Sand im Getriebe

DEMOKRATIE IST EINE HERRSCHAFTSTECHNIK

Demokratische Gesellschaft und ihre Machtverhältnisse


1. Zitate
2. Machtförmigkeit ist kein Geheimnis
3. Einfluss der Menschen gering bis Null
4. Gesteigert: Repräsentative Demokratie
5. Demokratische Gesellschaft und ihre Machtverhältnisse
6. Demokratie, Rechtsstaat und Diktatur
7. Herrschaft ist selbst Grund seiner Ausübung
8. Links zu Alternativen, kreativem Widerstand usw.

Das Gute von oben - blinder Glaube an Institutionen
Harald Welzer, angesehener Vordenker in bildungsbürgerlichen Kreisen, zeigt in seinem Buch "Alles könnte anders sein" eine beachtlich naive Sichtweise auf Staat und staatliche Institutionen. Von diesen ginge das Gute in der Gesellschaft aus: Polizei würde schützen (nicht schlagen), Gefängnisse und Justiz würden das soziale Leben garantieren (statt zerstören) - und selbst Kriege und Armeen dienen dem Guten. Sein Text ist ein bemerkenswertes Beispiel, wie wenig die Privilegierten in den bildungsbürgerlichen Schichten verstehen, wie Gesellschaft funktioniert. Dass sie selbst die Brutalität von Staat, Grenzen und Macht selten spüren, weil sie zu den Bessergestellten gehören, Knäste eher als diejenigen kennenlernen, die dort einen guten Job haben usw. Stattdessen phantasieren sie, dass der Staat mit seinem Machtmitteln die Schwachen in der Gesellschaft schützen würde: "Kaum noch jemand weiß, welche Rolle funktionierende Institutionen für die Zivilisierung eines Gemeinwesens spielen. Denn eine rechtsstaatliche Ordnung, die für den Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt sorgt, lässt sich eben nicht kleinräumig in der autonomen Entwicklung von Communities sicherstellen. ... Die Schaffung von Institutionen, die denSchutz der Einzelnen garantieren, war eine der großen zivilisatorischen Leistungen der Moderne ..." Die Gesellschaft von oben herrschaftsförmig zu regeln, sei sogar notwendig, da es anders nicht klappen kann: "Man könnte sie jetzt endlos aufzählen, die Gerichte, die Staatsanwaltschaften, den Rechnungshof, ja, auch die Finanzämter, die Bundeswehr und die Feuerwehr, die Stadtwerke und das Verkehrsamt - sie alle regeln das, was in noch so endlosen lokalen Abstimmungsprozessen nie verlässlich geregelt werden könnte." Direkte Vereinbarungen zwischen Menschen funktionieren nicht - deshalb braucht es die Bundeswehr: Kriegsführung als humanitäre Intervention - das hatten wir schon. "Nie wieder Auschwitz" war die Steigerung, als der Ausruf zur Legitimation eines mörderischen Angriffskrieges pervertiert wurde. In der Logik von Welzer müsste Auschwitz durch ein Regime eingerichtet und organisiert worden sein, in dem Armee, Justiz und Polizei fehlten - denn diese hätte das ja verhindert. Welzer findet, dass "funktionierende Verwaltungen, loyale Beamtinnen, einsatzbereite Notärzte und mutige Polizisten essentiell auch und gerade für eine Gesellschaft für freie Menschen." War es nicht gerade das Problem, dass Verwaltungen so gewissenlos funktionierten und die BeamtInnen so loyal waren?

Aus Harald Welzer (2019): "Alles könnte anders sein" (S. 166 ff)
Institutionen
Ein großer Hype in der Nachhaltigkeitsszene ist »Postwachstum«. Das ist kein schönes Wort, aber es gibt eine Richtung an: Man will der Wachstumsökonomie entkommen und alternative Wirtschaftsmodelle entwickeln, mit denen man die zerstörerische Steigerungslogik der konventionellen kapitalistischen Ökonomie durchbricht. Das hat viel für sich: überhaupt schon mal eine hermetische und damit tendentiell unfruchtbare Wissenschaftslandschaft wie die Ökonomik mit neuen Gedanken und Theorien zu perforieren. Das nennt sich
»plurale Ökonomik« und hat gerade unter jungen Menschen viele engagierte Anhängerinnen und Anhänger. Dazu gibt es noch charismatische Vordenkerinnen und Vordenker, Tim Jackson in England, Niko Paech in Deutschland, Christian Felber in Österreich, Juliet Schor in den USA und, natürlich, die viel zu früh verstorbene Elinor Ostrom, die für ihre Untersuchungen zu den Funktionsweisen der Commons, also der Gemeingüter, erstaunlicherweise den Wirtschaftsnobelpreis bekommen hat.
Da ist also viel Bewegung, und ich habe viele Sympathien dafür. Wenn man zu solchen Ansätzen pluraler Ökonomik Lehrveranstaltungen durchführt und Referate und Hausarbeiten anfertigen lässt, dann bekommt man auch sehr viel Enthusiasmus zurück. Die Studierenden legen mit großem Engagement dar, wie man mit lokaler Erzeugung von Nahrung und Gütern die großen Warenströme vermeidet, schildern die Verbesserung des sozialen Klimas durch Tauschbörsen, wo man Arbeit gegeneinander verrechnet (»Du renovierst mein Wohnzimmer, ich spiele dir dafür Linux auf deinen Laptop«) oder wo Regionalwährungen lokale Wirtschaftskreisläufe etablieren und Zins als Wachstumstreiber ausschalten. Alles das ist interessant und ernst zu nehmen, aber es ergibt sich regelmäßig ein großes Problem, wenn die Studies sich in die kleinen, überschaubaren Gemeinschaften hineinträumen.
Dieses Problem kleide ich dann in die folgende Frage:
»Okay, eure lokale Community funktioniert tatsächlich. Ihr habt in eurer Gemeinde ein paar hundert Leute, die sich super verstehen, Entscheidungen basisdemokratisch treffen, nachhaltig wirtschaften und zivilisiert miteinander umgehen. Aber wie verhaltet ihr euch dazu, wenn es in eurer Nachbarcommunity, die ebenfalls ganz wunderbar funktioniert und nachhaltig wirtschaftet, üblich ist, Frauen und Kinder zu prügeln?« Große Augen schauen mich dann an. Und damit offenbart sich ein weitverbreitetes Defizit an politischer Bildung. Kaum noch jemand weiß, welche Rolle funktionierende Institutionen für die Zivilisierung eines Gemeinwesens spielen. Denn eine rechtsstaatliche Ordnung, die für den Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt sorgt, lässt sich eben nicht kleinräumig in der autonomen Entwicklung von Communities sicherstellen. Wie viele Beispiele von katastrophal aus dem Ruder gelaufenen lokalen Gemeinschaften gibt es, die sich in totalitäre Sekten verwandelt haben, nach dem Führerprinzip organisiert wurden, in denen körperlicher und seelischer Missbrauch, sklavische Abhängigkeiten und Unterdrückung herrschten - alles im Namen von Freiheit, Spiritualität, besserer Welt?
Eine Menge. Die Schaffung von Institutionen, die denSchutz der Einzelnen garantieren, war eine der großen zivilisatorischen Leistungen der Moderne. Und auch wenn Gesundheitsämter, Polizeidienststellen, Müllabfuhr und Technisches Hilfswerk als nicht gerade sexy gelten, sind sie es doch, die das Leben mit jener Sicherheit ausstatten, die lokale Communitys allein eben nicht gewährleisten können. Man könnte sie jetzt endlos aufzählen, die Gerichte, die Staatsanwaltschaften, den Rechnungshof, ja, auch die Finanzämter, die Bundeswehr und die Feuerwehr, die Stadtwerke und das Verkehrsamt - sie alle regeln das, was in noch so endlosen lokalen Abstimmungsprozessen nie verlässlich geregelt werden könnte. Denn die Institutionen funktionieren ja gerade deshalb, weil sie von der Aktualität und Zufälligkeit des Einzelfalls abstrahieren und nach allgemeingültigen Regeln verfahren. Das kann im Einzelfall extrem frustrierend sein, weil man im Regelwerk nicht vorgesehen ist oder es gegen einen ausgelegt wird, aber gesamtgesellschaftlich gewährleistet ein solches System weit mehr Schutz und Gerechtigkeit für die Einzelnen, als es lokale Communities jemals könnten.
Ich glaube, die Bereitschaft, Demokratie zu verteidigen und unsere Form von Gesellschaft grundsätzlich positiv zu sehen, wäre weit stärker verbreitet, wenn mehr Menschen über die Funktion von Institutionen für ihr ganz individuelles Leben Bescheid wüssten. Aber in der Regel betrachten sie sie als höchst abstrakte Behörden, die eher bedrohlich als hilfreich sind. Das ist so wie mit den Infrastrukturen: Dass es nicht einfach so geschieht, dass Wasser aus dem Hahn und Abwasser in die Kanalisation kommt, Strom aus der Leitung und Busse an die Haltestelle, ist den meisten Menschen ja auch nicht bewusst. Infrastrukturen sind da, und Institutionen auch, und eigentlich fallen sie nur auf, wenn irgendetwas nicht funktioniert. Wenn sie unauffällig vor sich hin arbeiten, werden ihre substantiellen Leistungen für das Zusammenleben in sehr großen Communitys wie eben einer ganzen Gesellschaft nicht zur Kenntnis genommen.
Deshalb sind funktionierende Verwaltungen, loyale Beamtinnen, einsatzbereite Notärzte und mutige Polizisten essentiell auch und gerade für eine Gesellschaft für freie Menschen. Ihre Existenz ist schon eine konkrete Utopie - noch vor wenigen Jahrzehnten hätten sich Menschen nach so viel Sicherheit gesehnt, wie sie heute ganz selbstverständlich ist. Und wer die Überraschung in Gesprächen mit Flüchtlingen kennt, wenn man ihnen sagt, dass man hierzulande niemanden schlagen darf, weiß, wie wenig selbstverständlich solche Sicherheit im globalen Maßstab ist.
Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt erfordert den Erhalt und die Stützung jener Institutionen, die sich bislang als äußerst wertvoll erwiesen haben und von denen wir wissen, dass sie auch idiotische, böswillige oder totalitär gesonnene Politiker in Schach halten können. Und man müsste sie um solche ergänzen, die noch fehlen, wie einen internationalen Umweltgerichtshof zum Beispiel.

Metropole und Peripherie
Aus Hardt, M./Negri, A., 2002: Empire. Campus Verlag Frankfurt (S. 11)
Unverkennbar wurde die räumliche Aufteilung dreier Welten (einer Ersten, Zweiten und Dritten) kräftig durcheinander geworfen. Wir finden fortwährend die Erste Welt in der Dritten wieder, die Dritte in der Zweiten, Die Zweite hingegen fast nirgendwo.

Das Soziale als Organismus
Aus Grosche, Monika (2003): "Anarchismus und Revolution", Syndikat A in Moers (S. 18)
Die anarchistische Gesellschaft baut sich im Räteprinzip basisdemokratisch - "von unten nach oben" - auf. Auf der Grundlage von Gleichberechtigung und Freiwilligkeit bilden Gesellschaft und Individuum einen untrennbaren Organismus.
In diesem Organismus wird sowohl dem natürlichen Freiheitswillen, als auch dem Bedürfnis nach Geselligkeit des Menshen entsprochen, er bildet die einzig wirkliche Form des demokratischen Zusammenlebens.


Aus der Werbung für das Buch "Die globale Verantwortung der USA" der Flensburger Hefte Verlag GmbH:
... Auseinandersetzungen um die Zukunft des globalen sozialen Organismus.

Freiwillige Unterwerfung
Aus Le Gun, Ursula K. (1976), "Planet der Habenichtse", Heyne Verlag in München (S. 156)
Es ist immer leichter, nicht für sich selbst denken zu müssen. Such dir eine hübsche, gesicherte Hierarchie und mach es dir darin gemütlich. Bloß keine Veränderungen machen, bloß keine Mißbilligung herausfordern, bloß nicht die Syndiks verärgern! Der bequemste Weg ist immer noch, sich ganz einfach regieren zu lassen.

Integration von Protest
Aus Johann Bauer, "Direkte gewaltfreie Aktion ...", in: Friedensforum 2/2008 (S. 41)
Politische Institutionen sind nicht neutral, für ein Ziel so geeignet wie für ein anderes. Sie selektieren. Sie belohnen die Anpassung, das Sich-Einlassen auf die vorgeschriebenen Regeln, dafür bilden sie allmählich den Berufspolitiker, in der Regel immer noch ein "großer Mann" und "Hoffnungsträger" heran. Sie stärken "ExpertInnen", Führergestalten und die Verrechtlichung und Bürokratisierung aller Lebensbereiche (das "Gehäuse der Hörigkeit").

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