Sand im Getriebe

PROPAGANDA, DISKURS, GEMEINWOHL: REGIEREN VON KOPF ZU KOPF

Wahrheit


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"Wahrheit läßt sich nicht zeigen, nur erfinden." (Max Frisch)

George Orwell hat in seinem Roman "1984" ein Wahrheitsministerium beschrieben, in dem die Geschichte offen sichtbar immer wieder den Interessen der Herrschenden angepasst wird. Wer sich von der jeweils geltenden Geschichte unterscheidet, wird von der Gedankenpolizei verfolgt. Dieses Bild einer bis in die Gedankenwelt hineinreichenden Herrschaft ist krass - und genau das macht den Roman eher untauglich, die Steuerung von Diskursen aufzudecken. Denn: Was in "1984" als Arbeitsplatz der Hauptfigur Winston Smith dargestellt wird, wird so niemals geschehen. Die dortigen Techniken der Beeinflussung von Normalität, Geschichtsauffassung, Mainstream, allgemeinen Auffassungen, öffentlicher Meinung usw. sind platt und auffällig. In der tatsächlichen Welt sind Diskurse und ihre Steuerung ein weit komplexerer Vorgang - viel weniger augenfällig, auch nicht von nur einer Stelle gezielt manipulierbar, aber doch so wirkmächtig, dass sie als prägende Herrschaftssäule verstanden werden können. Die Produktion von Wahrheit ist eine der Strategien von Diskurssteuerung - von der Geschichtsschreibung über wissenschaftliche "Erkenntnisse" bis zu den Vorurteilen über Menschen und die Welt.

Aus Rocker, Rudolf (1979, Nachdruck von 1923): "Über das Wesen des Föderalismus im Gegensatz zum Zentralismus", Verlag Freie Gesellschaft in Frankfurt (S. 4)
Ich bin sogar der ketzerischen Meinung, daß es keine absolute Wahrheit gibt, sondern, daß alles, was wir jeweilig als Wahrheit anerkennen, sich nach dem momentanen Stand unserer Erkenntnis richtet. Was heute wahr ist, morgen ist es vielleicht überlegbt, da unserer Erkenntnis weitere Perspektiven entstanden sind. Wir verwerfen alsdann das Irrtümliche und formulieren einen neuen Standpunkt, ohnebehaupten zu wollen, daß dieser neue Ausblick auf die Erscheinungen des Lebens ein Abschluß ist und daß nun alles erledigt sei. Nein, es liegt im Wesen unserer geistigen Entwicklung, daß ein endloses Vorwärtsstreben unter den Menschen vorhanden ist.

Wahrheitsliebe schafft den guten Herrscher
Aus Richter, Emanuel (2004): "Republikanische Politik", Rowohlt in Reinbek (S. 138)
Schon im antiken Republikanismus kommt ein Gespür für den Kompetenzvorsprung des professionellen Politikers auf. Cicero empfindet größte Hochachtung gegenüber Persönlichkeiten, die durch ausgefeilte Redekunst Zusammenhänge klar dazulegen und andere zu überzeugen vermögen (2001, Erstes Buch, S. 59). Der "Redner" ist immer auch ein rhetorischer Taktiker der auditiven Verführung, die ihm weit reichende Einflussmöglichkeiten verschafft, aber auch in die Amtsverfehlung abzugleiten droht: Wenn er sich in seiner herausragenden Funktion nicht inhaltlicher Wahrheit verpflichtet fühlt, wird er unversehens zum Demagogen. Für eine produktive Beförderung des Wohls aller sind also besondere persönliche Charaktermerkmale und Moralitätsressourcen erforderlich.

Aus Schmidt-Salomon, Michael, "Offenheit statt Offenbarung" (Quelle im Internet)
Ein Großteil der zahlreichen historisch wie in der Gegenwart festzustellenden Unmenschlichkeiten können nämlich verstanden werden als Epiphänomene einer fehlerhaften, meist unreflektierten, erkenntnistheoretischen Einschätzung: dem unter Religiösen aller Coleur anzutreffenden Irrglauben, im Besitz der absoluten, universell gültigen Wahrheit zu sein, oder genauer: im Besitz dieser Wahrheit sein zu können.
Die hier anzutreffende Konstruktion einer durch Offenbarung ermöglichten Schnittmenge zwischen der jenseitigen "Welt an sich" mit der diesseitigen "Welt des Menschen" war die epistemologische Ursache für millionenfaches Morden. Es gab in der Geschichte der Menschheit kaum eine Idee, die soviel Leid, soviel Elend provozierte, wie die religiöse Idee, daß absolute Wahrheit (Gott, Schicksal etc.) losgelöst vom Menschen existiere und per Offenbarung Auserwählten zuteil werden könne.
Denn Offenheit und Offenbarung schließen einander aus. Potente Offenbarungs-Religionen kennen - wenn man ihnen den Freiraum läßt - allzu häufig nur eine Maxime, den Umgang mit dem Andersdenkenden betreffend: Du wirst dran glauben - oder: Du wirst dran glauben! Eine Maxime, die nicht nur zur Zeit der Kreuzzüge brutal umgesetzt wurde. Anfang der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts mußten bekanntlich einige Hunderttausend Serben und Serbinnen "dran glauben", weil sie sich nicht zum Katholizismus bekehren lassen wollten. ...
Eine der größten und wichtigsten Leistungen der kritischen Vernunft ist die Erkenntnis des konstruktivistischen Charakters unserer Weltwahrnehmung und die damit verbundene Absage an den Olymp.
Die menschliche Vernunft ist bescheidener geworden. Sie behauptet nicht mehr, die Welt aus olympischer Perspektive erkennen zu können, sie weiß, daß sie dazu nicht in der Lage ist, weil sie selbst "die Welt" anthroporelational konstruiert.
Der Kern dieser Erkenntnis läßt sich in einem einzigen Satz ausdrücken, den zu beherzigen erste WeltbürgerInnen-Pflicht sein sollte:
Wir können die Welt nicht wahrnehmen, wie sie losgelöst von unserer Wahrnehmung existiert.
Wenn dieser Satz stimmt (und ich kenne keine vernünftige Widerlegung dieses Satzes), so heißt dies, daß der gesicherte Zugang zur "Welt an sich" (die Welt losgelöst von unserer Wahrnehmung) für alle Zeiten versperrt ist und daß die einzige Welt, über die wir gerechtfertigt verhandeln können, die "Welt des Menschen" ist, eine menschliche Konstruktion, von der wir nur wissen, daß sie sich in den Kämpfen der Evolution wohl als existentiell sinnvoll herausgestellt hat. Ob und inwieweit aber diese Konstruktion mit der "Welt an sich" übereinstimmt, läßt sich nicht entscheiden, weil wir als Menschen für diese Entscheidung keine Kriterien besitzen. ...
Die religiöse Reklamierung eines Anspruchs auf offenbarter "Welt an sich"-Wahrheit verstößt fundamental gegen dieses Grundprinzip des Diskurses, denn der religiöse Mensch benutzt im Gegensatz zum nichtreligiösen nicht nur Argumente, die in der "Welt des Menschen" beheimatet sind (die gegeneinander abgewogen und modifiziert werden können), er benutzt zudem noch Argumente, die ihrem Anspruch nach einer höheren Ebene angehören (die durch menschliche Argumente nicht aufgehoben werden können). Durch diese pseudotranszendentale Verstärkung seiner Argumente wird der religiöse Mensch argumentativ unangreifbar. Er steht über den Dingen, berichtet über höhere Einsichten. Konsequenz: Er überhöht sich selbst, übervorteilt und erniedrigt seine(n) nichtreligiöse(n) KommunikationspartnerIn, der/die in der Kommunikation nicht mit gezinkten Karten spielt.



Marx 1843/44, MEW 1/385
Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist ...

Im Original: Justiz als Wahrheitssetzung
Aus Kai Bammann, "Zur sozialen Konstruktion von Kriminalität und Strafrecht" in Forum Recht
Eine der bekanntesten und lange Zeit auch umstrittensten Kriminalitätstheorien ist der labeling (Etikettierungs-) Ansatz, der aus den USA kommend in den späten 60er Jahren von Fritz Sack in die deutsche Kriminologie eingeführt wurde. Der labeling-Ansatz weist deutliche Parallelen zu konstruktivistischen Ideen auf, auch wenn sich z.B. Hess und Scheerer in ihrer "konstruktivistischen Kriminalitätstheorie" sehr kritisch gegenüber dieser Theorie äußern. Sack geht davon aus, daß es so etwas wie "Kriminalität" objektiv nicht gibt, sondern es sich hierbei um einen Zuschreibungsprozeß handelt. Kriminalität wird als eine Art negatives Gut verstanden, daß ähnlich wie andere Güter (Besitz, Geld, Privilegien) verteilt wird. Niemand ist kriminell, sondern er oder sie wird von Dritten zu einem/ einer Kriminellen gemacht. Es handelt sich dabei um eine Interaktion zwischen dem als kriminell Begriffenen und den staatlichen Behörden. Die kriminologische Forschung hat hierbei besonders zwei Gruppen herausgegriffen: die Polizei, die selektiv ermittelt und damit schon durch ihre Ermittlungen bestimmt, wer in das Schema "kriminell" fällt und die Gerichte, die das Geschehen bewerten und letztenendes das Etikett "kriminell" vergeben. ...
Zusammengefasst läßt sich festhalten: der radikale Konstruktivismus geht davon aus, das es eine objektive Wirklichkeit nicht gibt. Alles, was der Mensch wahrnimmt und als "Wirklichkeit" versteht ist durch seine Wahrnehmung, seine Erfahrungen und seinen individuellen Hintergrund geprägt. Im sozialen Konstruktivismus/ Konstruktionismus (bekannt geworden vornehmlich durch Berger und Luckmann) geht man ebenfalls davon aus, daß es eine objektive Wirklichkeit nicht gibt. Hier ist es jedoch die Gesellschaft (also das soziale Umfeld) durch die eine kollektive Wirklichkeit erschaffen wird. Für die Kriminalität bedeutet dies : kriminell ist das, was wir mit unserer Wahrnehmung dazu machen (siehe dazu auch den Satz "nullum crimen sine lege" = kein Verbrechen ohne Gesetz). Es gibt keine Taten, die von vornherein als kriminell klassifiziert werden könnten, ja nicht einmal Taten, die grundsätzlich als "abweichend" zu gelten hätten. Wo es z.B. kein Eigentum gibt, ist es normal, einem anderen eine Sache "wegzunehmen", wenn man sie braucht, und sie sich dann wieder "wegnehmen" zu lassen. Das Etikett "kriminell" beinhaltet eine Wertung. Kriminalität ist (ebenso wie abweichendes Verhalten) etwas Schlechtes. Das Etikett dient dazu, die betroffene Person aus- und uns von ihr abzugrenzen. ...
Das Konzept der sozialen Konstruktion kann auch für die Kriminologie wertvolle Impulse geben. Recht ist ebenso wie die Kriminalität sozial konstruiert, d.h. von der Gesellschaft nach ihren Bedürfnissen (um nicht zu sagen: nach ihrem Bild) erschaffen.


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