als "Vorbedingung" menschlicher Emanzipation unter allen Bedingungen und für alle Zeiten aufgefaßt werden. (S. 134 f.)
Daß sich marxistische Studien in akademische Enklaven zurückgezogen haben, bezeugt den Tod des Marxismus als revolutionärer Bewegung. Er wurde zahm und zahnlos, weil er im Grunde in seiner Gesamtorientierung so bourgeois ist. (S. 136)
Dieses Gefühl der Verheißung war rein materialistisch. Die Ablehnung materieller Güter durch die Gegenkultur stand nicht im Widerspruch zum eigenen Besitz von Stereoanlagen, Schallplatten, Fernsehgeräten, "bewußtseinserweiternden" pharmazeutischen Produkten, exotischen Kleidern und gleichermaßen exotischer Nahrung. (S. 138)
Es wird berichtet, daß während der Mai-Juni Unruhen 1968 in Frankreich, in verschiedenen Pariser arrondissements Nachbarschaftsversammlungen abgehalten wurden. In den Vereinigten Staaten wurden halbherzige Nachbarschaftsprojekte, insbesondere Mietstreik-Gruppen und Ghetto-orientierte Unterstützerkollektive ins Leben gerufen. Jedoch konnte der Gedanke, neue Arten libertärer städtischer Formen, als Gegenmacht zu den vorherrschenden staatlichen Formen zu entwickeln, nirgends Wurzeln schlagen außer in Spanien, wo die Madrider Bürgerbewegung eine wichtige Rolle im öffentlichen Protest gegen das Franco Regime spielte. Somit blieb die Forderung nach Dezentralisierung ein wichtiger inspirierender Slogan, wurde allerdings nie außerhalb des Universitätscampus spürbar, wo sich die radikalen Bestrebungen auf "Student Power" konzentrierten. (S. 143)
Viele junge Menschen der Gegenkultur waren vorübergehende Exilanten aus den Vororten der Mittelschicht, wohin sie nach den 60em zurückkehren sollten. Die Werte vieler kommunaler Lebensformen blieben jedoch als Ideale bestehen, die in die Neue Linke einflossen, als diese ihre eigenen Kollektive für die Verrichtung bestimmter Aufgaben wie das Drucken von Literatur oder die Leitung 'Freier Schulen" und Kinderläden gründeten. (S. 144)
Die Wildnis, oder was von ihr heute noch übriggeblieben ist, kann einem ein Gefühl der Freiheit vermitteln, einen geschärften Sinn für den Reichtum der Natur, eine Liebe für nicht-menschliche Formen des Lebens und eine reichere ästhetische Wertschätzung der natürlichen Ordnung.
Sie hat aber auch eine weniger unschuldige Seite. Sie kann zu einer Ablehnung der menschlichen Natur führen, zu einer introvertierten Verweigerung des sozialen Umgangs, zu einem willkürlichen Gegensatz zwischen Wildnis und Zivilisation. Rousseau neigte zu einem solchen Standpunkt, aus einer Vielzahl von Gründen, die uns hier nicht zu beschäftigen haben. Daß Voltaire Rousseau einen "Menschenfeind" nannte, ist keine völlige Übertreibung. Die Wildnisenthusiasten, die sich in die entfernten Berge zurückziehen und menschliche Kontakte meiden, haben uns im Laufe der Zeit mit zahllosen Misanthropen versorgt. Für Stammesvölker dienen solche individuellen Rückzüge, das "Suchen nach Visionen", dazu, um reicher an Erkenntnissen zu den Gemeinschaften zurückzukehren ; für den Misanthropen sind sie häufig eine Revolte gegen die eigene Artja eine Ablehnung der natürlichen Evolution, wie sie sich in den menschlichen Wesen verkörpert.
Dieses Gegeneinanderstellen einer scheinbar wilden "Ersten Natur" und einer gesellschaftlichen "Zweiten Natur“ beweist nur das blinde und qualvolle Unvermögen, zwischen dem zu unterscheiden, was in einer kapitalistischen Gesellschaft irrational und anti-ökologisch ist, und dem, was in einer freien Gesellschaft rational und ökologisch sein könnte. Man verwirft einfach die Gesellschaft an sich. Man verschmilzt die Menschheit, ungeachtet ihrer internen Konflikte zwischen Unterdrückern und Unterdrückten zu einer einzigen "Art“, die wie ein Fluch auf einer angeblich unverdorbenen, "unschuldigen" und "ethischen" Naturwelt lastet.
Solche Ansichten führen leicht zu einem krassen Biologismus, der keine Möglichkeit bietet, Menschheit und Gesellschaft in der Natur oder genauer, in der natürlichen Evolution, einen Platz einzuräumen. Der Tatsache, daß auch der Mensch ein Produkt der natürlichen Evolution ist und daß die Gesellschaft aus diesem evolutionären Prozeß erwachsen ist, indem sie in ihre eigene Evolution wiederum die natürliche Welt - in das soziale Leben (S. 151)
transformiert-einfließen ließ, wird in einer sehr statischen Vorstellung von der Natur nur ein zweitrangiger Platz zugewiesen. Diese simplistische Vorstellung betrachtet die Natur als ein bloßes Stück Landschaft, wie wir es etwa von Ansichtskarten kennen. In diesen Vorstellungen finden wir nur sehr wenig Naturalismus; sie sind eher ästhetisch als ökologisch. (S. 152)
In einem erweiterten Sinn stellen die Soziale Ökologie und der frühe Feminismus einen direkten Angriff auf die ökonomistische Betonung dar, die der Marxismus der sozialen Analyse und Rekonstruktion gegeben hatte. Sie machten die antiautoritäre Ausrichtung der Neuen Linken expliziter und eindeutiger definierbar, indem sie die hierarchische Dominanz statt einfacher antiautoritärer Unterdrückung hervorhoben.
Der niedrige Status der Frau als Geschlechts- und Statusgruppe zeigte sich deutlich erkennbar gegen den Hintergrund ihrer scheinbaren "Gleichheit" in einer Welt, deren Rechtsverständnis vorn Prinzip der Ungleichheit unter Gleichen geleitet ist. Während die Neue Linke in marxistische Sekten zerfiel und die Gegenkultur sich in eine neue Form von Boutiquenbranche verwandelte, haben die Soziale Ökologie und der Feminismus das Ideal der Freiheit über alle Schranken, die in der jüngsten Geschichte errichtet wurden, hinaus erweitert. Hierarchie als solche - sei es in der Art zu denken, in grundlegenden menschlichen Beziehungen, sozialen Verhältnissen oder im Umgang der Gesellschaft mit der Natur -konnte nun aus der traditionellen Verstrickung der Klassenanalysen herausgelöst werden, die sie unter dem Teppich ökonomischer Interpretationen der Gesellschaft verborgen hatten. Geschichte konnte nun im Hinblick auf allgemeine Interessen wie Freiheit, Solidarität und Einfühlungsvermögen in die eigene Art erforscht werden,ja auf die Notwendigkeit hin, aktiver Teil des natürlichen Gleichgewichts zu sein.
Diese Interessen waren nicht länger spezifisch für ein Geschlecht, eine Klasse, Rasse oder Nationalität. Es waren universelle Interessen, die von der Menschheit als Ganzer geteilt wurden. Natürlich konnte man ökonomische Probleme und Klassenkonflikte nicht ignorieren, aber sich auf sie zu beschränken hieße, einen riesigen Berg pervertierter Sensibilitäten und Beziehungen unberücksichtigt zu lassen, mit dem man sich auseinandersetzen und den man in einem erweiterten gesellschaftlichen Rahmen abtragen mußte. (S. 154 f.)
Rudi Dutschkes Aufruf an den SDS zum "langen Marsch durch die lnstitutionen" bedeutete letzten Endes kaum mehr als sich den existierenden Institutionen anzupassen, ohne sich die Mühe zu machen, neue zu entwickeln, und führte zum Verlust Tausender an eben diese Institutionen. Sie gingen hinein - und kamen niemals wieder heraus. (S. 156)

Aus: 6. Vom Hier zum Dort
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Die ökologische Bewegung ist in mehrere fragwürdige Strömungen gespalten, die sich häufig direkt widersprechen. Viele Menschen sind einfach nur ganz pragmatische Umweltschützer. Ihre Bemühungen konzentrieren sich auf punktuelle Reformen wie beispielsweise die Kontrolle von Sondermüll, den Widerstand gegen den Bau von Kernkraftwerken, Beschränkungen des urbanen Wachstums und dergleichen. Zweifellos sind solche Kämpfe notwendig und sollten nicht als beschränkt oder Stückwerk geringgeschätzt werden, bremsen sie doch den atemlosen Wettlauf in Katastrophen wie Tschernobyl oder Love Canal.
Sie können aber nicht die Notwendigkeit ersetzen, zu den Wurzeln der Verwerfungen der Umwelt zu gelangen. Solange sie sich auf bloße Reformen beschränken, tragen sie oft sogar zu der gefährlichen Illusion bei, daß die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung in der Lage ist, ihre eigenen Mißbräuche wiedergutzumachen. Die Denaturisierung der Umwelt muß immer als dem Kapitalismus inhärent gesehen werden, als das Produkt seiner eigenen Gesetzmäßigkeit, als Folge eines Systems unbegrenzter Expansion und Kapitalakkumulation. Den anti-ökologischen Kern der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung zu ignorieren - sei es in der westlichen Form der Konzerne oder der bürokratischen Form des (ehemaligen) Ostens - bedeutet, die allgemeine Sorge um die Tiefe der Krise und um wirksame Mittel zu ihrer Bewältigung zu beschwichtigen.
Als Reformbewegung der kleinen Schritte verstanden, erliegt die Umweltbewegung leicht den Verlockungen der Staatskunst, also der Teilnahme an Wahlen, parlamentarischen und parteiorientierten Aktivitäten. Es bedarf keiner großen Bewußtseinsänderung, um eine Lobbygruppe in eine Partei oder einen Petitionsschreiber in einen Parlamentarier zu verwandeln.
Zwischen dem Menschen der demütig von der Macht erbittet, und demjenigen, der sie arrogant ausübt, besteht eine düstere, nichts Gutes verheißende Symbiose. Beiden ist dieselbe Mentalität zu eigen, daß nämlich Veränderungen nur durch die Ausübung von Macht herbeigeführt werden können, und zwar durch die Macht genau jener sich selbst korrumpierenden professionellen Kaste von Gesetzesmachern, Bürokraten und Militärs, die man den Staat nennt. Die Berufung auf diese Macht dient unweigerlich der Bestätigung und Bestärkung des Staates, der am Ende das Volk entmachtet. Die Macht läßt im öffentlichen Leben kein Vakuum zu. Wo immer der Staat Macht erhält, geschieht dies auf Kosten der Volksmacht. Und umgekehrt: Alle Macht, die das Volk gewinnt, entreißt es dem Staat. Wer die Staatsmacht legitimiert, entlegitimiert im Endeffekt die Volksmacht.
Ökologische Bewegungen, die sich in parlamentarische Aktivitäten begeben, legitimieren nicht nur die staatliche Macht auf Kosten der Volksmacht, sondern sie sind auch gezwungen, innerhalb des Staates zu funktionieren und letzten Endes Blut von seinem Blute und Fleisch von seinem Fleische zu werden. Sie müssen sich an die "Spielregeln" halten, was bedeutet, ihre Prioritäten nach vorbestimmten Regeln zu setzen, über die sie keine Kontrolle haben.
Dabei bleibt es aber nicht bei einer bestimmten, Konstellation von Beziehungen, die sich aus der Teilnahme an der Staatsmacht ergeben; - vielmehr setzt ein fortwährender Prozeß der Degenerierung ein, die stetige Rückentwicklung von Idealen, Vorgehens_weisen und Parteistrukturen. Jede Forderung nach "wirksamer" Ausübung parlamentarischer Macht, erzwingt eine weitere Abkehr von den eigentlich unverzichtbaren Glaubens- und Verhaltensstandards. ... (S. 157 ff.)
Den Umweltbewegungen ist es in ihrem Verhältnis zur Staatsmacht nicht besser ergangen. Sie haben ganze Wälder für symbolische Baumreservate hergegeben. Riesige Wildnisgebiete wurden für Nationalparks aufgegeben. Endlose Wattenmeere wurden gegen ein paar Hektar ursprünglichen Strandes eingetauscht. Soweit Umweltschützer als Grüne in nationalen Parlamenten vertreten sind, haben sie im allgemeinen wenig mehr als öffentliche Aufmerksamkeit für ihre selbstgefälligen parlamentarischen Abgeordneten erzielt, aber fast nirgends die Zerstörung der Umwelt aufhalten können.
Die erste rotgrüne Koalition in Hessen Mitte der 80er Jahre nahm ein schmähliches Ende. Der "realpolitische Flügel" der Partei vernebelte nicht nur durch Kompromisse die höchsten Prinzipien der Bewegung, sondern er machte die Partei auch bürokratischer, manipulativer und "professioneller" - kurz, so etwa wie die politischen Gegner, die man einst bekämpfte.
Aber Reformismus und Parlamentarismus besitzen wenigstens noch eine konkrete Faßbarkeit, die ernsthafte Fragen der politischen Theorie und das Gefühl einer gesellschaftlichen Orientierung aufwirft. Die jüngste Strömung innerhalb der Umweltbewegung ist hingegen völlig geisterhaft und unfaßbar wie Luft. Grob gesagt besteht sie aus Versuchen, die Ökologie in eine Religion zu verwandeln, indem sie die Natur mit Göttern, Göttinnen, Waldgeistern und ähnlichem bevölkert - alles dargeboten von einer Garde finanztüchtiger indischer Gurus, ihren einheimischen Konkurrenten, Hexen aller Art und selbsternannten "Hexer-Anarchisten". ... (S. 159 ff)
Offenkundig widersprüchliche Fantasien werden mit Drogen und Rockmusik zu einem ekelerregenden Sud aus atheistischen Religionen, natürlicher Übernatürlichkeit, privatistischer Politik und selbst reaktionärem Liberalismus verrührt. ... (S. 160)
Daß die Ökologie, eine eminent naturalistische Sichtweise und Lehre, mit übernatürlichem Blödsinn angesteckt werden konnte, wäre ja noch zu erklären, wenn dieser Unsinn auf die USA beschränkt bliebe. Das Verblüffende ist jedoch, daß er sich wie eine weltweite Seuche nach Europa, insbesondere nach England, Deutschland und Skandinavien ausgebreitet hat. Im Laufe der Zeit wird er sicherlich auch die Mittelmeerländer erreichen.
Eine Art "kulturellen Feminismus" hat diese quasi-theologische Ökologie auf das Verhältnis der Geschlechter übertragen und inzwischen einen enormen und immer noch wachsenden Anhang in englisch- und deutschsprachigen Ländern gewonnen.
Aus der Hoffnung, daß die Ökologie den Feminismus bereichern würde, ist ein bizarrer theistischer "Öko-Feminismus" geworden, der sich um die spezifische "nährende" Rolle der Prau in der Biosphäre strukturiert. ... (S. 160 f.)
In diesem theistischen Umfeld neigen politische Aktivität und soziales Engagement dazu, sich vom Aktivismus in eine Wartehaltung und von gesellschaftlicher Organisationsarbeit, in privatistische Selbsterfahrungsgruppen zurückzuziehen. Es bedarf lediglich eines persönlichen Problems - sei es eine gescheiterte Beziehung oder beruflicher Mißerfolg - das man mit einem geeigneten Mantel umhüllt und schon wird es zu einem "politischen" Problem oder einer Form sexistischer Diskriminierung. Der Begriff vom "Persönlichen als Politischen" wird leichtsinnig bis zu einem Punkt strapaziert, bei dem politische Themen in einem zunehmend therapeutischen Jargon formuliert werden, so daß jemandes "Art", seine oder ihre Vorstellungen auszudrücken, als wichtiger betrachtet wird als der Inhalt der jeweiligen Aussage.
Die Form verdrängt mehr und mehr den Inhalt, und Beredsamkeit wird als "manipulativ" denunziert, mit dem Ergebnis, daß eine tödliche Mittelmäßigkeit Form und Inhalt der politischen Diskussion beherrscht. Die moralische Empörung, die einst den menschlichen Geist in den Donnerworten der hebräischen Propheten bewegte, wird als Beleg für "Aggressivität", "Dogmatismus", "Streitsucht" und "typisch männliches Verhalten" angeprangert. Was heute "zählt", ist nicht das, was jemand sagt, sondern wie es gesagt wird - selbst wenn es geradezu schmerzhaft naiv und nichtssagend ist. "Fürsorge" kann leicht zu Naivität und "Betroffenheit" zu kindischer Albernheit verkommen, wodurch die Politik eher infantil als feministisch wird. ... (S. 161 f.)
Die Tendenz, Vernunft, Wissenschaft und Technik zu verunglimpfen, ist vielleicht eine verständliche Reaktion auf die durch die Bourgeoisie verzerrten Ziele der Aufklärung. Sie ist ebenso verständlich angesichts eines individuell empfundenen Gefühls der Ohnmacht in einer Ära zunehmender Machtkonzentration und Zentralisation in den Händen von Konzernen und des Staates, der durch Urbanisierung, Massenproduktion und Massenkonsum bedingten Anonymität, sowie des fragilen Zustands des von nicht greifbaren und nicht kontrollierbaren gesellschaftlichen Gewalten belagerten menschlichen Egos.
So verständlich derartige Tendenzen als Reaktion auch sein mögen, so werden sie doch zutiefst reaktionär, wenn nämlich die Alternativen, die sie anbieten, den seit der Aufklärung auf den Menschen selbst gerichteten Blick wieder verengen und zu sexistischen Vorurteilen, zu Volks- und Stammestümelei anstelle eines emphatischen Humanismus und zu einer "Rückkehr zur Wildnis" anstelle einer ökologischen Gesellschaft zurückführen.
Sie werden unverblümt atavistisch, wenn sie ökologische Verwerfungen der Technik anlasten anstatt den Monopolgesellschaften und staatlichen Institutionen, die sich dieser bedienen. Und sie kehren zurück in das mythische Dunkel einer stammesorientierten Vergangenheit, wenn sie einen Horror vor dem "Außenstehenden" beschwören - sei es ein Mann, ein Immigrant oder ein Angehöriger einer anderen Volksgruppe - der angeblich die Integrität der "Insider"-Gruppe bedroht. ... (S. 165)
Der Anarchismus blieb sensibel gegenüber der Spontaneität gesellschaftlicher Entwicklung - einer Spontaneität allerdings, die von einem Bewußtsein und der Notwendigkeit einer strukturierten Gesellschaft geprägt ist. Der Marxismus kettete sich fest an eine "Embryo"-Theorie der Gesellschaft, an eine "Wissenschaft" der "Voraussetzungen" und "Vorbedingungen". Tragischerweise hat der Marxismus fast alle frühen revolutionären Stimmen mehr als ein Jahrhundert lang zum Schweigen gebracht und die Geschichte selbst im eisigen Griff einer ausgesprochen bourgeoisen Entwicklungstheorie gehalten, die sich auf der Beherrschung der Natur und der Zentralisierung der Macht gründet. ... (S. 167)
Soll die Technik natürliche Zyklen ablösen, die das Verhältnis von atmosphärischem Kohlendioxyd und Sauerstoff regeln, soll sie einen Ersatz für die sich zersetzende, das Leben vor tödlicher Sonnenstrahlung schützende Ozonschicht bieten; soll sie den Boden durch hydroponische Lösungen ersetzen? Alles dies, wenn es denn möglich wäre, würde ein hoch diszipliniertes System gesellschaftlichen Managements erfordern, das mit Demokratie und politischer Mitwirkung des Volkes völlig unvereinbar wäre. ... (S. 169 f.)
Wenn die Lebensprozesse auf diesem Planeten, auch die der Menschheit selbst, nicht von totalitären Systemen verwaltet werden sollen, muß die moderne Gesellschaft bestimmten grundlegenden ökologischen Geboten folgen. ... (S. 170)
Mehr noch: das revolutionäre Projekt muß seinen Ausgangspunkt von einem grundlegenden libertären Gebot nehmen: jedes normale menschliche Wesen ist fähig, die Belange der Gesellschaft und insbesondere der Gemeinschaft, welcher er oder sie angehört, zu regeln.
Dieses Gebot wirft jakobinischen Abstraktionen wie "das Volk" und marxistischen Abstraktionen wie "das Proletariat" den Fehdehandschuh hin mit der Forderung, die reale Gesellschaft müsse von realen, lebendigen Menschen "bevölkert" sein, die frei über ihr eigenes Schicksal und das ihrer Gesellschaft bestimmen können. ... (S. 173)
Also ist eine Politik erst dann demokratisch legitimiert, wenn sie direkt durch die Menschen vorgeschlagen, diskutiert und entschieden worden ist - und nicht durch Stellvertreter oder Surrogate, gleich welcher Art.
Die Umsetzung dieser Politik kann hingegen Ausschüssen, Kommissionen oder einem Kollektiv qualifizierter, sogar gewählter Personen überlassen werden, die dieses Mandat des Volkes nur unter strenger öffentlicher Kontrolle ausüben dürfen und dabei den entscheidungsbefugten Versammlungen volle Rechenschaft schuldig sind. ... (S. 173)
Aufgrund dieser wichtigen Unterscheidung gewinnt die Frage, ob demokratische Abläufe eine Volksversammlung vorsehen oder nicht, eine eher funktionale als strukturelle Bedeutung. Im Prinzip können diese Versammlungen unter beliebigen demographischen Siedlungsbedingungen funktionieren - im Häuserblock, in der Nachbarschaft oder für die ganze Stadt. Es bedarf lediglich der Koordination über geeignete Verkoppelungen, um sie zu einer Form der Selbstregierung zu machen.
Unter modernen logistischen Bedingungen kann kein Notfall so dringend sein, daß Versammlungen nicht rechtzeitig einberufen werden könnten, um wichtige politische Entscheidungen durch Mehrheitsbeschluß zu fällen und die entsprechenden Gremien mit ihrer Durchführung zu beauftragen, ganz gleich wie groß die Gemeinschaft oder wie komplex das Problem ist. Stets werden Experten bereitstehen, um für speziellere Probleme der Gemeinschaft ihre Lösungen anzubieten - möglichst sogar mehrere konkurrierende, um die Diskussion anzuregen. ... (S. 174)
Weiterhin müssen wir uns den Gedanken abgewöhnen, daß in großen Gruppen immer ein Konsens erreicht werden kann. Eine Minderheit hat nicht das Recht, die Entscheidung einer Mehrheit zu verhindern - sei es in einer Versammlung oder im Verhältnis der Versammlungen untereinander. ... (S. 174)
Eine Tyrannei des Konsens zieht, wie die berühmte "Tyrannei der Strukturlosigkeit" eine freie Gesellschaft herab. Sie neigt dazu, die Individualität im Namen der Gemeinschaft und den Widerspruch im Namen der Solidarität zu untergraben. Wenn die Entwicklung des Einzelmenschen durch öffentliches Mißfallen abgewürgt wird und seine abweichenden Vorstellungen durch den Druck der öffentlichen Meinung "normiert" werden, so fördert dies weder wahre Gemeinschaft noch Solidarität. ... (S. 175)
Brot ist mit Verlaub "heiliger“ als priesterlicher Segen; Alltagskleider "gesegneter" als kirchliche Gewänder; der persönliche Wohnraum spirituell wichtiger als Kirchen und Tempel; das bessere Leben auf Erden ist segensreicher als das im Himmel verheißene. Die Lebensgrundlagen müssen als das gelten, was sie buchstäblich sind: Grundlagen, ohne die das Leben unmöglich ist. Sie Menschen vorzuenthalten, ist schlimmer als "Diebstahl" (um Proudhons Bezeichnung für Eigentum zu gebrauchen); es ist schlechterdings Totschlag. (S. 187)
Ich muß aber unzweideutig klarmachen, daß man größten Wert auf arbeitsersparende Geräte legt wird - seien es nun Computer oder automatische Maschinen - um die Menschen von unnötiger Plackerei zu befreien und um ihnen den zeitlichen Freiraum dafür zu sichern, an sich selbst als Einzelwesen und als Bürger zu arbeiten. Wenn neuerdings vor allem die amerikanische Umweltbewegung den Einsatz von arbeitsintensiven Technologien fordert, offenbar um auf den Knochen der arbeitenden Klassen Energie zu "sparen", so ist dies eine skandalöse, selbstgerechte Anmaßung der Mittelschichten. Diese Professoren, Studenten, Akademiker und der ganze übrige gemischte Salat der Leute, die diese Ansichten vertreten, sind meist solche, die noch nie in ihrem Leben gezwungen waren, einen mühsamen Arbeitstag etwa in einer Gießerei oder am Fließband einer Automobilfabrik hinter sich zu bringen. Ihre eigenen arbeitsintensiven Aktivitäten haben sich meistens auf ihre "Hobbies" beschränkt, die allenfalls Joggen, Sport und erholsame Wanderungen in Nationalparks und Wäldern einschließen. Ein paar Wochen heiße Sommerwochen in einem Stahlwerk würde sie schnell von der Vorliebe für arbeitsintensive Industrien und Technologien heilen. (S. 196)

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