Laienverteidigung

BLICKE VOR UND HINTER DIE KULISSEN: WIE SIEHT DIE PRAXIS DER ANARCHISTINNEN AUS?

Anarchistische Aktion


1. Einleitung
2. Anarchistische Aktion
3. Anarchistische Organisierung
4. Projekte und Keimzellen
5. Wir sind gut, weil alt - Anarchie als Selbstzweck

Beginnen wir mit dem, was AnarchistInnen am bekanntesten macht: Ihre Aktionen. Das Primat der "Propaganda der Tat" ist tief verwurzelt und traditionell verfestigt. Das Zerrbild des/der unerschrockenen KämpferIn, des gefürchteten Guerrilleros oder des geschickten Hackers prägen die Wahrnehmung auch in den Träumen derer, für die Anarchie der Inbegriff von Abenteuer als Ausbruch aus einem als trist empfundenen Alltag darstellt. Es taucht auf Plakaten und in Comics auf, sei es das verwegene Anarcho-Männchen mit Bart, Hut und Bombe oder der gestählte Männer- bzw. Frauenkörper im Einsatz gegen das Böse in Form von Nazis oder KapitalistInnen. James Bond und Rambo lassen grüßen.
Mit der Realität hat diese Projektion, die sowohl unter bürgerlichen AnarchiehasserInnen als auch in anarchistischen Cliquen selbst geschürt wird, wenig zu tun. Zwar sind anarchistische Strömungen bei spektakulären Aktionen oft dabei, aber praktische Bedeutung haben solche Auseinandersetzungen kaum im Leben der AktivistInnen. Ob militanter Angriff oder gewaltfreie Massenblockade - es ist wie der Urlaub auf Mallorca ein Event, dass zum tristen Alltag den Gegenpol bildet. Langfristige Kampagnen oder kontinuierliche Projekte sind eher die Ausnahme.

Event-Hopping
So sicher, wie zu bestimmten und in der Regel vorhersehbaren Ereignissen große Menschenmengen bewegt werden, so wahrscheinlich ist ihr Fehlen dort, wo kein Hype entsteht. Massen stemmen sich dem Castor im Wendland (und z.T. auch anderswo) entgegen - aber die Energiepolitik vor Ort findet in den Büros von Verwaltungen und Geldanlagefirmen statt. 23.000 demonstrieren im Januar 2012 für eine andere Landwirtschaftspolitik, nur knapp 100 stürmten 2007 und 2008 als gemeinsames Gendreck-weg-Event je ein Feld des bösen US-Konzerns Monsanto, aber an den deutschen Versuchshochburgen, wo die neuen Pflanzen und Methoden entwickelt werden, regt sich kaum Protest. Wenn Deutschland neue Kriege anzettelt, gehen Tausende auf die Straße. Aber der Alltag von Bundeswehr, Besatzungspolitik unter humanitärem Schein, Rüstungsexporte und mehr interessieren nur Wenige. Das läuft in der gesamten Breite von Bewegung so - und ist auch gar nicht anders vorstellbar, solange Menschen eingebunden sind in die Zwänge des Alltags, in die Notwendigkeit, ihr Leben durch Verkauf der Arbeitskraft zu sichern und dafür im Zweifel auch die Klappe mehr zu halten als gut wäre.
Das anarchistische "Lager" ist hier kaum anders aufgestellt. Es lebt von den Einzelmobilisierungen zu Großevents. Nur sehr wenige dauerhafte Projekte, Zeitschriften und Verlage prägen die Landschaft, gestützt auf (Teil-)Hauptamtlichkeit. Immerhin ein Stück weit Kampagnenfähigkeit zeigte z.B. die FAU im Zusammenhang mit dem "strike-bike", einem Fahrrad aus einer Fahrradfabrik, die für einige Zeit selbstverwaltet weitergeführt wurde, als der Bankrott drohte (und schließlich auch kam). Doch das war eher die Ausnahme von der Regel.

Wenig Aktionen mit Willen, die Änderung auch durchzusetzen
Geht mensch vom Anspruch anarchistischer Aktion aus, nicht durch Anrufung der Mächtigen deren Rolle noch zu legitimieren, sondern die Dinge direkt zu ändern, so enttäuschen die meisten Handlungen. Für die aus dem Spektrum der mit dem Label "gewaltfrei" agierenden Gruppen organisierten Menschenketten gilt das in extremer Weise, weil kaum noch Aktionen stattfinden, die eine eigene direkte Handlung wenigstens symbolisiert, z.B. die Einschließung einer Kaserne, eines Atomkraftwerkes oder anderer Konfliktpunkte. Im Vordergrund steht seit Langem die Erzeugung telegener Hintergrundbilder, die eigene SprecherInnen und die Kontonummer durch bunt-harmlose Massenaufläufe. Damit das Ganze reibungslos gelingt, wird schon mal die Vorabsprache mit denen gesucht, gegen die sich scheinbar die Aktion richtet - so z.B. 2003 bei einem Spektakel vor einem Eingang der Rhein-Main-Airbase der US-Luftwaffe, das aber mit den Militärs abgesprochen war, um diese nicht wirklich zu stören. Wenn dann noch führende Politiker, wie SPD- und Grünenchef bei der Anti-Atom-Menschenkette auf den Elbedeichen, mit in der Händchen-halt-Reihe stehen, ist die Grenze zum reinen Wohlfühlevent überschritten. Dieses steht dann konkurrierend zu konkreten Formen von Protest, denn gefühlter Widerstand kann den Wunsch nach konkreter Veränderung zurückdrängen: Spenden, Klicks und Händchenhalten als moderner Ablasshandel.

Da gilt ebenso für viele militante Aktionen. Steinwürfe in Schaufenster wirken zwar mitunter entschlossen, folgen aber eher ohnmächtig und ziellos einem platten, Männlichkeit ausstrahlenden Gewaltfetisch. Ein direktes Signal, dass irgend etwas beendet oder selbst geschaffen werden soll, geht von einem botschaftslosen Stein nicht aus. Das liegt nicht am Steinewerfen selbst. Sehr wohl können Steinwürfe gezielt, gut überlegt und Botschaften vermittelnd sein. Leider aber überwiegt der Militanzfetisch in Form ritualisierter Gewaltausbrüche in Verbindung mit fehlenden Inhalten oder platte Parolen.
Selbst der Versuch, politische Treffen zu verhindern, ist wieder außer Mode gekommen. Zwar ist richtig, dass sich ein Erfolg wie in Seattle 1999 angesichts der riesigen Ressourcen staatlicher Strukturen nicht einfach wiederholen lässt, doch die Suche danach ersatzlos aufzugeben, um sich dann zehn Jahre später nur noch auf appellative Formen wie Menschenketten zu beschränken, ist enttäuschend. Zumal selbst das nur auf wenigen Events gelingt, während z.B. die Millionen alltäglicher Treffen, Partei- und Konzernsitzungen, Gerichtsprozesse usw. unangetastet bleiben.
In der Unterscheidung zwischen Protest und Widerstand, wie in z.B. Ulrike Meinhof vornahm, ist anarchistische Aktion in der Regel "nur" Protest - und liegt damit im Trend fast aller politischer Handlungen im deutschsprachigen Raum. Dort dominiert organisierte Harmlosigkeit verbunden mit hohem Spendenaufkommen, Medienpräsenz und Schaffung hauptamtlich geführter Apparate.

Einheitlich ist das Bild aber nicht. Etliche Ausnahmen bestimmen das Bild so, dass mensch darin auch mehr, also doch eine Kontinuität von direkten Aktionen erblicken kann.

  • Die Serie von Besetzungen aus dem Spektrum unabhängiger AktivistInnen, sei es auf Genfeldern (2007 bis 2009), auf Großbaustellen (2008 und 2009) oder solchen von Tierlaboren und -mastanlagen (2009 und 2010) sind direkte Aktionen, die in einigen Fällen verhindert haben, gegen was sie sich richteten.
  • Der Widerstand gegen Castortransporte zielt zumindest als Versuch darauf ab, den Transport auch tatsächlich zu stoppen. Das trifft für Blockaden ebenso zu wie für Großaktionen, wie es mit dem "Castor schottern" dank freundlicher Unterstützung der hysterischen Justiz recht bekannt wurde. Die Kritik an den hierarchischen Organisierungsformen ändert nichts daran, dass es sich um eine direkte Aktion handelte, die also nicht an irgendwelche Mächtigen appellierte und deren Handeln damit legitimierte.
  • Die Firmenübernahme und die Produktion des "strike-bike" war ein schönes, aber seltenes Ereignis, die Abläufe selbst in die Hand zu nehmen, statt in Streiks oder noch niedrigschwelligeren Handlungen an die BetriebsinhaberInnen zu appellieren, ein bisschen freundlicher zu sein.
  • Kleine Versuche im und für den Alltag ergänzen das Spektrum - von der Fibel mit Tipps zum Blaumachen bis zum Reader über Dominanzabbau oder über Selbstorganisierung.

Trotz dieser Beispiele ist der deutschsprachige Raum recht leer an direkter Aktion. Das ist aber kein auf diese Region beschränktes Phänomen, sondern zumindest in Mittel-, Nord- und teilweise Osteuropa sehr verbreitet. Historisch fehlen hier Revolutionen weitgehend, wobei Zusammenhänge da nur spekulativ sind. Wirkungen hinterließ der staatliche Umgang mit den nach 1968 folgenden Unruhen und Besetzungen. Es waren die modernen Eliten z.B. der sozialliberalen Koalitionen, die neben der Peitsche das Zuckerbrot auspacken und über massive finanzielle Förderung besetzte Häuser, alternative Betriebe, selbstverwaltete Jugendzentren, freie Schulen und politische Bewegungen erst befriedeten, dann integrierten und schließlich zum Modernisierungspotential der heutigen Zeit machten. Zurückgeblieben sind kleine Nischen, Gruppen ohne große Ausstrahlung - und die Events.

Appell statt direkte Aktion
Was ist am Streik eine direkte Aktion? Appelliert er nicht an die Firmenleitungen, deren Macht er aber durch die Forderungen grundsätzlich anerkennt? Warum sind Betriebsbesetzungen, die Form direkter Aktion in betrieblichen Auseinandersetzungen hingegen so selten? Auch Anarcho-SyndikalistInnen favorisieren immer wieder Streiks und wagen selten die Aneignung.
Dabei bekennen sich AnarchistInnen regelmäßig zur direkten Aktion, also zu der Idee, eigenhändig die Dinge zu verändern. Die wichtigste Zeitung der Anarcho-SyndikalistInnen heißt "Direkte Aktion". Es wäre also anzunehmen, dass sich AnarchistInnen nicht für Appelle oder appellative Aktionen interessieren. Doch weit gefehlt: In vielen Strömungen ist der Appell das Kernstück politischer Intervention.

Besonders verwunderlich ist die Liebe gewaltfreier Gruppen, in denen sich viele als AnarchistInnen bezeichnen und mit der als anarchistische Zeitung auftretenden "Graswurzelrevolution" sympathisieren, zu appellativen Aktionen. Dabei kommt doch aus dieser Ecke die als Handlungsaxiom aufgestellte These, politische Mittel müssten dem Ziel entsprechen. Anarchie aber wäre das Aus jeglicher Hierarchie und autoritärer Durchsetzungsstrukturen. Wer, weil die Mittel dem Zweck entsprechend sollen, inbrünstig jegliche Gewalt ablehnt, handelt widersprüchlich, wenn andererseits völlig selbstverständlich die Mächtigen angerufen werden, die eigenen Ziele umzusetzen. Denn das wäre genau das: Der Zweck heiligt die Mittel. Regierungshandeln soll Atomkraft verbieten. Oder den MON810-Genmais aus den USA. Oder ...
Warum ersetzen neuerdings Menschenketten die wenigstens symbolisch als direkte Aktion bewertbaren Blockaden? Was ist die reine Latschdemo anderes als eine Hommage an die Mächtigen, die anerkannt werden, aber bitte ihre Politik im Detail korrigieren sollen?

Um keine Missverständnisse zu erzeugen: Hier geht es nicht um gute oder schlechte Noten für Aktionen, sondern um die Analyse, welche Aktionsformen direkt wirken und welche appellativ. Angesichts der komplexen Herrschaftsverhältnisse und unterschiedlichen Formen, in denen Herrschaft auftreten kann, gibt es viele Arten der Intervention. Was einen Zug stoppt, die Aussaat gentechnisch veränderter Pflanzen behindert, den Abflug eines Flugzeuges mit Abschiebehäftlingen unmöglich macht oder offene Grenzen schafft, indem Stacheldraht und Kamera verschwinden, ist genauso eine direkte Aktion wie das Straßentheater oder die Kommunikationsguerilla, wenn sie in Diskurse oder öffentliche Debatten eingreifen. Es muss niemanden ärgern, wenn als ohnehin nicht zu verhindernde Reaktion auf gut vermittelte, druckvolle Aktionen parlamentarische oder behördliche Maßnahmen folgen.
Aber eine Unterschriftensammlung? Vorgefertigte Protestmails? Eine Menschenkette mit Luftballons? Das strahlt geradezu aus, dass es Regierende geben soll und diese endlich handeln: "Politiker reden, Führer handeln!" - drastischer als dieser Slogan von Greenpeace kann das dahinterstehende Gedankengut wohl kaum formuliert werden. Der Traum vom starken Mann, gedacht von denen, die eine andere Welt wollen ... oder wollen sie die gar nicht?

Selbst das Konzept des zivilen Ungehorsams, das vielen als radikal und herrschaftskritisch erscheinen mag und vor allem in gewaltfreien Kreisen hohes Ansehen genießt, ist bei näherem Hinsehen eher appellativ. Zwar ist denen, die mit diesem Begriff hantieren, nicht immer bewusst, dass hier eine Beschränkung auf einen Appell besteht, wenn auch dramaturgisch zugespitzt inszeniert. Daher darf die Kritik an denen, die sich auf den Begriff beziehen, nicht generalisiert werden. Doch im Konzept steckt die bewusste Regelübertretung als besonders aufdringlicher Vorwurf an die Adresse der Mächtigen, Missstände endlich abzustellen.

Im Original: Ziviler Ungehorsam
Definition (Quelle dieses Textes)
Ziviler Ungehorsam ist der aus Gewissensgründen und gewaltfrei vollzogene bewusste Verstoß gegen ein Gesetz, eine Pflicht oder den Befehl eines Staates oder einer anderen Macht. Im Gegensatz zu einem Streik ist er nicht rechtlich abgesichert, und der Ungehorsame nimmt bewusst in Kauf, dafür bestraft zu werden. Wer zivilen Ungehorsam ausübt, gilt als Anarchist oder Staatsfeind, da er eine fremde Herrschaft über seine Aktivitäten ablehnt. Der Ausdruck ziviler Ungehorsam (im Englischen civil disobedience) wurde vom US-Amerikaner Henry David Thoreau in seinem Essay Civil Disobedience (1849) geprägt, in dem dieser erklärte, warum er aus Protest gegen den Krieg gegen Mexiko und die Sklavenhaltung keine Steuern mehr bezahlte. Die deutsche Übersetzung von "civil disobedience" müsste eigentlich bürgerlicher Ungehorsam heißen (engl. civil: bürgerlich bzw. staatsbürgerlich). Thoreau, von dem der Begriff stammt, befasste sich nicht mit gewaltfreiem Widerstand, sondern mit den Gewissenskonflikten, die er als Bürger, Wähler und Steuerzahler auszutragen hatte. Das heißt, ein Bürger verweigert seinem Staat den Gehorsam, wenn sein Gewissen ihm das diktiert. Dies betrifft besonders den Kriegsdienst und die Bezahlung von Steuern. Die Erwähnung, dass der Ungehorsam gewaltfrei sein muss, ist eigentlich überflüssig, weil jede Gewaltanwendung gegenüber einer Drittperson impliziert, dass diese Person gehorsam handeln müsste, um der Gewaltanwendung zu entgehen. Dies widerspräche dem Ziel, jeden Menschen zum Ungehorsam zu ermuntern. Namhafte Vertreter zivilen Ungehorsams waren Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Martin Luther King und die Brüder Philip und Daniel Berrigan. In dieser Tradition leisten viele Atomkraftgegner, Graswurzler, Friedensdemonstranten, Globalisierungskritiker und Totalverweigerer Widerstand in Form zivilen Ungehorsams. Bekannte Beispiele von zivilem Ungehorsam, der sich in politischen Bewegungen niederschlug, waren die Boston Tea Party, die indische Unabhängigkeitsbewegung sowie die Montagsdemonstrationen im Jahre 1989.

Aus Gordon, Uri (2010): "Hier und jetzt", Nautilus in Hamburg (S. 31 f.)
Zwischen der direkten Aktion und einem verwandten Konzept, dem des "zivilen Ungehorsams" sollte unbedingt unterschieden werden. Unter dem Letzteren ist meiner Ansicht nach jede Art kollektiver Verweigerung gegenüber dem Gesetz zu verstehen, wobei dies entweder aus moralischen Motiven geschieht oder um Druck auf die Regierenden auszuüben, damit sie schließlich auf Forderungen eingehen. So schreibt Henry D. Thoreau: "Wenn die Alternative darin besteht, entweder alle Gerechten einzukerkern oder Krieg und Sklaverei abzuschaffen, wird der Staat bei der Wahl nicht zögern." Demnach ist ziviler Ungehorsam im Grunde eine konfrontative Form des Dialogs zwischen Bürgern, die sich nicht unterordnen, und dem Staat. Dieser Dialog stellt die grundlegende Legitimität des Staates nicht infrage (denn es wird vom Staat erwartet, dass er auf die Forderungen der Ungehorsamen reagieren und beispielsweise ein ungerechtes Gesetz ändern wird). Oft geht der zivile Ungehorsam mit einer Rhetorik der Aufrufe an die Gesellschaft einher, sie möge sich doch ihren eigenen Idealen gemäß verhalten. Auf diese Weise wird der Status quo der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Institutionen eher bestätigt als herausgefordert.

Aus Sternstein, Wolfgang: "Die gewaltfreie Revolte gegen 'Stuttgart 21'", in: GWR Dez. 2010 (S. 7)
Unter zivilem Ungehorsam in der Tradition von Henry David Thoreau, Mahatma Gandhi und Martin Luther King versteht man die bewusste Übertretung von Gesetzen oder gesetzesähnlichen Vorschriften sowie die Gehorsamsverweigerung gegenüber polizeilichen Anweisungen mit dem Ziel, staatliches Unrecht oder staatliche Korruption zu beseitigen.
Ziviler Ungehorsam in diesem Sinne sollte "zivil", also offen, dialogbereit und gewaltfrei sein. Dazu gehört auch die Bereitschaft, die für die Gesetzesübertretung oder die Gehorsamsverweigerung verhängte Sanktion klaglos hinzunehmen. ...
Durch ihre Bereitschaft, Nachteile und Strafen hinzunehmen, bekunden sie ihren Respekt vor dem Recht als solchem und appellieren an die Regierung und die Parlamente, die angefochtenen Entscheidungen noch einmal zu überdenken. ...

Aus Bergstedt, Jörg: "Was ähnlich aussieht und doch so unterschiedlich ist", in: grünes blatt 2/2011
Mensch sieht sie oft zusammen: Locker verbundene oder auch getrennt agierende AktivistInnen, die ihre Aktionen – wenn überhaupt ein Label benannt wird – als „Direct Action“ bezeichnen. Und meist in größeren Gruppen agierende Menschen, die ihr Tun als „zivilen Ungehorsam“ definieren. Viele von ihnen tun das ohne große Überlegung – doch bei näherem Hinsehen stecken hinter den Begriffen Unterschiede. Dieses liegen auch, aber gar nicht in erster Linie in den Aktionsmethoden, sondern mehr in der Grundeinstellung dazu, ob die Wahl von Aktionsformen Sache der handelnden Menschen oder mehr Sache einer übergeordneten Moralentscheidung ist.
...
Wolfgang Sternstein schreibt in der GWR Dez. 2010 (S. 7): „Ziviler Ungehorsam in diesem Sinne sollte ‚zivil’, also offen, dialogbereit und gewaltfrei sein.“ Drei unauffällige Worte, aber mit weitreichender Wirkung. Offenbar steht eine feste Moralvorstellung hinter der Idee des zivilen Ungehorsams. Wo die hier kommt und warum Aktionen immer „offen, dialogbereit und gewaltfrei“ sein müssen, erklärt niemand. Die Moral ist einfach da, wie ein Naturgesetz.
Mit ihr werden viele Aktionsformen ausgegrenzt. Offen und dialogbereit sind nur sichtbare Aktionen – alles was nachts oder heimlich geschieht, wird denunziert: Sabotage, Militanz, Graffities, Kommunikationsguerilla. Sogar das harmlose (aber durchaus wirkungsvolle) versteckte Theater fällt hinten herunter. Sternstein agiert politisch motiviert und damit betriebsblind. Er hat bestimmte Strömungen im Blick, die er ausgrenzen will. Dafür nutzt er das Sprachrohr des parlamentsfern organisierten, bürgerlichen Gutmenschenspektrums. Dort laufen seit Jahrzehnten solche Ausgrenzungen gegen militante Aktionsformen (wo gibt es die in Deutschland eigentlich?), vor allem aber gegen selbstorganisierte AktivistInnen, die mehr auf „Direct Action“, d.h. die dogmenfreie Aneignung vieler Aktionsmethoden und abwägende Anwendung der jeweils zur Situation passenden Mittel.
Als dritte Regel benennt Sternstein die Gewaltfreiheit. Das ist der am weitesten verbreitete Grundsatz unter dem Begriff „Ziviler Ungehorsam“. Praktisch ist diese mit „gewaltfreie Aktion“ gleichsetzt, wie auch im Namen des Netzwerkes Z.U.G.A.B.E. zu erkennen. Doch auch das führt wieder nur zu Unschärfen, denn warum soll gewaltfreie Aktion immer offen und dialogbereit agieren – und warum soll ziviler Ungehorsam zwingend gewaltfrei sein? Die Verknüpfung liest sich eher wie ein Glaubensgrundsatz, d.h. bestimmte Regeln werden durch Wiederholung als Norm gefestigt.
Gewaltfreiheit wird dabei als implizite Regel, also quasi wie ein Naturgesetz behandelt: „Die Erwähnung, dass der Ungehorsam gewaltfrei sein muss, ist eigentlich überflüssig, weil jede Gewaltanwendung gegenüber einer Drittperson impliziert, dass diese Person gehorsam handeln müsste, um der Gewaltanwendung zu entgehen.“ (Quelle)
Das steigert zum einen die Unklarheit des Gewaltbegriffs, der bekenntnisartig ungefüllt bleibt, hier aber erkennbar nur die Gewaltanwendung gegen Personen meint. Die Grenzziehung, dass durch Gewalt ein Handeln erzwungen wird, schafft aber ebenfalls keine klare Grenze, sondern verwischt diese eher. Sie kommt hier der Nötigung nahe, d.h. der anonyme Bombenanschlag wäre danach nicht erfasst, weil er kein konkretes Handeln bei den Betroffenen einfordert. Andererseits wären auch andere direkte Angriffe auf Personen wie bei Mars TV, der Rebel Clowns Army oder einer geschlossene Menschenkette um ein Objekt nicht mehr von der Definition gedeckt, weil auch hier deutlicher Druck ausgeübt wird, sich in eine bestimmte Richtung zu verhalten (z.B. um nicht weiter von Clownsaktionen oder Mars TV gedemütigt zu werden).
Es ist daher mehr als fraglich, ob Gewaltfreiheit überhaupt ein Aktionskonzept ist oder nicht eher eine Art Bekenntnis, dessen genaue Bestimmung unklar ist und das deshalb mit dem zivilen Ungehorsam verknüpft werden kann, aber nicht zu diesem gehört (siehe im Heft „Gewalt? Gewaltfrei? Oder was?“ und hier).
Einen Schritt weiten gehen die, die Legalität als Kriterium für Aktionen in die Waagschale werfen. Klar – rein taktisch ist das nicht unbedeutsam, schließlich sollte mensch wissen, wann Strafe droht und wann nicht (was aber nicht nur mit Gesetzen zu tun hat)
.

Aus Stephan D’Arcy (2019), „Sprachen der Ermächtigung“ (S. 110)
Dem zivilen Ungehorsam wohnt ein Paradox inne: Er vereint offene Auflehnung gegen das Gesetz mit einer Bekräftigung der aufrichtigen Achtung für genau dieses Gesetz.

Das wird auch in den konkreten Handlungen deutlich. Ein Blick auf die Feldbefreiungen von "Gendreck weg" zeigt das. Die Kampagne gehört zum Netzwerk Z.U.G.A.Be, beruft sich also auf den Begriff des zivilen Ungehorsams. Anfangs ging es noch darum, ganze Felder platt zu machen. Am Ende waren es nur noch symbolisch einzelne Pflanzen, die herausgezogen wurden - als dramatische Form des Appells, die unerwünschten Pflanzen in einem hoheitlichen Akt doch bitte zu verbieten.
Mit Gewaltfreiheit hat das dann nebenbei auch wenig zu tun, denn der Appell an die Mächtigen kann nie eine gewaltfreie Aktion sein, weil sie die Nutzung struktureller Gewalt einfordert. Die schafft also zumindest ein Stück der Legitimation des Rechts auf Gewalt.

Bei näherem Hinsehen sind aber nicht nur ziviler Ungehorsam und Streiks appellative Aktionen, sondern auch vieles dessen, was als militant gilt. Es ist nämlich nicht eine Frage der Aktionsform, sondern des Motivs, der Zielrichtung und der Vermittlung. Steinwürfe in die Fenster der Mächtigen mögen zwar in der Form des Appells nachdrücklicher sein, aber sie bleiben der Ausruf der Wut. Sie behindern nichts und beklagen nur die konkreten Handlungen derer, denen sie gewidmet sind. Das liegt nicht im Prinzip des Steinwurfes, sondern in der konkreten Ausführung. Nur selten haben Sabotage und Militanz eine direkte behindernde Wirkung oder vermitteln sehr klar: Wir wollen das und das nicht! Tröstlich: Das muss nicht so sein - und erst recht nicht so bleiben.

Im Original: Entradikalisierung
Aus Bookchin, Murray (1992): "Die Neugestaltung der Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 123, mehr Auszüge)
Aber selten ist das revolutionäre Projekt durch die "Bourgeoisierung", wie sie Bakunin gegen Ende seines Lebens befürchtete, stärker verwässert worden als heute. Auch waren die Schlüsselwörter dieses Projekts selten so uneindeutig. Wörter wie "Radikalismus" und "links" haben ihre klare Kontur verloren und werden - so steht zu befürchten - bald ernstlich kompromittiert sein. Was heute als Revolutionismus, Radikalismus und Linke durchgeht, wäre vor ein oder zwei Generationen als Reformismus und politischer Opportunismus abgelehnt worden. Das soziale Denken hat sich so tief in den Eingeweiden der heutigen Gesellschaft festgesetzt, daß selbsternannte "Linke" - seien es Sozialisten, Marxisten oder unabhängige Radikale unterschiedlicher Couleur - Gefahr laufen, verdaut zu werden, ohne es selbst zu merken. In vielen euro-amerikanischen Ländern gibt es einfach keine bewußte Linke von irgendeiner Bedeutung. Es gibt, abgesehen von ein paar Enklaven revolutionärer Theoretiker, noch nicht einmal einen kritischen unabhängigen Radikalismus. (S. 123) ...
Rudi Dutschkes Aufruf an den SDS zum "langen Marsch durch die lnstitutionen" bedeutete letzten Endes kaum mehr als sich den existierenden Institutionen anzupassen, ohne sich die Mühe zu machen, neue zu entwickeln, und führte zum Verlust Tausender an eben diese Institutionen. Sie gingen hinein - und kamen niemals wieder heraus. (S. 156)


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