Sand im Getriebe

MACHT NIX! ... ZEITUNG GEGEN WAHL, DEMOKRATIE UND HERRSCHAFT

Personale Verhältnisse werden zu Marktbeziehungen


1. Einleitung
2. Personale Verhältnisse werden zu Marktbeziehungen
3. Das klappt alles nicht: Diskursive Herrschaft
4. Aktuelle Herrschaftstheorien
5. Praxis: Ähm ... war da was?

Der Blick zurück in die Tiefen von Fürstentümern, Monarchien bis religiösen Regimes zeigen statt ökonomischen vor allem personale Herrschaftsbeziehungen. Die Mächtigen, ihre Clans und Dynastien unterwarfen die Menschen in ihren Ländern mit plumper Gewalt, trieben Steuern ein und sicherten ein Regime, in dem viele Menschen zum Eigentum wurden der Sklavenhalter, Lehnsherren, Fürsten und Militärbefehlshaber. Mit der Industrialisierung des 18. Jahrhunderts, für Teile der Bevölkerung schon vorher in den bürgerlichen Handelsstädten, begann die Veränderung hin zu marktförmigen Herrschaftsbeziehungen. Diese hätten sich niemals durchgesetzt ohne die personalen Bedingungen, die den Menschen immer mehr den Zugriff auf selbstbestimmtes Leben nahmen. Eigentum wurde akkumuliert, d.h. immer weniger Einheiten (Menschen, Betriebe, Staat) hatten immer mehr Zugriff auf Land, Rohstoffe und Maschinen. Den vielen Menschen wurde die Möglichkeit zum selbständigen Leben genommen mit der Folge, dass sie das Angebot der Massen-Arbeitsplätze und fremdbestimmter Tätigkeit annehmen mussten. Marktförmige Herrschaft funktioniert über die personal hergestellte Alternativlosigkeit zum Markt. Die personale Herrschaft blieb, übte oft sogar direkten Zwang zur Aufnahme von Arbeit aus. Sie organisierte sich mit dem Aufkommen des Kapitalismus mehr und mehr als moderner Nationalstaat in demokratischer Verfassung dar.

Kritik am Kapitalverhältnis
Mit dem Zwang zur massenhaften Ver-Arbeitung vieler Menschen endeten zwar personale Machtverhältnisse nicht - zum einen wurde der Zwang zur Unterwerfung unter Arbeitsverhältnisse ja personal durchgesetzt (siehe oben), zum anderen bestand er weiter im Verhältnis von Obrigkeit zu Mensch (Justiz, Polizei, Ämter ...), innerhalb vieler Gruppen sowie in der Organisierung von Alltagsverhältnissen z.B. vom erwerbstätigen Mann zum abhängigen Rest der Familie, von Erwachsenen zu Kindern sowie in rassistischer und Behinderungs-Diskriminierung. Dennoch wurde das Lohnabhängigkeitsverhältnis als zentral gesehen, weil es deutlich mehr als die anderen auch öffentlich sichtbar gemacht und diskutiert wurde. Arbeitskämpfe erzeugten weit mehr Aufmerksamkeit als die Kämpfe um Rechte oder gar Befreiung von Frauen, Nichtangehörigen des jeweiligen Staates oder sog. Minderjährigen.

Daraus entwickelte sich eine einseitige Wahrnehmung von Herrschaftsverhältnissen. Der Kapitalismus bzw. noch enger das Kapitalverhältnis, also die Akkumulation von Kapital (Land, Rohstoffe, Maschinen, Geld) bei wenigen und ökonomische Abhängigkeit bei vielen, wurde als zentrale Unterdrückungsform beschrieben. Würde sie überwunden, entstünde umfassende menschliche Befreiung. Die wichtigsten Werke dieser Debatte finden sich bei Marx/Engels sowie in den Schriften damals lebender TheoretikerInnen des Anarchismus - wobei die AnhängerInnen von Marx mehr der Idee anhingen, den Staat zu funktionalisieren, während AnarchistInnen meist die Zerschlagen desselben anstrebten.
Kapitalismus als Hauptwiderspruch ist bis heute in marxistischen Kreisen gut verbreitet (siehe aktuelle Texte z.B. von Jürgen Elsässer in Konkret oder aus kommunistischen Parteien). Und er lebt neu auf in den staatstreuen Massenorganisationen der Neuzeit von Attac über marxistische, z.B. trotzkistische Gruppen, die mit der Reduzierung an ökonomischen Details zwar nicht einmal mehr den Kapitalismus kritisieren, aber das Leben auf die Kapitalverhältnisse reduzieren. Kein Wunder, daß die meisten MarxistInnen Attac lieben ... sie halten sich halt beide am Emblem von Attac auf: Politik - jetzt noch mehr reduziert!

Haupt-Widerspruch in Mode
Die Idee des Hauptwiderspruchs Kapitalismus war auffällig verkürzt. Ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse in Massen gab es erst sei wenigen Jahrzehnten - Herrschaft und Unterdrückung war jedoch viel älter, Umweltzerstörung auch. Die Mobilisierung von Arbeitskraft in Massen brachte zwar einen erheblichen "Fortschritt" gerichteter (also nicht individueller bis selbstbestimmter) Produktivkraft, jedoch hat der Kapitalismus Herrschaft nicht erfunden, sondern gewandelt bzw. erweitert. Das wiederum klagten zurecht andere Zusammenhänge ein. Es dauerte aber lange, bis sie auch massenwirksam wurden - z.B. die Frauenbewegung im Zuge der zunächst vollständig, dann weiter überwiegend männerdominierten und hauptwiderspruchsorientierten 68er-Bewegung. Antirassistische Projekte entstanden auf breiter Ebene noch später.
Aufgrund ebenso verkürzter Analyse sowie des Gegensatzes zur Hauptrichtung politischer Arbeit, die im Kapitalismus den Hauptfeind sah, wurden in den neueren Zusammenhängen jeweils andere Themen zum Hauptwiderspruch. Nun war plötzlich das Patriarchat die Ausgangsform aller Herrschaft usw. - folglich mußte die Herrschaft der Männer als erstes abgebaut werden. Egal wie: Mit härteren Strafen, mehr Staat oder Armeen. Gegen den Rassismus war auch jedes Mittel recht - mehr Polizei, Knast usw. Letztlich war es immer der Staat und dessen personalen Herrschaftslogiken, die als große Hoffnung am Himmel linker (Nicht-)Visionen zu sehen waren ... als wäre das alles nicht schon mal dagewesen sowie ständig auch weiter gültig als Teil von Herrschaft.

Vorläufige Einigung: "triple oppression"
Zwischen den AnhängerInnen der verschiedenen Richtungen tobte der Streit - bis ein Teil eine vorläufige Einigung fand. Die drei Haupt-Widersprüche, die bis zu diesem Zeitpunkt "erfunden" waren, wurden einfach alle drei als gültig anerkannt. Sie bestanden so nebeneinander her und wer von zwei oder gar drei dieser betroffen war (arme, dunkelhäutige Frau) hatte es am schlechtesten. Das war einfach. Die psychiatrisierten Menschen, Kinder und Jugendliche und andere Unterdrückungsverhältnisse blieben außen vor - für sie gab es in der "Linken" keine Lobby, z.T. nicht einmal ein Fremdwort! Insofern war die "triple oppression" eher ein Bündnis als eine Herrschaftsanalyse. Typisch dafür waren die Organisierungsversuche Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre, z.B. das als Abspaltung aus der ÖkoLi-Gründung entstandene Bundestreffen von Basisgruppen und Einzelpersonen.

Neue Kritik und "unity of oppression"
Die Kritik an der plumpen Summierung kam dann aus unvorhergesehener Ecke. Viele TierrechtlerInnen machten sich über die verkürzte Herrschaftstheorie her, übersahen weiter Kinder, Psychiatrisierte usw. und entdeckten die Tiere als unterdrückte Gruppe. Speziezismus nannte sie ihre Theorie der Unterdrückung von nichtmenschlichen Arten, "unity of oppression" die neue wirre Analyse von Herrschaftsverhältnissen. Die Kritik an der Ausbeutung von Tieren ist wichtig und in jedem Fall zulässig als gesellschaftlicher Kampf, die Herrschaftsmechanismen jedoch sind grundsätzlich nicht vergleichbar - schließlich geht es bei der Unterdrückung von Menschen um eine Zurichtung auf Rollen innerhalb der Gesellschaft, die als herrschaftsfreie Alternative aus "Freien Kooperationen" bzw. "Freien Vereinbarungen" der Menschen bestehen könnte. Hunde, Katzen, Kühe und Nashornkäfer werden dagegen niemals an dieser Debatte teilnehmen.
Daher ist die Herrschaft über Tiere zwar da, aber eine grundsätzlich andere - eine "unity of oppression" vermenschlichte somit die Tiere (oder machte Menschen zu Tieren). Biologismus war in Tierrechtskreisen lange Zeit sehr prägend und wird auch heute noch von wichtigen TheoretikerInnen vertreten (z.B. im deutschsprachigen Raum von Helmut F. Kaplan in verschiedenen Bücher und der "tierbefreiung aktuell").

Und ganz brandheiß: Der vierte Haupt-Widerspruch
Während zunehmend grundlegendere Herrschaftsanalysen erschienen, erfand eine recht neu entstandene Gruppe einen neuen Hauptwiderspruch, der als Unterdrückungsform bekannt und sich als besonderer Schrecken durch die Geschichte zog: Antisemitismus. Hauptwiderspruch war der noch nie und es bedurfte auch etlicher Verrenkungen, bis die nach dem 11. September 2001 schlagartig wachsende Gruppe frustrierter Alt-Antifas und Umfeld eine Theorie entwickelte, die sogar ausreichte, um weltweit Kriege, Vertreibung, Grenzabschottungen usw. zu begründen. Alles wurde plötzlich auf den Judenhaß reduziert, der von den Antideutschen in allem gefunden wurde, was sich regte. Wer Fensterscheiben von Banken klirren ließ oder vegan leben wollte - alles waren Antisemiten, weil ihre Angriffsziele Symbole des Judentums waren, direkt oder indirekt. Und Deutschland war die schlimmste Nation (was aus anderen Gründen durchaus zutreffen mag), weil es den AmerikanerInnen (gemeint war die US-Regierung, aber Differenzierung paßt nicht zur Hauptwiderspruchslogik) nicht komplett loyal zur Seite steht und darauf spekuliert, zusammen mit den arabischen Ländern die Weltherrschaft zu erobern, die USA zurückzudrängen und Israel zu vernichten (Belege für diese Thesen fehlen erwartungsgemäß immer, umso militaristischer ist der Tonfall).

Daß Antisemitismus dauerhaft und überall vorkommt, ist unbestritten, aber als alleiniger Erklärungsansatz für Herrschaftsverhältnisse taugt er nicht.


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