Sand im Getriebe

ORGANISIERUNG OHNE DEMOKRATIE, KOLLEKTIV-IDENTITÄTEN, HIERARCHIEN UND FLAGGEN

Anarchie - bitte ohne Label und kollektive Identitäten


1. Grundsätze herrschaftsfreier Organisierung
2. Emanzipatorische Organisierung praktisch
3. (Keine) Entscheidungsfindung in der Praxis
4. Anarchie - bitte ohne Label und kollektive Identitäten
5. Zusammenschau: Organisierung von unten

Jede kollektive, identitäre Einheit, die nicht mehr die Vielfalt der sich selbst organisierenden Menschen abbildet, sondern einen selbst handlungsfähigen Überbau bildet, stellt eine Art von Beherrschung dar, weil in der Verselbständigung der Metatstruktur zumindest eine Vereinnahmung, meist aber auch eine Entmündigung und Stellvertretung der Einzelnen existiert. Freie Menschen in freien Vereinbarungen sind hingegen selbst organisiert ohne fremdbestimmte Label oder Identitäten.

Im Original: Kein kollektives Subjekt
Aus Mühsam, Erich (1933): "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", Nachdruck bei Syndikat A und im Internet
Anarchismus ist die Lehre von der Freiheit als Grundlage der menschlichen Gesellschaft. Anarchie, zu deutsch: ohne Herrschaft, ohne Obrigkeit, ohne Staat, bezeichnet somit den von den Anarchisten erstrebten Zustand der gesellschaftlichen Ordnung, nämlich die Freiheit jedes einzelnen durch die allgemeine Freiheit. In dieser Zielsetzung, in nichts anderem, besteht die Verbundenheit aller Anarchisten untereinander, besteht die grundsätzliche Unterscheidung des Anarchismus von allen andern Gesellschaftslehren und Menschheitsbekenntnissen.

Aus Bakunin, Michail: "Marxismus - Freiheit - Staat"
Außerdem ist der Staat ähnlich wie die Kirche schon von Natur aus ein großer Opferer lebendiger Wesen. Er ist ein Willkürwesen, in dessen Herzen alle positiven, lebendigen, individuellen und lokalen Interessen der Bevölkerung sich begegnen, zusammenstoßen, einander wechselseitig zerstören und absorbiert werden in jener Abstraktion, die man das Allgemeininteresse, das Allgemeinwohl, die allgemeine Sicherheit zu nennen pflegt, und wo alle realen Einzelwillen einander aufheben in jener anderen Abstraktion, die den Namen Wille des Volkes trägt. Daraus folgt, daß dieser sog. Wille des Volkes niemals etwas anderes ist als die Opferung und die Negation aller realen Einzelwillen der Bevölkerung; gerade so wie das sogenannte Allgemeinwohl nichts anderes ist als die Opferung ihrer Interessen. Aber damit diese alles verschlingende Abstraktion sich Millionen von Menschen aufzwingen konnte, mußte sie von irgendeinem wirklichen Wesen, irgendeiner lebendigen Kraft getragen und repräsentiert werden. Nun, dieses Wesen, diese Kraft hat immer existiert. In der Kirche ist es die Geistlichkeit und im Staat – die herrschende Klasse.

Aus Ilija Trojanow, "Freiheit, Skepsis, Totenkopf" in: "Anarchistische Welten" (2012, Nautilus in Hamburg, S. 9)
Anarchistinnen und Anarchisten besitzen kein Parteibuch, folgen nicht vorgeschriebenen Linien, glauben an keine Dogmen. Der Anarchismus besitzt kein abgeschlossenes Programm, er ist ein Work in progress.

Dennoch finden sich bei heutigen AnarchistInnen (wie in der sonstigen Gesellschaft auch) jede Menge identitärer Gruppen. Als mit Anarchie verbindbar gelten verbandliche Label, identitäre Fahnen und Logos, der Bioregionalismus oder die als natürliche Zusammenlebensform halluzinierten Stämme bis hin zu nationalen Befreiungsbewegungen.
Die Zustimmung verdanken sie auch dem Mangel an klaren und überzeugenden Strategien anarchistischer Organisierung. Es ist daher nötig, eine Kultur gleichberechtigter Kommunikation und freier Kooperation zu schaffen, um die Sehnsüchte nach Geborgenheit, die der inneren Leere entspringen, auf emanzipatorische Art zu erfüllen.

Im Original: Welt der Vielfalt
Aus Cantzen, Rolf (1995): "Weniger Staat - mehr Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau
Die voneinander abweichenden Gesellschaftsalternativen oder Perspektiven werden lediglich als Vorschlag verstanden, als eine Möglichkeit neben anderen, wie eine anarchistische Gesellschaft aussehen könnte. Anarchisten wollen eine unbeschränkt "offene" Gesellschaft, Freiraum für verschiedene Lebensformen. Herrschaftslosigkeit bedeutet, daß keine Gesellschaftsform zwangsweise durchgesetzt werden darf, auch keine anarchistische. Anarchie ist demnach als ein Gesellschaftszustand zu verstehen, in dem eine Vielfalt von Lebensweisen, unterschiedlichen Produktions- und (herrschaftsfreien) Eigentumsformen nebeneinander Platz haben, koexistieren und kooperieren können. ... (S. 31)
Nach anarchistischer Auffassung sind multiforme Wirtschaftsgemeinden die Voraussetzung für gesellschaftliche und individuelle Freiheiten. ...
(S. 32, Zitat des Anarchisten Souchy) ...
Die föderativen Strukturen bilden sich auf der Grundlage kleiner Einheiten und ermöglichen eine Restrukturierung von Gesellschaft: "Gesellschaft ist eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften; ein Bund von Bünden von Bünden; ein Gemeinwesen von Gemeinschaften von Gemeinden; eine Republik von Republiken von Republiken." ... (S. 79, Zitate von Gustav Landauer)
Aus dieser Hervorhebung einer möglichen Vielfalt von Organisationsformen innerhalb einer anarchistischen Gesellschaft ist der Schluß zu ziehen, daß mit einer libertären Perspektive keine geschlossene, einheitlich strukturierte Gesellschaft angestrebt werden kann. So ist es vorstellbar, daß kleine genossenschaftliche Handwerksbetriebe oder Dienstleistungserbringer, die sich vernetzen und über Tauschbanken kooperieren, sich in freien Vereinbarungen verpflichten, sich gegenseitig und zu einem zuvor vereinbarten Preis mit Produkten und Dienstleistungen zu versorgen. ... (S. 132)

Aus Douglas Post Park, "Timbuktu und die selbstorganisierten ... " in: "Anarchistische Welten" (2012, Nautilus in Hamburg)
Das Prinzip ist als Selbstorganisation bekannt. Vielfach in der wissenschaftlichen Literatur und Forschung der letzten beiden Jahrzehnte behandelt, ist Selbstorganisation eines der Konzepte, die erklären, wie sich ein komplexes System organisch strukturieren kann. Spezifisch auf die menschliche Gesellschaft bezogen, geht es bei Selbstorganisation um Prozesse der Machtteilung, bei denen Wissen, Entscheidungsfindung und Einfluss horizontal unter vielfältigen Gruppen gestreut werden. Eine zentrale Autorität existiert nicht, vielmehr entsteht durch Netzwerke gesellschaftlicher Interaktion ein dezentralisiertes und sich selbst heilendes System, indem heiliges und technischen Wissen geschützt wird, durch welches jede spezialisierte Gruppe wiederum ihre besonderen und einzigartigen Funktionen innerhalb der breiteren gesellschaftlichen Matrix bewahrt.
Zum Beispiel verfügt keine einzelne Gruppe über das vollständige Wissen des gesamten gesellschaftlichen Systems, sondem das Teilwissen, das in seiner Gesamtheit wesentlich für das Funktionieren der Gesellschaft ist, ist zwischen vielfältigen Gruppen aufgeteilt. Gesellschaftliche Gruppen teilen nur ein bestimmtes Wissen mit anderen spezifischen Gruppen, wodurch ein Maß an Überlappung und Redundanz geschaffen wird.
(S. 41)



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