Sand im Getriebe

ALTERNATIVEN ZU KNAST UND STRAFE

Alles beenden, was Herrschaft und gewaltförmiges Verhalten fördert


1. Sinn und Unsinn von Strafe
2. Alles beenden, was Herrschaft und gewaltförmiges Verhalten fördert
3. Streit und Konflikte offensiv organisieren - Gewalt abbauen statt bestrafen
4. Herrschaftsfreie Gesellschaft
5. Auf dem Weg ...

Knast und Strafe sind nicht die Einzigen, die gewaltförmiges Verhalten fördern. Die Menge gesellschaftlicher Strukturen, auf die das zutrifft, ist sehr groß. Genau darin liegt aber eine Hoffnung, denn die Herausnahme solcher Mechanismen kann bedeutende Verbesserungen schaffen. Experimente gesamtgesellschaftlicher Art hat es dazu noch nicht gegeben oder sie sind nicht überliefert. Allerdings spricht die Beobachtung im Kleinen dafür, dass gewaltförmiges Verhalten dort nachlässt, wo Autorität herausgenommen wird. Das würde Veränderungen in vielen Bereichen sinnvoll machen, darunter die im Folgenden genannten.

Lernen und Aufwachsen in Zwangsstrukturen
Schule, Universität, aber auch Familien, Kindergärten usw. sind durchzogen von autoritären Strukturen und Verhaltensweisen. Kinder wachsen in einer von Zwängen und Verhaltensregelungen durchzogenen Welt auf. Zudem werden sie fast permanent mit direkter Gewalt und anderen Maßregelungen bedroht oder müssen diese tatsächlich erleiden. In diesen Strukturen ist es subjektiv funktional, selber die Ellbogen auszufahren und sich verbal oder unter Einsatz körperlicher Gewalt durchzusetzen. Die Auflösung von Zwangsstrukturen einschließlich der Zwänge aufgrund der Ausweglosigkeit aus der konkreten Familie, Schule usw. stellt ein ungeheures Potential zur Überwindung autoritärer Orientierung von Menschen dar. Wenn Kinder in offenen, nicht herrschafts- und gewaltförmigen Milieus aufwachsen, die Alternativen dazu als Alltag erleben und erlernen, kann sich viel verändern und neu einüben im zwischenmenschlichen Umgang.

Ehen und isolierte Zwangs-Zweierbeziehung
Viele Gewalttaten, vor allem ihre extremen Formen (Vergewaltigung, Körperverletzung, Totschlag oder Mord) geschehen in Ehen oder eheähnlichen Beziehungen. Gründe sind u.a. die Isolierung vieler Zweierbeziehungen aus dem sozialen Umfeld, so dass Interventionen und Reflexionen kaum mehr möglich sind. Zudem gibt es eine starke formalisierte Bindung, d.h. das Herauslösen ist schwierig und wirkt bisweilen unmöglich. Dadurch verzögern sich Trennungsprozesse, PartnerInnen bleiben länger zusammen als sie sozial durchstehen können. Unterdrückungsverhältnisse oder Frustration eskalieren - sei es in Form der gewaltförmigen Fortsetzung der Unterdrückung oder ebensolcher Befreiungsversuche aus der Unterdrückung und Perspektivlosigkeit. Die Auflösung formalisierter Beziehungen könnte einen großen Teil dieser Konflikte verhindern helfen. Noch stärker würde die Ent-Isolierung wirken, wenn Menschen sich nicht nur auf einen Menschen konzentrieren, sondern ihre Träume, Wünsche und Frustrationen mit vielen austauschen. Offene Netzwerke6 sozialer und persönlicher Beziehungen, in denen die Einzelnen sich gegenseitig unterstützen und aufeinander achten, verbessern die Rahmenbedingungen, um mit Gewalt oder Diskriminierung umzugehen und diese abzubauen.

Polizei
Strafe und Knast verstärken die Neigung zu gewaltförmigen Verhaltensweisen. Dazu gehört auch die Polizei, denn Kontrollen, Hausdurchsuchungen und polizeiliche Inhaftierungen gehören zum Komplex der Strafe. Zudem ist die Polizei selbst der gewalttätigste Teil der Gesellschaft. Nirgendwo anders werden so oft Menschen gefesselt, zu Boden geworfen, ihrer Freiheit beraubt, körperlichem Zwang ausgesetzt, geschlagen mit Faust oder Knüppel, mit Tränengas beschossen oder mit Wasserdruck weggeschleudert wie bei Einsätzen der Polizei. Was ansonsten als „gefährliche Körperverletzung“ mit heftigen Strafen (Schlagen mit einem Knüppel) gelten würde, ist seitens der Polizei eine akzeptierte, durchschnittliche Verhaltensweise. Das Wissen um die Straffreiheit beruflich ausgeübter Gewalt, die Bevorzugung von PolizistInnen als ZeugInnen vor Gericht und der interne Druck einer männlich-mackerig orientierten Sozialisierung in der Polizeitruppe senkt bei PolizeibeamtInnen die Hemmschwelle zur Ausübung direkter Gewalt zusätzlich.

Verantwortung abschieben
Die Existenz der Polizei wirkt aber noch darüber hinaus. Sie hat eine StellvertreterInnenrolle, d.h. Menschen neigen durch das Wissen um die dafür zuständige Polizei weniger zu eigener Intervention im Alltag. Das im bürgerlichen Sprachgebrauch als „Zivilcourage“ bezeichnete Eingreifen zugunsten angegriffener Menschen unterbleibt heute fast immer und überall. Die offiziellen Verfolgungsbehörden sind nicht der einzige, aber ein Grund dafür. Die Auflösung der Polizei und das offensive Diskutieren von Interventionsmöglichkeiten Einzelner können daher einen durch die Sensibilität vieler geschützten öffentlichen Raum schaffen.

Eigentum und Reichtumsunterschiede
Die meisten Straftaten dienen der Aneignung des Eigentums anderer. In vielen Fällen steckt dahinter eine tatsächliche oder zumindest empfundene materielle Not oder der Neid auf den Besitz anderer. Viele Diebstähle und Einbrüche sind Umverteilungen von Orten des Reichtums zu deutlich ärmeren Menschen - das gilt selbst für professionelle Banden, die in Kaufhäusern stehlen und das Diebesgut in ärmeren Schichten oder Ländern verkaufen. Raub7 und Raubmord sind dabei sehr selten.8 Sie stellen die einzigen Formen gewaltförmiger Straftaten in diesem Sektor dar. Die Verringerung von Reichtumsunterschieden bis hin zur Utopie einer Gesellschaft ohne Eigentum und mit gleichberechtigtem Zugriff auf alle materiellen Ressourcen bietet große Chancen, den bedeutendsten Teil von Straftaten schlicht überflüssig zu machen. Da Diebstähle und Einbrüche die klassische Einstiegskriminalität sind und aufgrund der dann einsetzenden Kriminalisierung die Neigung zu „härteren“ Straftaten wie auch Gewaltdelikten wächst, kommt der Überwindung von Reichtumsunterschieden eine zentrale Bedeutung hin zu einem gewaltfreieren Miteinander der Menschen zu.

Aus Helga Cremer-Schäfer/Heinz Schäfer (1998), "Straflust und Repression" (S. 45)
Es gibt noch eine abstraktere Ebene, auf der durch die kulturelle Bedeutung von "Verbrechen & Strafe" die Beziehungen zwischen Reich und Arm bestimmt werden. Dieses Stück Ideologie ist unabhängig von dem Schaden, der bei Ereignissen, die als "Verbrechen" kategorisiert werden, entstehen mag, unabhängig auch vom Inhalt der Verbote und der angedrohten Bestrafungen. Diese Bestimmung ergibt sich aus den formalen Qualitäten von "Verbrechen & Strafe": daraus nämlich, dass diese Kategorie pesonalisiert angewendet wird und in der Hauptsache sich auf Handlungen und Situationen bezieht, die typisch für die Lebenssituation der Unterschicht sind und unter diesen Unterschicht-Bedingungen leichter überwacht werden können. Nach diesen formalen Eigenschaften können nur Personen Schaden verursachen und müssen Personen daran gehindert werden, Schaden zu stiften; und es sind hauptsächlich Personen der Unterschicht, die solche Schadeshandlungen begehen - wie man ja auch jeder Statistik der Verurteilten und vor allem der Eingesperrten (sofern sie Informationen über den Berufs- und sonstigen Status enthalten) entnehmen kann. Wovor "wir" uns fürchten müssen, das sind junge Männer, Unterschichtmänner, ausländische Männer, besonders aber die Kombination dieser drei. Dementsprechend muss mann sich nicht um soziale Strukturen kümmern, von denen Schaden angerichtet werden könnte, dementsprechend brauchen wir keinen Verdacht gegen die Reichen und Mächtigen haben, und am wenigsten gegen die Kombination beider: gegen mächtige Organisationen.

Aus Georg Rusche (1933), "Arbeitsmarkt und Strafvollzug: Gedanken zur Soziologie der Strafjustiz" (S. 305)
Die Geschichte des Sterafwesens ist mehr als eine Geschichte der vermeintlichen Eigenentwicklung irgendwelcher rechtlichen 'Institutionen'. Sie ist die Geschichte der Beziehungen der 'zwei Nationen', wie sie Disraeli nannte, aus denen sich die Völker zusammensetzen, der Reichen und der Armen.

Patriarchale Rollenverteilung und -erwartungen
Die aktuelle Gesellschaft ist durchzogen von einer Vielzahl von Rollen und Erwartungen, die Menschen erfüllen sollen. Zentral wirksam ist die patriarchale Zurichtung auf die sozialen Geschlechter Mann und Frau. Die in den verschiedenen Rollentypen verankerten Verhaltensweisen wirken einer Gleichberechtigung entgegen und fördern auf vielfache Art herrschafts- und oft auch gewaltförmiges Verhalten. So werden Männer tendenziell zu kämpferischer Härte bis Mackerigkeit erzogen - von Eltern, im Freundeskreis, über die in Medien vermittelten Bilder, Vorbilder usw. Gleichzeitig ist die Rolle der Frau festgelegt auf eine tendenziell unterwürfige, dienende Logik. Das fördert Gewalt, zunächst von Seiten der Männer gegen Frauen, aber auch umgekehrt als Akzeptanz von Gewalt und in letzter Konsequenz als verzweifelter Befreiungsversuch gegen die patriarchale Unterdrückung.

Institutionen und kollektive Identitäten
Die höchste Gewaltbereitschaft ist da, wo Menschen institutionell in extrem autoritäre, militärische Strukturen eingebunden sind und Gewalt rechtlich abgesichert ist oder gesellschaftliche akzeptiert ist durch rassistische oder sexistische Diskurse. Das gilt innerhalb von Polizei- oder Militärapparaten, aber auch in faschistischen Zusammenschlüssen oder Hooligan-Cliquen. Befehlstrukturen oder kollektive Identitäten, die Herausbildung eines Mobs bzw. einer amorphen Masse, welche beide zur Ausschaltung von Individualität und Selbstreflexion führen, fördern Gewalttätigkeit und Brutalität. Gruppenzwang und Druck zur Anpassung führen häufig dazu, dass auch diejenigen bei der Ausübung von Gewalt mitmachen, welche diese falsch finden oder selber zu gewaltfreien Konfliktlösungsstrategien neigen würden. Verstärkt wird dies insbesondere durch die Möglichkeit, aus der Anonymität der Masse heraus agieren zu können wie bei uniformierten PolizistInnen oder vollmaskierten Nazis. Auch bei vermummten Autonomen sind ähnliche Tendenzen spürbar, wenn diese als Kollektiv oder amorphe Masse handeln.9 Rassistische Pogrome sind ein extremes Beispiel, zu was Menschen fähig sind, wenn ein Mob entsteht, in dem Nazis und jubelnde BürgerInnen zusammen agieren, d.h. kollektive Identitäten sich mit rechten Ideologien und breiter gesellschaftlicher Akzeptanz für Gewalt gegen Schwächere paart. Daher ist der Bruch mit kollektiven Identitäten, in denen die Einzelnen nicht mehr als Individuum handeln, ein wichtiger Bestandteil emanzipatorischer Politik und unbedingte Grundlage emanzipatorischer Organisierungsformen, die leider in vielen Fällen nicht beachtet wird.

Normierung des Konsums
Zu den vielen Normierungen des Alltags gehört die Festlegung legaler und illegaler Genussmittel. Das Betäubungsmittelgesetz verbietet einige sogenannte Drogen, während andere wie Koffein (zur Leistungssteigerung vor und während der Arbeit) und Alkohol (zur anschließenden Betäubung der Entbehrungen im Arbeitsalltag?) erlaubt sind. Diese nach Herrschaftsinteressen orientierte Strafbewährung ausgewählten Konsums fördert gewaltförmiges Verhalten zum einen darüber, dass Drogendelikte für viele der Einstieg in den Gewalt fördernden Straf- und Knastalltag sind. Zum anderen führt die Illegalisierung der Drogen zu Einschränkungen bei der Beschaffung, die wiederum die soziale Organisierung selbiger verändern, so dass Kommunikation und Gleichberechtigung zurückgehen, während Dominanz und Durchsetzungsfähigkeit gefördert werden. Alle Strafparagraphen bezüglich Drogenkonsum sind daher aufzuheben.

Grenzen und Ausländer*innenrecht
Etliche Gesetze und Sicherheitsregimes führen sehr direkt zur Kriminalisierung von Menschen. Sie leiten daher Karrieren unter dem Banner von Strafe und Knast ein. Hierzu gehören die Grenzregimes der Nationalstaaten und die speziellen AusländerInnengesetze, die die freie Bewegung und den Zugang zu überlebenswichtigen Ressourcen von den betroffenen Menschen abschneiden. Es ist daher kein Wunder, dass sich viele illegal bewegen und versorgen. Das bringt sie unter Strafe, wodurch der Teufelskreis der Kriminalisierung und oft auch zunehmenden Neigung zu Gewalt beginnt. Nicht die Menschen, sondern das AusländerInnenrecht sowie die unmenschlichen Grenzen sind der Grund für einen Teil der Gewalt in der Gesellschaft. Wer mit Kriminalitätsstatistiken Nicht-Deutsche diffamiert, übersieht diesen Zusammenhang und macht aus den Opfern TäterInnen - meist bewusst und gezielt, um die ohnehin Ausgegrenzten noch weiter zu kriminalisieren und von den Widerlichkeiten des Rechtsstaats abzulenken. Grenzen und AusländerInnenrecht werden in einer straffreien Utopie fehlen und sollten auch in der jetzigen Gesellschaft möglichst schnell überwunden werden.

Obrigkeit und Staat
Ein großer Teil der Strafgesetze schützt den Staat, seine Symbole, Geheimnisse und AmtsträgerInnen. Dadurch geraten viele kritische Menschen in die Mühlen der Justiz, wo sie der Beeinflussung hin zu mehr gewaltförmigen Verhaltensweisen unterworfen werden. Der Staat hat aus herrschaftskritischer Perspektive keinen Selbstzweck. In einer herrschaftsfreien Utopie gibt es ihn nicht. Auf dem Weg dahin sind alle Handlungen gegen die Strukturen und Symbole des Staates straffrei zu stellen. AmtsträgerInnen sind wie alle Menschen vor Gewalt zu schützen, jedoch sollte es keine strafrechtlichen Privilegien geben.

Propaganda, Neid und Hass
Schließlich wird Gewalt gefördert durch eine Propaganda, die Menschen gegeneinander aufhetzt - seien es sozial („Schmarotzer“, „Penner“ usw.) oder nach sog. Ethnien konstruierte Gruppen („Ausländer raus“ usw.). Berichte von sich bereichernden, gewalttätigen oder gierigen Menschen in Zusammenhang mit deren Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen oder Nationalitäten zu stellen, fördert Hass und Neid, die schnell in Gewalttätigkeit umschlagen können. Dabei stellen Nationalität oder gar „Rasse“ soziale Konstruktionen dar, die durch beständige Zuschreibungen scheinbar einheitliche Gruppen erfinden, auf die Unmut und Hass projiziert werden10. In einer herrschaftsfreien Gesellschaft gibt es keine Nationen, abgrenzbaren Ethnien und Reichtumsunterschiede. Bis dahin sollte Aufklärung an die Stelle von Hetze und Verklärung treten.

Aus Helga Cremer-Schäfer/Heinz Schäfer (1998), "Straflust und Repression" (S. 27)
Notwendig ist stattdessen Gemeinwesenarbeit, Konfliktregelung, Planungsbeteiligung, dahinter Wohnungs- und Sozialpolitik und schließlich auch eine Einwanderungspolitik, wie man in Deutschland dazu erwähnen muss, dem Staat, in dem die real stattfindende und aus vielen Gründen notwendige Einwanderung immer noch geleugnet wird.

Auf dem Weg in eine straffreie Welt überwindet Emanzipation in den genannten und weiteren Feldern einen erheblichen Anteil an den Ursachen von Gewalt zwischen Menschen. Das genau ist das Ziel. Die Zahl von Gewalttätigkeiten wird durch die Veränderungen erheblich zurückgehen. Daraus folgt, dass eine straf- und herrschaftsfreie Gesellschaft selbst dann schon als sinnvoll erscheint, wenn keine Alternative zu Strafe entwickelt ist. Für die verbleibende Menge gilt dann, dass eine weitere Verringerung und der Umgang mit den noch geschehenden Gewalttaten durch direkte und soziale Intervention erfolgt.

Ständig weiter: Immer wieder genau hingucken!
Die beschriebenen Faktoren der Förderung gewaltförmigen Verhaltens stellen keine vollständige Liste dar. Vielmehr ist wichtig, ständig darauf zu achten, wo Logiken und Strukturen verbleiben, die Gewalt oder ihre Ursachen fördern. Sie zu entdecken, zu demaskieren und dann zu überwinden, ist ein ständiges Projekt in der Dynamik einer straffreien Welt inklusive des Weges dahin.

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