Sand im Getriebe

SOZIALFOREN

Weltsozialforen: Berichte und Kritiken


1. Sozialforen - eigentlich ein offener Raum ...
2. Weltsozialforen: Berichte und Kritiken
3. Europäische Sozialforen
4. Berichte, Kommentare usw.
5. Beispiele für offene bzw. vielfältige Strukturen in politischer Bewegung
6. Das Sozialforum 2005 (Erfurt)
7. Idee „Offener Raum“ auf dem Sozialforum 2005
8. Links

Positionspapier zum Abschlußbericht des WSF 2002

Aus der Gruppe Landfriedensbruch, 7. März 2002

Zu Porto Alegre II
Der "Aufruf der sozialen Bewegungen" ist eine Instrumentalisierung von Bewegung durch NGOs!
Zur Erklärung zu "Widerstand gegen Neoliberalismus, Militarismus und Krieg: Für Frieden und soziale Gerech-tigkeit!" vom 5.2.2002
Porto Allegre war eines der größten Treffen politischer Gruppen, Organisationen und Basisbewegungen über alle Ländergrenzen hinweg. Schon von daher hat es eine besondere Bedeutung. Leider überschattet diese Äußerlich-keit aber eine innere Struktur, die tatsächlich nicht für einen Selbstorganisierungsprozeß, eine „Bewegung von unten“ spricht. Stattdessen gelingt es – auch wegen der fehlenden strategischen Analyse und Gegenwehr durch selbstorganisierte Gruppen – den dominanten NGOs und Profis in Sachen PR sowie Lobbyarbeit, die gesamte Vielfalt an Bewegung einfach zu instrumentalisieren. Es findet weder eine Entscheidungsprozeß noch eine hierarchische Beeinflussung statt - die modernen NGOs und ihre Öffentlichkeitsprofis behaupten einfach, im Namen und für die Vielfalt der Gruppen zu sprechen. Die Medien, oft genug regierungsnah, durchschauen diese Verein-nahmung nicht oder stützen sie, weil sie selbst diese Kanalisierung von Protest wünschen.
Insofern ist Porto Allegre nur die Wiederholung der Aktionen von Genua, die auch von einer breiten, vielfältigen Mengen unterschiedlicher Gruppen getragen, aber nur von wenigen Polit- und PR-Profis öffentlich benutzt wur-den, um ihre politischen Positionen durchzubringen. Nicht anders sieht es bei anderen Aktivitäten aus.

Belege der Instrumentalisierung
Zum einen waren in Porto Alegre viele Strukturen sichtbar, die deutlich machten, daß es keinerlei gemeinsame Ebene zwischen NGO-Kadern und Basisbewegungen gibt. So waren VIP-Räume eingerichtet, in denen nur die wichtigen FunktionärInnen sowie SpitzenpolitikerInnen zugelassen wurden. Bei einer Veranstaltung wurden die anwesenden Minister der französischen Regierung (Antreiber der neoliberalen Globalisierung, Kriegsbefürworter usw.) von BasisakteurInnen mit Torten beworfen. Über diese Tatsache fand sich in kaum einer Zeitung ein Bericht - er hätte das Konstrukt einer gleichberechtigten Bewegung, aus deren Mitte die abgegebenen Verlautbarungen der NGO-FunktionärInnen stammen, auch zerstört.
Der Augenzeugenbericht eines Teilnehmers liest sich so: "Es gab bei diesem WSF aber auch Widersprüche, Auseinandersetzungen und Kontroversen und Entwicklungen, die eine Gefahr für die Bewegung darstellen. Ver-gleicht man die "offiziellen Reden", die bei den Konferenzen während des WSF gehalten wurden mit den Debatten, die auf den Fluren und den Diskussionen in Seminaren und auf dem Jugendcamp stattfanden, dann drängt sich der Eindruck auf, dass die Masse der TeilnehmerInnen deutlich weiter links stand und weiter gehende, anti-kapitalistische Positionen vertrat, als die RednerInnen bei den Konferenzen (zu denen ja auch nur die Delegier-ten Zugang hatten und bei denen es keine offenen Diskussionen gab, sondern nur schriftlichen Fragen an das Po-dium gerichtet werden konnten).
Es gab auch eine Auseinandersetzung über die Teilnehmerpolitik des WSF. Einerseits haben zum Beispiel sechs französische Minister, ein Vertreter von Chirac, ParlamentarierInnen, die für den Krieg gestimmt ha-ben, KommunalpolitikerInnen, die Abschiebungen unterstützen teilgenommen."

Interessant ist zudem eine Analyse der Abschlußerklärung von Porto Alegre. Wie es bei den beschriebenen Strukturen nicht anders zu erwarten war, ist sie geprägt von den NGOs, die den Aufruf als weiteren Schritt der Instrumentalisierung des Treffens als breiten Konsens vorstellen.
1. Das Papier zeigt eine dogmatische Gewaltfreiheit, d.h. Gewalt „von oben“ wird nicht unterschieden von indi-vidueller oder sozialer Notwehr. Das delegitimiert jeglichen Widerstand jenseits von Gewaltfreiheit und ist ein typisches Denken wohlsituierter AkteurInnen aus den NGOs des Nordens. Zitat: "Nach den terroristischen Anschlägen, die wir ohne jeden Vorbehalt verurteilen, so wie wir alle Angriffe auf Zivilisten in jedem Teil der Welt verurteilen, ..."
2. Das Papier zeigt den klassischen Antisemitismus vieler globalisierungskritischer Kreise, denen eine Herr-schaftskritik und überhaupt eine politische Analyse abgeht. Hier fällt sie sogar besonders stark aus in Form einer einseitigen Täter-Opfer-Kategorisierung im Palästina-Konflikt. Hinzu kommt eine auffällig unkritische Kon-struktion von Völkern als kollektive Einheiten. Zitat: „Die Destabilisierung des Nahen und mittleren Ostens hat sich verschärft, sie liefert den Vorwand für eine verschärfte Unterdrückung des palästinensischen Volkes. Wir halten es für dringend notwendig, uns zur Solidarität mit dem palästinensischen Volk und seinem Kampf um Selbstbestimmung zu mobilisieren, während es einer brutalen Besatzung durch den Staat Israel ausgesetzt. Diese Frage ist von vitaler Bedeutung für die kollektive Sicherheit aller Völker dieser Region.
3. Während die eigene Globalisierungskritik marktschreierisch vorgetragen wird, zeigt sich bei konkreten Punkten tatsächlich eine eigene neoliberale, d.h. marktorientierte Position. So wird das neoliberale, die Ungleichhei-ten in der Welt forcierende Kyoto-Protokoll befürwortet (verbunden mit einer platten, einseitigen USA-Kritik, die jenseits der notwendigen Kritik an den Herrschaftsstrukturen dort viele andere ungenannt läßt, die ähnliche Politiken verfolgen). Zitat: "Die Regierung der Vereinigten Staaten hat in ihren Bemühungen die Interessen der großen Unternehmen zu schützen, arrogant geweigert, das Abkommen von Kyoto zur globalen Erwärmung ein-zuhalten, ..."
4. Bei den Forderungen zeigt sich noch deutlicher ein völlig unkritisches Verhältnis zur Herrschaftsform Demokratie, die sich von Diktaturen grundlegend nur in der Frage unterscheidet, wie die Personen bestimmt werden, die Macht ausüben - zumal wesentlich gesellschaftliche Herrschaftsmuster (patriarchale oder Nützlich-keitskategorien, Bevormundungen, Justizvollzug usw.) keine grundsätzlichen Unterschiede aufweisen. Nichtde-stotrotz sehen sich die NGOs als Retterinnen dieses Systems. Zitat: "Wir kämpfen: Für das Recht der Völker, die Entscheidungen ihrer Regierungen kennen zu lernen und zu kritisieren, besonders, wenn sie ihre Politik in den internationalen Institutionen betreffen. Die Regierungen sind ihren Völkern gegenüber verantwortlich. Weil wir uns für die Errichtung einer Demokratie mit Wahl- und Beteiligungsrechten auf der ganzen Erde einsetzen, be-stehen wir auf der Notwendigkeit der Demokratisierung von Staaten und Gesellschaften, und des Kampfes gegen Diktaturen."
Auch die weiteren Forderungen lassen keine Kritik an den Verhältnissen erkennen. Besonders auffällig ist der ständige Bezug auf „Völker“, ohne diesen Begriff zu erklären. Im Kontext der Forderungen wird deutlich, daß hier die Nationalregierungen gemeint sind, die somit quasi als natürliche Vertreterinnen "ihrer" Völker legitimiert werden. Zitat: "Wir bekräftigen das Recht aller Völker auf die internationale Vermittlung von Konflikten unter Einschluss unabhängiger Akteure der Zivilgesellschaft. ... Für das Recht aller Völker auf Selbstbestimmung, besonders der indigenen Völker." Nicht fehlen darf natürlich die PR-trächtige Tobin-Tax in der Liste der Forderungen. Zitat: "Gegen Spekulationen: Wir fordern die Einführung spezifischer Steuern wie die Tobin Tax und die Abschaffung der Steuerparadiese."

Mit diesen Positionen und Strategien sind die FunktionärInnen der großen NGOs (allen voran Attac), von Parteien und anderen, die dort mitmischen, in keiner Weise RepräsentantInnen einer breiten Bewegung – er-stens können sie das ohnehin nicht sein, den StellvertreterInnentum bedeutet immer Herrschaft und Instru-mentalisierung. Und zweitens ist solche staats- und marktkonformen Positionen nur die Meinung eines ex-tremen Flügels der gesamten Vielfalt an Gruppen, nämlich des Flügels, der Herrschaftsstrukturen und Marktlogiken als Retter betrachtet. Ein Großteil aktiver Gruppen sieht diese aber als Quelle dessen, was sie ablehnen. Nur sind erstere diejenigen, die im Pakt mit Staat und Medien ihre Stimme dominant zur Geltung bringen können (Instrumentalisierung der Basis), während zweitere schon traditionell an diesem Punkt fast immer versagen – ihre Aktionen auch zu vermitteln, Positionen und Visionen hör- und sichtbar zu machen.

Aus Berichten:

Von Sascha Stanicic, SAV-Bundessprecher und Teilnehmer beim WSFEs gab bei diesem WSF aber auch Widersprüche, Auseinandersetzungen und Kontroversen und Entwicklungen, die eine Gefahr für die Bewegung darstellen. Vergleicht man die „offiziellen Reden“, die bei den Konferenzen während des WSF gehalten wurden mit den Debatten, die auf den Fluren und den Diskussionen in Seminaren und auf dem Jugendcamp stattfanden, dann drängt sich der Eindruck auf, dass die Masse der TeilnehmerInnen deutlich weiter links stand und weiter gehende, antikapitalistische Positionen vertrat, als die RednerInnen bei den Konferenzen (zu denen ja auch nur die Delegierten Zugang hatten und bei denen es keine offenen Diskussionen gab, sondern nur schriftlichen Fragen an das Podium gerichtet werden konnten).
Es gab auch eine Auseinandersetzung über die Teilnehmerpolitik des WSF. Einerseits haben zum Beispiel sechs französische Minister, ein Vertreter von Chirac, ParlamentarierInnen, die für den Krieg gestimmt haben, KommunalpolitikerInnen, die Abschiebungen unterstützen teilgenommen. Aus diesem „Spektrum“ wurde von Seiten des Organisationskomitees des WSF nur zwei Menschen geraten, auf die Teilnahme zu verzichten: dem belgischen Premierminister und einem Vertreter der Weltbank. Andererseits wurde Fidel Castro, Hugo Chavéz, baskischen Befreiungsorganisationen und der kolumbianischen Guerilla FARC die Teilnahme verweigert. Begründung: Staatsmänner und bewaffnete Organisationen können nicht teilnehmen. Doch mit Mitgliedern der französischen Regierung war offensichtlich eine bewaffnete Organisation anwesend, nämlich der französische Staat.
Diese Teilnehmerpolitik halten wir für falsch, da sie eine Abgrenzung nach links darstellt, während betont wird, dass der Dialog mit den Institutionen des Kapitalismus geführt werden soll. Sie drückt aus, dass die führenden Kräfte des WSF keine Politik betrieben, die über die Grenzen der kapitalistischen Gesellschaft hinausgeht, sondern einen rein reformistischen Ansatz vertreten.


Aus Elmar Altvater, "Steinerne Gäste" in: Freitag, 4.2.2005 (S. 6)
... Manifest, dessen Urheber für sich beanspruchen, sie hätten damit den "Konsens von Porto Alegre" formuliert, darunter Ignacio Ramonet von der Zeitung Le Monde Diplomatique, der "Begründer" des Weltsozialforums, Samit Amin aus Dakar oder Walden Bello vom Focus on the Global South in Bangkok. Diese Honoratioren haben mit anderen einen Katalog von Forderungenv eröffentlich, von denen sie meinen, darin widerspiegele sich der Konsens der 120.000: Sie verlangen eine Tobin-Steuer, das Ende aller Steueroasen, Schuldenstreichungen für die Ärmsten, eine solidarische Vermögenssteuer weltweit, den garantierten Zugang zu sauberem Trinkwasser für jeden. Leider wird mit diesem Konsens die Philosophie der horizontalen Vernetzung des WSF missachtet, auch wenn allen Posiitonen der Prominenten zuzustimmen ist. Vielleicht haben die Großen des Forums ihren Konsens lanciert, weil im Juli Gespräche mit den Repäsentanten des Weltzsozialforums von Davos in Paris stattfindens ollen. Präsident Lula, der zuerst in Porto Alegre ist, um von dort nach Davos zu fliegen, rät dem WSF - und erntet dafür Pfiffe-, mit den Reiche und Mächtigen der Welt zu reden, wenn es seine Ziele durchsetzen wolle.

Somos todos delegados (Wir sind alle Abgeordnete)
von Claudio Jampaglia, ATTAC Italien, 1.Februar 2002 (Quelle, Übersetzerin: Marie-Dominique VERNHES)
Somos todos delegados, so beginnt am ersten Tag des Forums der Parlamentarier der Protest der italienischen und argentinischen Delegationen, die sich der brasilianische Delegation anschließen. Sie haben ein wenig verhandelt, um in den Saal zu gelangen, ohne sich gegen den Ordnungsdienst und die Empfangsorganisatoren durchsetzen zu müssen, und alle für die Abgeordneten reservierten Plätze besetzt. Eine symbolische Aktion mit einem brisanten Inhalt.
Viele der Vertreter der politischen Parteien möchten eine neue Unschuld bekommen und meinen, jetzt in Porto Alegre diese vor den Augen der Presse und der anderen Medien beweisen zu können. Es war also notwendig, zumindest für einen Moment öffentlich den Bruch zu zeigen.
Mindestens 300 Aktivisten sind also ohne Einladung auf der Konferenz der Parlamentarier aufgetreten; sie haben während einer halben Stunde gesungen und die Gründe für ihren Protest dargelegt.
Es gibt zwei Hauptgründe, die seit langem ständig wiederholt und ebenfalls ständig ignoriert werden. In den Augen der anwesenden Bewegungen gibt es nur zwei unverzichtbare Kriterien für die Teilnahme an der Bewegung der Bewegungen: Ablehnung des Liberalismus und des Krieges. Am Forum der Parlamentarier dürften nur diejenigen teilnehmen, die diesen Kriterien entsprechen. Unter den anwesenden Abgeordneten haben jedoch einige in Europa für den Krieg, in Südamerika für die FTAA votiert; die FTAA ist das Freihandelsabkommen für die amerikanischen Länder, das ein gutes Beispiel für ein politisches Abdriften zum Liberalismus darstellt. In ihrem jeweiligen Land sind sie zu allen Konsensbeschlüssen, allen Privatisierungen bereit und für die Bombardierung Afghanistans. In Porto Alegre treten sie als Demokraten auf, sind für Offenheit und gegen die Schrecken und das Elend. Dass sie ihr Fähnchen nach dem Wind hängen ist eine Sache. Sie vertreten aber außerdem die Meinung, dass die Verwirklichung einer partizipativen Demokratie und einer Bürgerregierung einzig und allein von der Ausbildung von Fachleuten, Beamten und lokalen Verwaltern abhängt und sie ereifern sich vor den Mikrofonen. Schauen wir uns nur die Pressekonferenzen der französischen Minister und der Vertreter von europäischen politischen Parteien in Porto Alegre an: Hier treten sie für Menschlichkeit ein, dort tun sie nichts betreffend die provisorischen Einwandererzentren.
Frische Luft brachten die Parolen der Aktivisten: "Ja zum Forum, nein zum Krieg!". Nicht zufälligerweise waren bei dieser Aktion vor allem Mitglieder der italienischen und argentinischen Delegationen vertreten, betrachtet man ihre politische Geschichte und die jetzigen Massenbewegungen in ihrem jeweiligen Land. 
Es wurden drei Reden gehalten, die die Aktivisten immer wieder mit Liedern und Parolen unterbrochen haben, in denen sie ihren Durst nach einer wirklichen Demokratie zum Ausdruck brachten und die Abgeordneten zur Solidarität aufforderten. 
Die erste Rede hielt Patricia Walsh, Abgeordnete aus Izquierda Unida in Argentinien, Tochter des von den Militärs getöteten Journalisten Rodolfo Walsh. "Wir sind hier, um für eine gerechtere Welt zu kämpfen, für den weltweiten Frieden, und daher können wir es nicht hinnehmen, dass hier Abgeordnete anwesend sind, die für den Krieg sind. Wir wollen auch an die Toten erinnern, insbesondere an die gestorbenen Demonstranten. Ich erwähne zuerst Carlo Guiliani, der in Genua getötet wurde." Sie zählt dann die 27 Menschen auf, die während der Auseinandersetzungen in Argentinien im Dezember vorigen Jahres getötet worden sind. Alle singen: „Argentina la lucha no termina“ (Argentinien, der Kampf geht weiter).
Danach erklärt Blanca Algratani von der argentinischen Bewegung mit einer ruhigen und klaren Stimme, dass der FTAA zuzustimmen jetzt noch schlimmer als in der Vergangenheit ist. Sie sagt, dass es ein Verbrechen sei und zählt die vielfältigen und dramatischen Folgen auf. 
Die letzte Rede hält Marco Bersani von ATTAC Italien. Er begründet den Protest: "Wir meinen, dass die Anwesenheit vieler Parlamentarier als Erfolg der Bewegung zu bewerten ist. Sie beweist die Fähigkeit, auf allen Ebenen Probleme ansprechen und Gespräche führen zu können. Wir können jedoch es nicht hinnehmen, dass diejenigen, die für den Krieg und für die FTAA gestimmt haben, auf dem Sozialforum versuchen sich wieder beliebt zu machen." Danach haben sich die Delegationen in einem Demonstrationszug in die Universität zurückgezogen. Dort haben alle an Konferenzen und Seminaren teilgenommen, als ob nichts stattgefunden hätte. Und doch wurde ein der wichtigsten Prinzipien unserer Bewegung in Erinnerung gerufen: „Sich unsere Welt wieder aneignen!“


Abschlussbericht vom Social Forum und Ausblick

Von Maurice fuer LPA - Corriere da la A

8. November
Die TeilnehmerInnenzahlen erreichten die Hoehe von 40.000 Leuten. Die VeranstalterInnen hatten mit 35.000 gerechnet. Als Folge des Andrangs wurde zeitweise das Forte, wo die Konferenz und ein Teil der vielen Workshops stattfanden, geschlossen.
Die Beteiligung an den Gegenaktivitaeten war hingegen sehr mager und verteilte sich auf die A-Szene rund um das Buero der MAF (Movimento Anarchico Fiorentino) im Zentrum, das unabhaengige Mediencenter rund um Indymedia und den Aufenthaltsort der Disobdiences (Bewegung, die sich groesstenteils aus ehemaligen „Tute Bianche“ zusammensetzt und den aktiven zivilen Ungehorsam lebt).
Aus dem alternativen Mediencenter heraus kam es zu einer Spontandemo von ca. 100 Leuten am fruehen Nachmittag, deren erklaertes Ziel es war, ohne Eintrittskarte in das Forte zu kommen und linksradikale Inhalte zu propagieren. Das Vorhaben scheiterte und blieb auch augenscheinlich der einzige Versuch die TeilnehmerInnen des ESF zu erreichen. Ein paar andere AktivistInnen versuchten in einem Supermarkt eine symbolische Umverteilungsaktion durchzufuehren. Die Folge waren zwei Festnahmen wegen Diebstahls und eine somit ebenfalls misslungene Aktion. Aus dem alternativen Mediencenter lief waehrend der Proteste ein Piraten-TV-Sender, der mehr oder weniger die ganze Zeit Bilder von den Protesten in Genua sendete und somit dem Klischee der linksradikalen Szene alle Ehre machte. Ebenfalls auf Sendung ging ein alternativer Radiosender und berichtete ueber die kaum stattfindenen Gegenaktivitaeten. Abends fand in ausgelassener Stimmung eine Party in den Raeumen des Mediencenters statt.
Spannend fuer die linksradikale Bewegung duerfte die Diskussion ueber die Beteiligung und Rolle der NGOs im Rahmen des neuen Herrschaftskonzeptes „Global Governance“ sein, ueber das sich die NGOs in diesem Rahmen - allen voran ATTAC - Gedanken gemacht haben. Hier waere eine fundierte Herrschaftskritik von anarchistischer und linksradikaler Seite, die bisher zumal in der deutschen Linken noch viel zu wenig laeuft, und eine dementsprechende Gegenaktivitaet noetig.

9. November
Die Grossdemonstration zum Abschluss des Social Forums war eine grosse Bestaetigung fuer das ESF. Nach Polizeiangaben nahmen 500.000, nach Pressemeldungen 750.000 und nach VeranstalterInnenangaben ueber eine Million Menschen an der Anti-Kriegsdemo teil. Die Strecke der Demo fuehrte aus der Innenstadt heraus zum Campo di Marti, einem Sportstadium in einem Randbezirk von Florenz. Die Polizei zeigte bei der Demonstration kaum Praesenz - weder an den Seiten noch in den Seitenstrassen sah mensch Polizeikraefte, die allerdings im Hintergund unsichtbar in Bereitschaft standen. Auch die Geschaefte schienen nicht von der Medienhetze in Angst versetzt zu sein - nur ein paar Banken und McDonald-Filialen hatten sich unnoetigerweise verbarrikadiert. Waehrend des ganzen Demonstrationszuges kam es zu nicht einer nennswerten Sachbeschaedigung, nicht eine Scheibe ging zu Bruch.
Der heraufbeschworene Schwarze Block existierte auf der Demo nicht. Am Rande bemerkt: auch der anarchistische Block war kaum wahrzunehmen. Gerade mal 40-50 Leute reihten sich in den „Block“ von FAI (Federazione Anarchica Italiana) und USI (Unione Sindicale d Italia - Anarch@syndikalistInnen) ein. Das lag weniger an der fehlenden libertaeren Praesenz als daran, dass die Leute nicht zueinander fanden und vereinzelt in der Riesenmenge mitschwammen.
Die Demonstration selbst war ein Fahnenmeer aus roten und Regenbogenfahnen der Friedensbewegung. Stark praesent war auch die Solidaritaetsbewegung fuer Palaestina. Die Darstellung des Konfliktes zwischen dem Staat Israel und den PalaestinenserInnen verlief allerdings erschreckend unreflektiert und war mit antisemitischen Stereotypen durchsetzt. Von PassantInnen und AnwohnerInnen wurde die Demo freudig begruesst - es wurde Wein an DemonstrantInnen verteilt, gewunken oder bei Liedern wie „Bella Ciao“ mitgesungen. Zum Abschluss der Demonstration gab es vor dem Stadium ein grosses Konzert.
Ebenfalls ein Konzert hatte die MAF in der Innenstadt mit einem italienischen Liedermacher - A. Lega - organisiert, der anarchistische Chansons zum besten gab. Als Kontrastprogramm spielte eine HC-Punkband.

10. November
Der grosse Abreisetag wurde von linksradikaler Seite noch einmal zur Reflektion genutzt. Im alternativen Mediencenter kam es zu einer Diskussion, warum die Taktik von Gegenveranstaltungen nicht aufging und inwieweit es sinnvoller gewesen waere sich beim Forum einzubringen. Die Meinungen, der etwa 50 Anwesenden blieben gespalten. Einig war mensch nur, dass Selbstverwaltung staerker propagandiert werden muss.

Nachbetrachtung
Das Social Forum zeigte an Hand der grossen Beteiligung von Jugendlichen, dass es offenbar ein reges Interesse fuer eine Politik jenseits der bestehenden Parteienstrukturen gibt. Das Aufzeigen von moeglichen Alternativen ueberliess die linksradikale und anarchistische Bewegung jedoch leider trotzkistischen Sekten, reformistischen Gruppen und buergerlichen Oekos. Auf dem ganzen Social Forum gab es nur einen einzelnen anarchistischen Buechertisch, der von mehreren anarchistischen Individuen betrieben wurde. Es fehlte eine fundierte linksradikale Kritik an diesem Forum und eine Alternative fuer die TeilnehmerInnen. Fuer das naechste Social Forum waere es sicherlich sinnvoll, staerker eine Gegenstruktur mit linksradikalen Inhalten aufzubauen, die ueber eine blosse Antihaltung hinausgeht.
Auffaellig auf dem Social Forum war, dass zwar teilweise sehr verbalradikal gegen die Folgen des Kapitalismus polemisiert wurde, aber dieser Protest auch hinter den Mauern des Forte blieb. Die No-Sweat-Kamapgne ist ein Beispiel dafuer. Sie wendet sich gegen die Ausbeutung in der Bekleidungsindustrie und ruft zu direkten Aktionen auf, waehrend gleichzeitig vor dem Forte riesengrosse Werbung fuer den Benneton-Konzern unbehelligt hing, einer Firma, die sowohl ihre Produkte unter anderem durch Kinderarbeit herstellen laesst, als auch in Spekulationsgeschaefte in Argentinien verwickelt ist.
Ebenfalls problematisch war die starke Praesenz von Parteien und RegierungsvertrterInnen auf diesem Forum, das urspruenglich ein Forum der NGOs sein sollte und wollte.
Was ausser ein bisschen Medienecho vom Social Forum uebrig bleiben wird, ist fuer mich persoenlich sehr fraglich. Eine Veraenderung der herrschenden Politik ist es auf jeden Fall nicht.

Bericht vom Weltsozialforum, Porto Alegre, Brasilien

von HARTMUT REGITZ der für die AKTION 3.WELT Saar teilnahm.

1. UEBERBLICK
Das 3. Weltsozialforum (WSF) ist nun schon eine Zeitlang vorueber, und nach der Lektuere der deutschsprachigen Presse-Artikel will ich hier versuchen, neben einigen bisher kaum erwaehnten Bereichen auch umstrittene inhaltliche und organisatorische Fragen aufzugreifen.
Auf dem WSF wurde die neueste Datensammlung von “Social Watch” als CD verteilt, laut der im Jahr 2001 eine Summe von netto 150 Mrd. US-$ aus den Entwicklungslaendern an die Industrienationen floss (Schuldzinsen, Handel, Investitionen, Profit, “Entwicklungshilfe” usw. miteinander verrechnet). Ein Kriterium fuer die Beurteilung des WSF koennte sein, inwiefern es dazu beigetragen hat, Tatsachen wie diese allgemein bewusst zu machen oder gar zu aendern.
Auf dem ersten WSF wurden vor allem die weltweiten Auswirkungen der neoliberalen Offensive zusammengetragen, auf dem zweiten wurden auch Gegenkonzepte diskutiert, die Kommunikationsmoeglichkeiten verbessert und ueber verbindlichere Strukturen beraten. Ziel des dritten Forums, das vom 23.-27.01.2003 im suedbrasilianischen Porto Alegre stattfand, sollte die Konkretisierung von Alternativen zum Neoliberalismus und die Verstaendigung ueber Aktionen und Kampagnen sein. Es kamen ueber 20.000 Delegierte aus rund 5000 Gruppen, NGOs, Gewerkschaften, Netzwerken u.a. Bewegungen, insgesamt sollen rund 100.000 Menschen teilgenommen haben. Mit diesem quantitativen Wachstum stiess das WSF auch an seine finanziellen, organisatorischen und raeumlichen Grenzen. In den Vorjahren hatten die Diskussionen im wesentlichen an der katholischen Universitaet PUC stattgefunden – nun wurden die Grossveranstaltungen in die Kongresshalle “Gigantinho” ausgelagert, und insgesamt waren die Aktivitaeten des 3. WSF auf rund 10 verschiedene Oertlichkeiten verteilt, die z.T. kilometerweit auseinander lagen.
Inhaltlich war das WSF zum einen nach Themenachsen strukturiert, die taeglich als Plena und Konferenzen von 8.30-12.00 und von 14.00-17.00 Uhr stattfanden: 1. Demokratische und nachhaltige Entwicklung; 2. Menschenrechte, das Recht auf Unterschiedlichkeit und Gleichheit; 3. Medien, Kultur und Alternativen zu Kommerzialisierung und Homogenisierung; 4. Macht, Zivilgesellschaft und Demokratie; 5. Demokratische Weltordnung, Frieden. Zum andern wurden rund 1300 von Delegierten selbstorganisierte Workshops und 114 Seminare angeboten, die meisten als dreitaegiges kontinuierliches Angebot (24.-26.). Viele dieser kleinen Veranstaltungen fielen allerdings auch aus, z.T. wegen mangelnden Interesses, z.T. wegen ueberraschender Veraenderungen des Terminplans (z.B. der kurzfristig angesetzten Rede von Lula). Daneben gab es noch 4 "Runde Tische der Kontroversen” und “Zeitzeugen”, die ueber ihren Lebensweg berichteten (z.B. die Landesbischoefin der Ev. Kirche Hannovers, oder die brasilianische Umweltministerin). Gewuerzt wurde dies durch ein umfangreiches Kulturprogramm mit Live-Musik, Filmen, Foto-Ausstellungen, Strassentheater, Lesungen...

2. “DIALOG” UND ILLUSIONEN
Fuer die deutschsprachigen Teilnehmer war zu Beginn und zum Abschluss des WSF jeweils ein Treffen im Goethe-Institut angesetzt, zu dem rund 130 Delegierte erschienen. Das Spektrum reichte vom CDU-Mitglied Peter Hesse, der fuer “Congo” warb (Conference of NGOs in consultative Status with the ECOSOC of the UN), ueber die Anthroposophen vom “Netzwerk fuer soziale Dreigliederung” Stuttgart bis zu PDS-, DKP- und Euromarsch-Vertretern. Relativ stark vertreten waren oesterreichische Gewerkschafter und die GEW. Ver.di-Vorsitzender Bsirske hatte seine Teilnahme angekuendigt, doch wie schon beim Europaeischen Sozialforum in Florenz war er schliesslich doch “verhindert”. Die meisten Anwesenden hatten ihre Reise bezahlt bekommen. Juergen Reichel vom Evangelischen Entwicklungsdienst (EED), der im hoechsten Gremium des WSF, dem ueber hundertkoepfigen “Internationalen Rat” sitzt, berichtete ueber dessen Kontroversen: die asiatischen und afrikanischen Delegierten fuehlten sich unterrepresaentiert und plaedierten fuer Indien als naechsten WSF-Treff; die zahlenmaessig dominierenden lateinamerikanischen Delegierten dagegen plaedierten fuer Porto Alegre als staendigen WSF-Austragungsort. Neben dem wirtschaftlichen Faktor (-zig Millionen US-$ Umsatz) duerften dafuer vor allem politische Gruende massgeblich sein. Wie Lula’s Rede in Davos gezeigt hat, nutzt er das WSF, um Brasilien’s internationale Bedeutung zu staerken.
In der Auswertung des WSF beim Abschlusstreffen der deutschsprachigen Delegierten wurde die Selbstgefaelligkeit vieler NGO-Aktivisten deutlich, die begeistert ueber die “Buntheit”, die vielen Teilnehmer, ihre neugeknuepften Kontakte waren; der Vertreter von “Brot fuer die Welt” forderte sogar, sich angesichts solch positiver Folgen der Globalisierung nicht mehr als “Globalisierungskritiker” zu bezeichnen, andere begruessten den “Dialog” mit dem WWF in Davos.
Diesen hatte Lula schon Tage vor dem WSF angekuendigt, und war anfangs auch dafuer kritisiert worden. Doch seine Rede Freitagabends wurde von ca. 70.000 Zuhoerern dann begeistert gefeiert, und in der WSF-Tageszeitung “Terraviva” wurde ebenfalls kraeftig fuer seine Mittlerrolle geworben. Dominierten dort anfangs noch die Aktivisten, so oeffnete die “Terraviva” zunehmend ihre Spalten fuer sozialdemokratische und sogar neoliberale Politiker: der ehemalige portugiesische Praesident Mario Soares plaedierte fuer eine europaeische Armee, gegen die Dominanz der USA fuer eine engere Kooperation zwischen EU und Mercosur (Arg., Bras., Ur. und Par.) und fuer die Erweiterung des UN-Sicherheitsrats um Japan, Deutschland, Brasilien, Indien, “and maybe South Africa”. Weltbank-Praesident Wolfensohn betonte unter der Ueberschrift “Eine bessere Welt ist moeglich” den wachsenden Konsens zwischen Eliten und “Zivilgesellschaft” ueber “ein weltweites System, das auf Gleichheit, Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit basiert”. Wolfensohn: “Wenn wir unser gemeinsames Ziel erreichen wollen, die Armut zu reduzieren, benoetigen wir eine mittlere weltweite Wachstumsrate von fast 3,5 % pro Jahr bzw. ein BIP von 140 Billionen US-$ bis 2050”. In seinem Artikel weist er der Zivilgesellschaft die Rolle des Lueckenbuessers fuer den Schutz der Umwelt und die bessere Ausfuehrung der Weltbank-Projekte zu.
Der Gruender und Praesident des WWF, Klaus Schwab, behauptet in derselben Ausgabe, mit “corporate governance” und dem “Global Greenhouse Gas Register” habe das WWF schon seine soziale Verantwortung bewiesen. WWF-Direktor Ogrizek behauptet, die Globalisierung wuerde den Armen durch die Zerstoerung von Handelsbarrieren der reichen Laender helfen (alle Zitate aus “Terraviva” v. 27.1.2003).
Letzteres war auch eine Hauptforderung von Lula in Davos. Unter den Tisch faellt bei dieser Forderung, dass zunaechst einmal nur die Grossgrundbesitzer und Kapitaleliten in den postkolonialen Laendern von einer Marktoeffnung der reichen Laender profitieren werden. Voellig offen ist, ob es dann zu einem “trickle down”-Effekt auch fuer die arbeitenden Menschen in den armen Laendern kommt, ob sich auch ihre Lage verbessert. Jedenfalls scheint sich in diesem Punkt eine Einigung abzuzeichnen, auch weil die Industriestaaten die Subventionierung ihrer Landwirtschaft nicht mehr finanzieren koennen (fuer jede Kuh wird in der EU taeglich eine Subvention von 2,2 Euro gezahlt, das ist mehr, als die Haelfte der Menschen verdient).

3. STARS UND STREIFEN
Einigendes Band zwischen den Attacies, Christen, “Petisten” (Anhaenger des 1979 von Lula u.a. gegruendeten befreiungstheologisch inspirierten PT), Sozialdemokraten, Peronisten, Kommunisten, Anarchisten, zwischen Landarbeitern, Lehrerinnen, Studentinnen und Politkern ist die Kritik an der Dominanz der USA.
So geniesst der venezolanische Praesident Hugo Chavez in Brasilien grosse Sympathien, obwohl er am Flughafen nur von einem Sekretaer des neugewaehlten konservativen Gouverneurs von Rio Grande do Sul empfangen wurde. Auf seiner 1stuendigen Pressekonferenz liess er in der Tradition autoritaerer Populisten nur 6 Fragen zu und glaenzte ansonsten durch Monologe.
Gehaltvoller war die Reflexion des uruguaischen Schriftstellers Eduardo Galeano, der vor ueber 20 Jahren mit seinem Bestseller “Die offenen Adern Lateinamerikas” erklaert hat, warum Suedamerika gerade wegen seines Reichtums so arm ist – und daran hat sich trotz der protestierenden Millionen noch nichts geaendert. Galeano, der Befreiungstheologe Leonardo Boff und Jean Ziegler boten ihren 20.000 Zuhoererinnen im “Gigantinho” einen der emotional-intellektuellen Hoehepunkte des Forums. Noam Chomsky und Arundhati Roy brachten nichts wesentlich Neues in die Friedensdiskussion ein, begeisterten aber dennoch (oder gerade deswegen?).
Friedensforscher Johan Galtung forderte einen Boykott der USA und erntete dafuer rauschenden Applaus. In der unuebersichtlichen Vielfalt der Veranstaltungen dienten die “Stars” der Bewegung offensichtlich vielen als Orientierungspunkt und zur Selbstbestaetigung. Durch die raeumliche Zersplitterung des WSF und das alphabetisch, aber nicht thematisch gegliederte ueber 70seitige Workshop-Programm, das erst am Abend des 24. verteilt wurde, kostete es viele Stunden, bis wir uns orientiert hatten. Das chaotische und spontane Umherstreifen vieler Teilnehmer fuehrte aber auch zu schoenen Begegnungen, die vielleicht mehr zum interkulturellen Dialog beigetragen haben als viele Fensterreden mehr oder weniger Prominenter.
Auf jeden Fall negativ ist die bisherige Intransparenz sowohl der Entscheidungsstrukturen des WSF als auch der grundsaetzlichen inhaltlichen und strategischen Diskussionen. Wer waehlt die Mitglieder des “Internationalen Rats”? Wie kann verhindert werden, dass wichtige Diskussionen nur in einem kleinen Kreis stattfinden, waehrend die Intelligenz tausender Zuhoererinnen durch Fensterreden “bedeutender Maenner” beleidigt wird? Wie kann die Autonomie des WSF gegenueber Vereinnahmungsversuchen politischer Parteien und anderer Interessengruppen bewahrt werden?
Wie kann der Dialog ueber Alternativen zu Neoliberalismus und Kapitalismus, der inhaltlich konkrete Streit, der praktische Erfahrungsaustausch intensiviert werden? Wie koennen gemeinsame kleine und grosse Aktionen geplant werden? Ein Treffen, das 3,5 Millionen US-$ kostet, bei dem 650 ehrenamtliche Helferinnen ihre Zeit und Nerven opfern, zu dem Tausende aus 150 Laendern anreisen, muesste mehr leisten als nur die Bestaetigung alter Anti-US-Reflexe.
Eine Moeglichkeit zur effektiveren Vernetzung waere, dass die Delegierten, die Workshops anbieten, ihr Thema schon 3 Monate vor Beginn des naechsten WSF dem Org.komitee mitteilen. Dieses muesste die inhaltlich benachbarten Gruppen miteinander in Kontakt bringen, sodass diese sich verstaendigen koennten, zum selben Thema nur einen Workshop anzubieten. Dies koennte die Zahl der Workshops verringern und ihre Teilnehmerzahl gleichzeitig erhoehen, die Vernetzung schon im Vorfeld verbessern sowie die Diskussion strukturieren helfen.
Umstritten ist die Bedeutung einer Abschlusserklaerung. Beim 3. WSF lag ein Vorschlag vor, der aber schliesslich aus ebenfalls intransparenten Gruenden nicht verabschiedet wurde. Viele Organisationen scheuen die Verbindlichkeit einer gemeinsamen “Plattform”, befuerchten Fraktionierung, Grabenkaempfe und vorschnelle Vereinheitlichung.
Hat es sich gelohnt? Es kommt auf die Erwartungen an. Zunaechst war ich enttaeuscht ueber die Kompromissbereitschaft und Naivitaet gegenueber den neoliberalen Ideologen. Ueber die z.T. geglueckten Vereinnahmungsversuche durch PT und Sozialdemokratie. Ueber die Anti-US-Reflexe, die gegenueber den eigenen nationalen Kapitaleliten blind machen. Ueber die unreflektierte Verwendung des Begriffes “Volk”, ohne zu hinterfragen, welche Eliten z.B. von der “Solidaritaet mit dem palaestinensischen Volk” profitieren. Ueber die NGO-Vertreter, die vor lauter Organisationsinteresse den Zweck ihres Vereins vergessen haben. Darueber, dass oekonomische Tendenzen und Reform-Alternativen, z.B. die Tobin-Steuer, nur oberflaechlich diskutiert wurden. Und ueber die Intransparenz und Unuebersichtlichkeit des WSF.
Doch dem steht gegenueber, dass hier immer noch ein Raum besteht fuer die Thematisierung internationaler oekonomischer Verflechtungen. Fuer die Bildung von Gegenmacht. Fuer die Diskussion auch antikapitalistischer Perspektiven. Nach dem Ende des WSF trafen sich ca. 500 Sozialistinnen und Sozialisten zu einem mehrtaegigen Seminar mit teilweise spannenden Analysen zu den Institutionen, die den neoliberalen Ausverkauf organisieren, zur Situation in Lateinamerika und Brasilien etc. Und nicht zuletzt begegneten sich Menschen, die sich ohne das WSF nie kennengelernt haetten.
Hartmut, La Plata/Argentinien

2005

Aus Bartholl, Timo, "Offene Geografien, offene Räume" (Diplomarbeit, S. 109, PDF-Download)

OSTERWEIL (2005: 248) zieht ein sehr kritisches Fazit zum WSF 2003: „Großartig! es war eine wunderbare Erfahrung. Das offizielle Ereignis selbst war ein ziemliches Desaster, aber die Menschen, die es zusammenbrachte, die Zusammenkünfte und Begegnungen, die es möglich machte – zuweilen sogar unabsichtlich: All das überwand die Beschränkungen des offiziellen Forums.“ ...

Schöne Worte, raue Wirklichkeit
Wenn ich mich lesend und schreibend (also fern ab von Menschen und Prozessen) mit Entwicklung und Potenzial der Sozialforenbewegung auseinandersetze, neige ich dazu, unkritisch zu werden, weil mir das Anliegen des WSF sehr wichtig ist. Gerade im gesamtpolitischen Zusammenhang ist es eine der wenigen großen Initiativen, mit denen der propagierten Alternativlosigkeit zur neoliberalen Entwicklung* etwas entgegen gesetzt wird. In der Wirklichkeit der Sozialforenprozesse sind aber viele Praktiken zu beobachten, die wenig mit den propagierten Ansprüchen und Zielen zu tun haben.
Es finden sich Viele, die anders als der viel beachtete Ansatz HOLLOWAYs, „die Welt [zu] verändern, ohne die Macht zu übernehmen“, eben gerade danach streben: Macht. Macht und (mediale) Aufmerksamkeit. Und da das WSF mittlerweile sehr groß und bedeutend geworden ist, gibt es davon eine Menge zu erobern beim WSF-Prozess. Wider proklamierten Selbstanspruchs der Horizontalität werden sehr rasch informelle Hierarchien geschaffen, wenn es um politischen Einfluss und die Verteilung von Geldern geht. Meine Erfahrungen mit dem Forenprozess bisher haben genau aus diesem Grund oft zu Enttäuschungen geführt. Ich war oft überrascht, wie miteinander umgegangen wird, wie Verhandlungen ablaufen und wie Konflikte gelöst oder eben übergangen werden. Die Kämpfe zwischen Interessengruppen scheinen dabei keinen Deut fairer als in anderen politischen Umfeldern, es herrscht ein sehr rauer Umgang.
Am Ende steht doch immer wieder das „Was“ im Vordergrund, das „Wie“ hinten an. Der Zweck, so die Meinung der „Durchdrücker“ und „Zur-Sache-Kommer“, heilige eben doch die Mittel. Während ich also Ideen und Ansätzen des Sozialforenprozesses viel abgewinnen kann, konnte ich in der Umsetzung weniger gefallen an Vielem finden. Diese Skepsis entwickelte sich erst, als ich zunehmend einen Blick „hinter die Kulissen“ warf. Als unvoreingenommener Teilnehmer des WSFs 2003 war ich in erster Linie einfach nur begeistert. Nicht nur, aber auch aufgrund dieser Probleme, die ich mit diesem mittlerweile zum politischen Monstrum angewachsenen WSF-Prozess habe, galt mein Interesse von Beginn an in erster Linie kleineren Prozessen, die parallel zu den Foren stattfinden. In Porto Alegre und Mumbai waren diese Camps, in Europa offene (Aktions-)Räume wesentlich kleineren Ausmaßes. Dadurch entstand mein großes Interesse am Acampamento Intercontinental da Juventude .

*Das Propagieren, es gäbe keine Alternativen zur praktizierten Politik, wird oft auf die Politik Margret Thatchers der 80er Jahre in England zurück geführt und mit dem Kürzel TINA („There is no alternative“ gekennzeichnet. Die Instrumentalisierung des Begriffes der Globalisierung als ein Phänomen unter dem alle leiden müssten, was aber niemand ändern könne, wird in den letzten Jahren immer häufiger zur Legitimation von „TINA-Politik“ verwendet.

WSF 2006

Bericht von Ulrich Brand in Freitag, 5/2006 (S. 1, gescannt und als Text eingelesen)

Einer von euch
HUGO CHAVEZ AUF DEM WELTSOZIALFORUM

Gewinnen unter den Globalisierungskritikern am Staat orientierte linke Bewegungen die Oberhand?
Wer sich von den widersprüchlichen Prozessen der "Bolivarianischen Revolution" ein Bild machen wollte, für den war Caracas zweifellos ein Gewinn. Viele der mit dem Weltsozialforum (WSF) sympathisierenden Bewegungen sind anti-staatlich und pro-chavistisch. Zugleich gibt es eine linke Opposition gegen den Gastgeber dieses Forums, den venezolanischen Präsidenten Chávez, auch wenn sich die Spannungen zwischen globalisierungskritischen Bewegungen einerseits und progressiven Regierungen andererseits - so zumindest der Eindruck in Caracas - zu vermindern scheinen.
Das gilt vorzugsweise für Lateinamerika. Auf dem Subkontinent entsteht ein "anti-neoliberales Projekt", das sich nicht zuletzt an den Links- oder Mitte-Links-Regierungen zu orientieren sucht, wie sie derzeit außer in Venezuela auch in Uruguay, Brasilien oder Bolivien existieren. Nationale Souveränität, Emphase gegenüber dem Heimatland und Anti-Imperialismus rangieren dabei auf der Werteskala weit oben, ergänzt um das noch vage Projekt einer lateinamerikanischen Integration.
Deutlich wurde ein möglicher Paradigmenwechsel des WSF bei der Schlussveranstaltung in Caracas - einem Treffen zwischen 80 geladenen Gästen und dem venezolanischen Staatschef in einem Militärzentrum, das live vom neuen Sender Telesur, eine Art Gegenprojekt zu CNN,* übertragen wurde. Bei kurzen Statements waren "Bitten an den lieben Herrn Präsidenten" zu hören. Hugo Chávez solle etwa die anstehenden WTO-Verhandlungen blockieren, um dadurch die Ergebnisse der Ministerkonferenz von Hongkong festzuzurren, forderte mit dem philippinischen Soziologen Walden Bello einer der profiliertesten Globalisierungskritiker. Danach sprach Chávez zwei Stunden "als einer von euch" und blieb dabei doch der Präsident. Er warb mit besonderem Nachdruck für eine dem Volk dienende Armee Venezuelas oder die von ihm so vehement betriebene Süd-Süd-Kooperation - ein Auftritt von einiger Symbolik: Der aus Sicht vieler Globalisierungskritiker derzeit progressivste Staatschef der Welt dozierte vor den sozialen Bewegungen und umarmte sie gründlich.
Sollte es so etwas wie eine "strategische Allianz" des Weltsozialforums mit den progressiven Regierungen geben? Das sehen viele Akteure aus Brasilien, Uruguay, Argentinien oder auch Kolumbien ganz anders. Wie überhaupt viele davor warnen, das WSF als „Machtfaktor“ zu behandeln. Die politische Umarmung, wie sie der Bewegung in Caracas zuteil wurde, könnte allem schon deshalb von Nachteil sein, weil sie der bisherigen Praxis widerspricht, vollkommen autonom über Strategien und Erfahrungen zu reflektieren. Sie ist zudem für viele Teilnehmer nicht nachvollziehbar, die in ihren Ländern mit einer Realität konfrontiert sind, in der sich jeder kooperative Umgang mit einem repressiven Staat verbietet. Wie überhaupt zu fragen wäre, ob eine Orientierung am "Partner Staat" nicht all Jene Kämpfe abwertet, die um eine Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse geführt werden.
Kein Zufall, dass es derzeit zwischen den Veranstaltern des Weltsozialforums heftige Kontroversen um das künftige Selbstverständnis der Bewegung gibt. Die einen wollen den politischen Player, der sich mit klaren Positionen etabliert und als Weltsozialforum die Intervention nicht scheut, was beim Eintreten gegen die Militarisierung der internationalen Beziehungen, gegen die WTO oder fortschreitende Privatisierungen von Vorteil sein mag. Andere sehen die Gefahr, bei vielen Sachverhalten das bislang geltende Konsensprinzip verlassen zu müssen und dadurch auf mittlere Sicht an Attraktivität zu verlieren. Warum, fragen sie, sollte sich die starke indigene Bewegung Boliviens durch den Chefredakteur von Le Monde Diplomatique ihren Kurs vorgeben lassen.

Hinweis: Hier fehlt noch die Anmerkung, dass der Sender unter Aufsicht der venezolanischen Regierung steht.

Aus Andreas Behn/Harald Neuber, "Die neue Internationale" in: Junge Welt, 30.1.2006 (S. 1)
Auch Chávez machte aus seiner Kritik am Weltsozialforum keinen Hehl. Es sei höchste Zeit, politische Positionen zu formulieren und Verantwortung zu übernehmen, mahnte er in seiner Rede.

Einheit, Einheit, Einheit?

Aufruf für ein neues historisches Subjekt
Auszüge, dokumentiert in Junge Welt, 23.3.2006 (S. 10)
Der Aufruf von Bamako versteht sich als ein Beitrag zum Entstehen eines neuen historischen Subjekts ... antiimperialistische Front ...
Um vom kollektiven Bewußtsein zur Herausbildung von kollektiven Akteuren (von den Volksmassen getragen, vielfältig ausgerichtet, multipolar) überzugehen, war es immer notwendig, genaue Themen festzulegen, um von ihnen ausgehend konkrete Strategien und Vorschläge zu formulieren. ...
Für den Aufbau einer vereinten Bewegung der Werktätigen ...


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