Laienverteidigung

STRAFE

Schöner Schein: Behaupteten und verborgene Motive des Strafens


1. Einleitung
2. Welchen Sinn macht Strafe?
3. Wem dienen die Strafgesetze?
4. Strafe und Soziales
5. Schöner Schein: Behaupteten und verborgene Motive des Strafens
6. Satire: Vorschlag für ein ehrliches Strafgesetzbuch ...
7. Strafe überwinden!
8. Doch trotzdem heißt es überall: Mehr Strafe!
9. Kritisches zu Strafe
10. Verlautbarungen gegen Strafe und Knast
11. Religiöser Fundamentalismus und Strafe
12. Links und Materialien

In der Strafe soll die Verbindlichkeit der für ein friedliches Zusammenleben der Gemeinschaft unabdingbaren Grundwerte für alle sinnfällig werden. Sie soll neben anderen Zwecken zumal verletztes Recht durch die schuldangemessene Abgeltung von tatbestandlich umgrenzten, schuldhaft verursachten Unrecht wiederherstellen und damit die Geltung und Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung für alle bekunden und behaupten.
Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 64, 271)

Strafe ist auch Ausdruck des Unwert-Urteils einer Gesellschaft.
Hessischer Justizminister Jürgen Banzer, in: FR, 18.3.2006 (S. 6)

Strafen für Wohlstand und Sicherheit?
Aus Helga Cremer-Schäfer/Heinz Schäfer (1998), "Straflust und Repression" (S. 43f)
Das stärkste Gefühl dabei ist das Motiv, die Hilflosen zu beschützen, vor allem Kinder und Frauen, und zwar gegen den Unhold von außerhalb. Damit wird die Geschlechter- und sexuelle Ordnung stabilisiert. Als nächstes folgt der Schutz von anderem Eigentum, dann die Verteidigung der Arbeitsmoral (der Verbindung von Lohnarbeit und Konsum) und der Regeln von "fairer" Konkurrenz. Die Phantasie von "Verbrechen & Strafe" ist patriarchisch und daher vor allem eine Männlichkeitsphantasie - bei der es freilich nicht notwendig um die Männlichkeit des (eher alten und weisen) Patriarchen selbst geht, sondern um die Männlichkeit, die zu der "Kriegerposition" gehört, ...

Motive des Strafens und der Strafgesetze
Heinz von Förster/Bernhard Pörksen (8. Auflage 2008), „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“, Carl Auer Verlag in Wiesbaden (S. 48 ff.)
Wer soll bestraft werden? Was muß geändert werden? Kurzum: Ich möchte dafür plädieren, die Gesetze zu ändern, wenn sich Phänomene und Verhaltensweisen finden lassen, die nicht zu ihnen passen. Man muß dann andere Gesetze erfinden. ...
H.F. Ja; damals hat sich mir die Frage gestellt: Wer hat dieses Gesetz erfunden, das die Ermordung von Menschen legalisiert? Wer ist für diesen verbrecherischen Wahnsinn, gegen den man sich stemmen muß, verantwortlich? Worauf ich aufmerksam machen will, ist, daß alle Gesetze Erfindungen sind, daß sie von uns geschaffen und geändert werden können. Der Wechsel der Perspektive, von dem ich spreche, macht es möglich, den Urheber eines Gesetzes ganz ins Zentrum zu rücken - und sich zu fragen, ob die von ihm erfundenen Regeln eine Sozialstruktur begünstigen, die ein schöpferisches, kreatives und freundliches Miteinander gestatten.
B. P. Ich beginne, Sie zu verstehen. Ihnen geht es darum, auf denjenigen hinzuweisen, der von einem Gesetz spricht. Und Sie möchten seine Aussagen vollständig in seinen Verantwortungsbereich hineinrücken.
H.F. Das ist eine gute Interpretation. Man muß sich einfach klarmachen, daß jede Vorstellung von einem Gesetz eine hemmende Wirkung besitzt. Es gestattet nur eine Sicht der Dinge, nur einen möglichen Weg, nur eine korrekte und erlaubte Verhaltensweise. Wenn man ein Gesetz als Erfindung begreift, dann betrachtet man für einen Moment nicht jene, die sich vermeintlich falsch benehmen, sondern den Erfinder, den Menschen, der dieses ausgesprochen hat.


Strafe ist ein Werturteil
Aus Roth, Siegward (1991): „Die Kriminalität der Braven“. C.H. Beck München (S. 59)
Mein Realitätsgefühl und meine Lebenserfahrung lassen es aber nicht zu, eine Kriminalitätsdefinition als zutreffend zu begreifen, die nicht nur eine Minderheit, sondern die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder als kriminell ausweist.
Damit wird deutlich, daß eine emotionale Bewertung (ein Urteil auf der Grundlage eines gesunden Rechtsempfindens, das von der juristischen Definition unabhängig ist) für das alltägliche Verständnis von Kriminalität sehr bedeutsam ist. Ich kann die Menschen aus meinem beruflichen und privaten Umfeld, insbesondere auch mich selbst, nicht als kriminell erleben oder wahrnehmen, obwohl das, juristisch betrachtet, so ist, und das bedeutet eine erhebliche Diskrepanz zwischen der gewöhnlichen Definition von Kriminalität und dem alltäglichen Verständnis dieses Phänomens.


Angst vor Fremden schüren: Konstruktion von TäterInnen
Aus Roth, Siegward (1991): „Die Kriminalität der Braven“. C.H. Beck München (S. 103 f.)
Auf diese Weise stoße ich abermals auf das Phänomen, daß Kriminalität üblicherweise als etwas begriffen wird, das dem Betrachter selbst fremd ist. In dem hier beschriebenen Zusammenhang ist nämlich festzustellen, daß wir, ohne einen Grund dafür nennen zu können, mehrheitlich davon ausgehen, daß Sexualverbrecher regelmäßig "Fremde" seien. Unsere Phantasien sind belebt von glitschigen Perversen und gefährlichen Halbirren, die, im mittleren Mannesalter, mit zuckenden Gesichtszügen und triefenden Mundwinkeln in Mauernischen lauern. Dazu fällt mir in bezug auf meine eigene Person ein, daß ich mich bei meinen ersten Kontakten mit fes,tgenommeneu Sexualstraftätern darüber wunderte, wie normal diese alle waren. Ich hatte anscheinend etwas anderes erwartet.
Richtig aber war, daß diese Täter regelmäßig ganz normale Bürger waren. Genau im Gegensatz zu meinen Erwartungen fiel mir sogar auf, daß das Merkmal der Unauffälligkeit und der Angepaßtheit anscheinend ein Charakteristikum dieser Kategorie von Kriminellen war. Und noch etwas überraschte mich in diesem Zusammenhang: Der Täter war dem Opfer regelmäßig nicht fremd. In der überwiegenden Anzahl der Fälle kannten sich Täter und Opfer vor der Tatbegehung. Eine spezielle Untersuchung des Bundeskriminalamtes führt dazu sogar wörtlich aus: "Die Warnung vor dem fremden Onkel' ist wenig sinnvoll; angebracht wäre eher die Warnung vor dem echten Onkel, dem Vater, dem Freund, dem Partner in der Wohnung, dem Bekannten usw."


Im Original: Aus der Rechtstheorie und -philosophie
Aus Kunz, Karl-Ludwig/Mona, Martino (2006): "Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssozialogie", UTB Haupt (S. 253ff.)
Muss Strafe sein?
Zur Lektüre empfohlen: HASSEMER WINFRIFD (2000/2001) Gründe und Grenzen des Strafens, in: VORBAUM (Hrsg.) Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, Bd. 2, Baden-Baden, 458 484; JUNG HEIKE (2002) Was ist Strafe? Ein Essay, Baden Baden, 13-22; von HIRSCH ANDREW (2005) Faimess, Verbrechen und Strafe: Strafrechtstheoretische Abhandlungen, Berlin, 41-68
Wichtige Klassiker: FOUCAULT MICHEL, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (orig. Surveiller ei punir Naissance de la prison, 1975); HEGEL GEORG WILHELm FRIEDRICH, Grundlinien der Philosophie des Rechts (orig. 1821), §§ 90-103
Weitere Literatur: DUFF R.A. (2001) Punishment, Communication, and Community, Oxford; GARLAND DAVID (1990) Punishment and Modern Society: A Study in Social Theory, Chicago; GARLAND DAVID (2001) The Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Society, Oxford
Die staatliche Kriminalstrafe versteht sich als gesetzlich vorhergesagte, tadelnd Übel zufügende Reaktion zuständiger staatlicher Gerichtsinstanzen auf eine als strafbar definierte Handlung. Die Frage nach ihrer Notwendigkeit klingt seltsam, weil Strafen selbstverständlich scheint und ist vielleicht gerade deshalb für eine reflexive Grundausrichtung der Rechtswissenschaft wichtig. Wer mit dieser Frage konfrontiert wird, dürfte darauf ähnlich hilflos reagieren wie ein Theologe, der sich dazu äußern soll, ob Gott sein müsse. Die' theoretische Befassung mit Strafen richtet ihre Sinnfragen eher darauf, wie die Strafe gerechtfertigt werden kann, und setzt damit schon als ausgemacht voraus, dass sie als solche sinnvoll ist.
Strafrecht gilt als der Prototyp des Rechts, und die Strafe bildet dessen typische Reaktion. Staatliches Strafen mittels Strafrecht ist ein formalisiertes Abbild von im zwischenmenschlichen Kontakt geläufigen Verhaltensmustern: vom "strafenden" Blick über das "Schneiden" als Kontaktverweigerung, dem Strafen als Erziehungsmittel bis zum Platzverweis beim Fußballspiel. Gerade heute scheinen die vielfältigen Formen des Strafens eine neue Wertschätzung zu erlangen: Härte und Durchsetzungsvermögen, nicht Nachsicht und Nachgiebigkeit sind beim Aufstieg auf der sozialen Leiter gefragt. Der Zeitgeist der Risikogesellschaft interpretiert das liberale Postulat individueller Freiheit als Eigenverantwortung und rechnet mangelnde Scha-densvorsorge als strafbares Unterlassen und Risikostiftung als strafbare Rechtsgutsgefährdung zu. Es erscheint mit einer unhinterfragten Evidenz einleuchtend und triftig, dass Strafen als standardisiertes Reaktionsmuster vielfach angemessen, ja geboten ist. Die Einstellung zu normabweichendem Verhalten, zu randständigen Personen und störenden Situationen ist zuneh-mend sanktionsfreudiger, im neuen Fachjargon: "punitiver", geworden. Verbreitete Klagen über die Permissivität der Gesellschaft, über das zu weiche Vorgehen gegen jugendliches Rowdytum und Belästigungen durch Bettler und Obdachlose, über rechtsstaatliche Skrupel gegenüber der populären Forderung des Wegsperrens von Gewalt und Sexualstraftätern für immer suggerieren, dass Strafe ein Heilmittel für gesellschaftliche Leiden ist und diese Medizin zu knapp verabreicht wird. Die Bereitschaft, Strafe als Gegenmittel für soziale Missstände einzusetzen und dieses Mittel in gehöriger Dosierung zu verabreichen, hat deutlich zugenommen. In den Worten WINFRIED HASSEMERS: "Seit ich meine strafende Umwelt mit wachen Augen beobachten kann, habe ich nie so viel selbstverständliche Strafbereitschaft, ja Straffreude wahrgenommen wie heute. Nicht die Strafe verlangt in unseren Tagen Nachdenken und Rechtfertigung, sondern die Frage nach ihr und die Kritik an ihr."
Das dem Zeitgeist opponierende Nachdenken über die Berechtigung des Strafens scheint eine Selbstverständlichkeit anzuzweifeln und einen vermeintlichen Grundkonsens zu zerstören. Es klingt wie der Ruf in der Wüste, den niemand hören will, weil er keinem aus dem Herzen spricht. Der in den USA lehrende Kriminalsoziologe DAVID GARLAND hat bei seiner Analyse der heutigen Kultur der Kontrolle, die nach rasch aktivierbaren und einfach umsetzbaren penal solutions verlangt, resignierend festgestellt: "Liberal voices have not been altogether silent, and they are still to be heard opposing the punitive and the inhumane. But they now sound like voices in the wildemess, echoing the sentiments of an earlier era, lacking real support in the political domain.“
Die rechtssoziologische Beobachtung einer zunehmenden gesellschaftlichen Punitivität macht die rechtsphilosophische Frage nach der Strafberechtigung nicht überflüssig, sondern allenfalls unpopulär. Das Strafen als solches mit einem Fragezeichen zu versehen, verlangt eine Auseinandersetzung mit der strafenden Vernunft und die Abklärung, ob diese von der gefühlsmäßig gelei-teten popular punitiveness zu Unrecht übergangen wird. Gerade in einer straffreudig gestimmten Gesellschaft macht es Sinn, mit der Frage nach der Notwendigkeit von Strafe ein Problem gleichsam an der Wurzel zu packen, dessen besorgniserregende aktuelle Aufblähung dadurch mit verursacht sein könnte, dass mit der als selbstverständlich betrachteten Annahme der Notwendigkeit von Strafe die Weichen gleichsam von Anbeginn falsch gestellt sein könnten. Wie immer strafgeneigt die Gesellschaft geprägt sein mag: Vorhandene Repressionsbedürfnisse des Publikums lassen sich, wie in der Folge deutlich werden wird, auch anders als durch staatliche Kriminalstrafe befriedigen; allein aus solchen Bedürfnissen folgt also die Berechtigung der Strafe nicht.
Beweisführungen für die Notwendigkeit von Strafe folgen dem Argumentationsmuster, dass die Strafe nötig sei, um das Recht ungeachtet mitunter häufiger Rechtsverstöße als verbindlich auszuweisen. Genauer besehen lautet die Argumentation so: Strafe fügt nicht "einfach so" Übel zu, sondern reagiert missbilligend auf eine Normverletzung und vermittelt dabei dem Täter wie dem Publikum die Botschaft, dass die Verletzung der Norm nicht hingenommen werde. Die Strafe versieht die Normabweichung mit der negativen Markierung einer die Norm desavouierenden Grenzüberschreitung und rahmt die Normabweichung in die expressive Schablone des Rechtsbruchs. Indem so die Normverletzung negativ ausgezeichnet wird, werden die Werte, auf welche die Norm Bezug nimmt, autoritativ bestätigt und validiert. Dem Rechtsbrecher wie dem Publikum wird so kommuniziert, dass die Norm trotz ihrer Verletzung, oder genauer: wegen der Sanktionierung ihrer Verletzung, gültig bleibt. Strafe ist damit ein Ausdruck des Festhaltenwollens an der Norm als Orientierungsmuster menschlichen Verhaltens durch die Sanktionierung ihrer Verletzung. Die Sanktionierung nimmt der Normverletzung ihre normnegierende Brisanz und bestätigt ihre Geltung. Sie ist ein auf Kosten des Normbrechers erfolgender Widerspruch gegen die von ihm verübte Desavouierung der Norm.
Verletzungen sozialer und rechtlicher Normen setzen sich über allgemeingültige Verhaltenserwartungen hinweg und demonstrieren, dass die Erwartung von Normkonformität faktisch unsicher ist. Da die Gesellschaft auf allgemein geteilten Wertvorstellungen und Einschätzungen, also auf der Erwartung der Verlässlichkeit von Erwartungen aufbaut, wird diese "Erwartungserwartung" durch Normverletzungen enttäuscht. Um gleichwohl an der Erwartung festhalten zu können, muss demonstriert werden, dass die Normverletzung nicht "gilt", indem der die Norm negierende Rechtsbruch seinerseits durch eine darauf Bezug nehmende Sanktion negiert wird. Soziale und rechtliche Normen gelten trotz ihrer mitunter häufigen Verletzungen kontrafaktisch, weil und insoweit die Gesellschaft auf Verletzungen sanktionierend reagiert. Eine Nichtsanktionierung von Normverletzungen würde zum Ausdruck bringen, dass der Gesellschaft an der Fortgeltung der Norm nichts liegt, was auf Dauer zu einer Beeinträchtigung sowohl der faktischen als auch der normativen Geltung der Norm führen würde.
Die Sanktionierung von Normverletzungen mittels Strafe ist demzufolge gesellschaftlich funktional: Sie gibt uns ein Bewusstsein davon, dass wir bestimmte Normen als allgemeinverbindliche Richtschnur unseres Handelns anerkennen und uns bestimmten Werten zugehörig fühlen. Strafende Reaktionen auf Normverletzungen sind für die Gesellschaft identitätsstiftend; sie erhalten die Werte und Regeln lebendig, die wir für unsere Gesellschaft als verpflichtend anerkennen. Diese funktionalistische Rechtfertigung der Strafe ist kennzeichnend für ein aufklärerisches Denken, welches von den Theorien des Gesellschaftsvertrages bis hin zur Systemtheorie die sozialwissenschaftliche Theoriediskussion wie die praktische Kriminalpolitik prägt. Die Strafe wird hier als ein Rädchen des gesellschaftlichen Räderwerkes verstanden, welches dazu beiträgt, dass die Gesellschaft sich "autopoietisch" sinnstiftend fortentwickelt. Die Strafe mag ein durchaus kleines, für sich betrachtet unbedeutsames Rädchen sein. Dennoch bliebe die soziale Entwicklung ohne dieses stehen, wie ein Uhrwerk ohne eines seiner Teile nicht mehr funktionierte.
Am eindrücklichsten hat EMlLE DURKHEIM, ein Stammvater der Rechtssoziologie, diese Vorstellung von der gesellschaftlichen Funktionalität von Strafe entwickelt. Seine Argumentation lautet verkürzt: Das Bedürfnis, Verhaltensweisen als normverletzend einzustufen und zu bestrafen, ist in einem doppelten Sinne gesellschaftlich normal: Erstens ist es empirisch ubiquitär, also in jeder Gesellschaft zu beobachten. Zweitens ist das Strafbedürfnis vor allem auch norrnativ sinnvoll, insofern es ein notwendiges Bindemittel der Gesellschaft darstellt, dessen konkreter Gebrauch zu fruchtbaren sozialen Auseinandersetzungen Anlass gibt und erst so eine soziale Entwicklung ermöglicht. Mit anderen Wort: Strafe müsste man erfinden, gäbe es sie nicht bereits.
DURKHEIMs Konzept der Funktionalität von Strafe wurde in GARLANDS Überlegungen über punishment as a cultural agent aktualisiert. Der Schlüsselsatz GARLANDs lautet: "Punishment is one of the many institutions which help to construct and support the social world by producing the shared categories and authoritative classifications through which individuals understand each other and themselves."
Eine nicht rein gesellschaftlich funktionale, sondern vor allem moralischprinzipielle Begründung der Strafe ergibt sich aus der These, dass die Strafe Teil einer Moralphilosophie ist, welche den Menschen Verantwortung für ihr Verhalten zuschreibt. Bereits KANT hatte die Strafe damit begründet, dass es gelte, die unvernünftige Tat einem vernünftigen, selbstbestimmt handelnden Subjekt zuzurechnen. Der Strafe gehe der Vorwurf voraus, Freiheit sei missbraucht worden. Die Strafe sei damit eine Zurückweisung von Selbstbestimmung, die sich eine freie Person angemaßt hat. Durch Strafe wird also ein Tadel kommuniziert, welcher den Täter als Person betrachtet, die zu einem ethischen Urteil fähig ist. Die tadelnde Missbilligung gibt dem Täter offiziell und autoritativ Anlass, seine Handlungen zu überdenken. Strafe macht Verantwortung fest und spricht damit den Täter als Verantwortlichen an.
Da Menschen weder Engel sind, für die rein normative Appelle ohne weitere Konsequenzen ausreichen, noch Tiere, die bloß durch Drohungen beeinflusst werden, muss das tadelnde Unwerturteil mit einem Übel verbunden werden, welches das Unwerturteil glaubwürdig macht. Die tadelnd vermittelte Übelzufügung ist damit nicht bloß moralisch notwendig, sondern auch präventiv geboten, um Menschen zu motivieren, künftig von der Begehung von Straftaten Abstand zu nehmen.
KANT nahm gar an, dass Strafe aus prinzipiellen Gründen notwendig sei, auch wenn sie keinerlei präventive Wirkung mehr entfalten könne, und belegte dies mit seinem berühmten Inselbeispiel: "Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinander zu gehen, um sich in alle Welt zu zerstreuen), müsste der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf die Bestrafung nicht gedrungen hat, weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann."
Die Beweisführungen der gesellschaftlichen Funktionalität wie der moralischen Gebotenheit von Strafe haben einen gemeinsamen Schwachpunkt: Es ermangelt an hinlänglichen empirischen Indizien, dass die Übelzufügung mittels Strafe nützlich und sogar notwendig sei, um die Normgeltung kontrafaktisch zu bestätigen und vernünftige, aber fehlbare Menschen zu Rechtstreue zu motivieren. Womöglich würde es genügen, den Rechtsbruch tadelnd, aber ohne Übelzufügung zu diskreditieren. Dann wäre bei gleicher Eignung zur Bestätigung der Normgeltung die Übelzufügung nicht erforderlich und unverhältnismäßig. Das Strafübel könnte sogar der Normgeltung schaden, sofern es als übermäßig oder rechtstaatswidrig empfunden wird. Die Annahme, eine Übelzufügung sei erforderlich, um zu zeigen, dass die Missbilligung ernst gemeint ist, ist weitgehend spekulativ.
"Strafe" weist zwei Komponenten auf. Einerseits den performativen Akt des Bestrafens, also die rechtsförmliche Prozedur der intendierten staatlichen Reaktion (im Englischen vorrangig anklingend in: punishment); andererseits das dadurch dem Bestraften zugefügte Leid (im Französischen vorrangig anklingend in: peine und im Deutschen in "Pein", einem Lehnwort aus dem lateini-schen poena) als negativen Verhaltensstimulus.
Sieht man von den seltenen besonders schweren Sexual und Gewaltdelikten ab, so erwartet und verlangt die Bevölkerung ungeachtet der punitiven Grundstimmung und entgegen der verbreiteten Einschätzung von Strafrechts-praktikern erstaunlich wenig "Strafpein", wenn ihr konkrete Fälle zur Beurteilung vorgelegt werden . Dies mag erstens daran liegen, dass gesellschaftliche Strafbedürfnisse und lokale Strafkulturen an Bedeutung einbüßen, wenn es um die angemessene Reaktion auf eine konkrete, konfliktbeladene Situation geht, in welcher typischerweise kein Akteur eine völlig weiße Weste trägt. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass die allein rechtsstaatlich vertretbare Strafpein durch Entzug von persönlicher oder finanzieller Freiheit von der Bevölkerung oft nicht als sinnvoller Ausgleich des konkreten Tatunrechts verstanden wird. Drittens nützt den Opfern die dem Täter auferlegte Strafpein nicht, sondern schadet ihnen oft, da dem Täter dadurch Ressourcen genommen werden, welche zur Entschädigung der Opfer nötig wären. Insofern richtet sich das Opferinteresse, neben der Genugtuung über die rechtsförmliche Missbilligung der Tat, nicht auf die vergeltende Strafpein, sondern auf Wiedergutmachung des Schadens.
Kriminalsoziologische Befunde deuten darauf hin, dass die Bevölkerung und sogar die Opfer von Straftaten die notwendige Strafbärte überaus maßvoll einzuschätzen wissen und damit weniger auf die Leidzufügung mittels Strafe als vielmehr allein oder zumindest vordringlich auf die symbolische Missbilligung des Rechtsbruchs und die damit verbundene kontrafaktische Bestätigung des Geltungsanspruchs der Norm, allenfalls verbunden mit einer Opferentschädigung, Wert legen. Offenbar genügt es deshalb verbreiteten Erwartungen an eine angemessene und glaubwürdige Reaktion auf Straftaten, die mit der Bestrafung verbundene Leidzufügung (peine, hard treatment) gegen Null abzusenken und sich mit dem Ausdruck symbolischer Missbilligung ohne Strafübel zu begnügen.
Aber auch die erste Komponente der Strafe, der rechtsförmliche Akt der Bestrafung (punishment), ist aufgrund kriminalsoziologischer Erfahrungen vielfach verzichtbar. Oft kann nämlich der Rechtsbruch anders als durch förmliche Bestrafung symbolisch genügend missbilligt werden, etwa durch Wiedergutmachungsverpflichtung, folgenlosen Schuldspruch und mitunter gar bloß durch die Eindrücklichkeit eines rechtsstaatlich geführten Verfahrens. Die Möglichkeit, beide Komponenten der Strafe ohne erkennbaren präventiven Funktionsverlust zu minimieren, entspricht der kriminalpolitisch sinnvollen Doppelstrategie eines "weniger" an Strafe und "anders" als Strafe.
Für unseren Zusammenhang ist freilich zu beachten, dass bei Verfolgung dieser Doppelstrategie die Strafverhängung und die Strafhärte tatsächlich bloß minimalisiert und bestenfalls faktisch gegen Null gedrückt werden. In sämtlichen realen Minimalisierungsexperimenten bleibt die Strafe als grundsätzlich verfügbare Potentialität vorausgesetzt. Die Experimente belegen eindrücklich, dass es mit weniger Strafe geht. Hingegen besagen sie nichts darüber, ob es auch völlig ohne Strafe ginge. Empirische Evidenz stützt deshalb nur die Annahme der deutlichen Reduzierbarkeit, nicht die der prinzipiellen Verzichtbarkeit von Strafe. Ob bei Minimalisierungsstrategien eine Abschaffung von Strafe und staatlichem Strafrecht als "Fernziel" ins Auge gefasst wird, mag dahinstehen. Jedenfalls vollzieht sich die Umsetzung von Minimalisierungsstrategien stets unter der Voraussetzung eines als Alternative zumindest subsidiär verfügbaren Strafrechts und seiner Sanktionsmöglichkeiten.
Um die Nützlichkeit und Notwendigkeit von Strafe zu bestreiten, muss ein alternatives Gesellschaftsbild gewählt werden, in dem kein Bedarf an integrierenden Ritualen strafend ausgrenzender Aufarbeitung von Rechtsbrüchen besteht. Für ein solches Gesellschaftsbild finden sich innerhalb der real existierenden rechtlich organisierten Gesellschaften reichlich Beispiele für eine Lebenspraxis, welche in der Familie und in näheren Bekannten und Nachbarschaftskreisen die Übelzufügung zur Bestätigung von Gemeinschaftswerten ablehnt und stattdessen auf diskursive Bemühungen der Verständigung und Versöhnung setzt. Jene vom Kommunitarismus inspirierte Lebenspraxis erachtet die strafende Übelzufügung als Gift für eine auf Ausgleich und Nachsicht bedachte solidarische Gemeinschaft. Manche Kriminalsoziologen erachten diese Lebenspraxis für verallgemeinerbar und Normklärung ohne staatliches Strafen für möglich. Konflikte werden demgemäß als wertvolle Besitzstände verstanden, an deren Bewältigung sich die Gemeinschaft herausbildet. Anlässe für soziale Konflikte werden zu "Ärgernissen und Lebenskatastrophen“ herabdefiniert, welche die Wertigkeit von Kriminalität und damit das Unwerturteil mittels Strafe nicht verdienen. In dieser Perspektive ist ausschließlich Schlichten statt Richten, Aushandeln statt Verhandeln, Vermitteln statt Strafen gefordert.
Realistisch betrachtet gedeiht eine Lebenspraxis ohne strafende Übelzufügung indessen nur in den Nischen der Privatsphären und persönlichen Nahräumen, welche der staatlichen Strafverfolgung nicht zugänglich sind. Die viel versprechenden Keime gesellschaftsunmittelbarer Konfliktschlichtung sprießen einstweilen nur im Schatten des staatlichen Leviathans. Ob sie auch ohne diesen Schatten gedeihen würden, ist Spekulation. Das Ziel einer rechtlich geordneten Gesellschaft völlig ohne Strafe bleibt deshalb eine Utopie, über dessen Erfüllbarkeit eine wissenschaftliche Aussage nicht möglich ist.
Andererseits ist auch die Annahme der Notwendigkeit der mit Strafe begriffsnotwendig verbundenen Übelzufügung unüberprüfbar und besitzt damit ebenso wenig eine empirisch gesicherte wissenschaftliche Grundlage. Weil sämtliche bekannten staatlich organisierten Gesellschaften die Strafe verwenden und das Kontrollexperiment einer Gesellschaft ohne Strafe nicht durchführbar ist, fehlt es an einer Vergleichseinheit, an der sich die angenommene Funktionalität von Strafe überprüfen liesse. Mangels praktiziertem Gegenmodell ist die Vorzugswürdigkeit des Modells der strafenden Gesellschaft nicht begründbar und umgekehrt.
Es ergibt sich somit, dass weder die Nützlichkeit oder gar Notwendigkeit noch die Verzichtbarkeit von Strafe rational begründbar ist. Beide Positionen geben je einer Annahme Ausdruck, die sich der wissenschaftlichen Überprüfung entzieht. Die Behauptung der Notwendigkeit von Strafe eignet sich zwar zur Legitimation der realen Strafpraxis und wird deshalb von den Repräsentanten dieser Strafpraxis als selbstverständlich vorausgesetzt. Dessen ungeachtet ist diese Annahme ein bloßer Glaubenssatz der Kriminalpolitik, von dessen Verbreitung sich die kriminalpolitischen Akteure eine gesellschaftsstabilisierende Wirkung erhoffen. Die mit Übelzufügung verbundene Strafe muss sein, falls und insofern sie nötig ist, um die von der Gesellschaft als grundlegend erachteten Werthaltungen zu stützen und Folgetäter zu entmutigen. Ob dies der Fall ist, bleibt letztlich offen.
Freilich ist ein Vorzug der Annahme der Notwendigkeit von Strafe unverkennbar: Weil ihr eine rechtsförmliche Praxis des staatlich organisierten Strafens entspricht, profitiert sie vom Bonus der Institutionalisierung. Nicht die praktische Bewährung oder gar die Bestätigung des Strafkonzepts, sondern nur, aber immerhin, die Schwerkraft seiner traditionellen Einübung macht es dem Konzept der Gesellschaft ohne Strafe überlegen, dessen faszinierende Morgenröte am Horizont in weiter Ferne scheint. Vertrautheit hingegen begründet Zutrauen. Im Sinne einer Konvention, die Gewöhnung bewirkt, hat das praktizierte Strafkonzept gegenüber dem imaginären Modell der Gesellschaft ohne Strafe einen Vorteil.
Die staatliche Strafe ist eine in Rechtsform gegossene soziale Institution. Mit der Rechtsform verbindet sich eine gewisse Starrheit des Förmlichen, die bestandsfest genug ist, um auch unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen fortzubestehen. Zu einer in allen Gesellschaften vorhandenen rechtsförmlichen Institution verfestigt, lassen sich das Strafrecht und die staatliche Strafe, realistisch betrachtet, nicht abschaffen, sondern nur fortentwickeln und verändern. Der Anspruch der Kriminalpolitik der Aufklärung, das "moderne" Strafrecht vollständig den Maßstäben der vernunftgerechten Begründung zu unterwerfen, stößt hier an seine Grenzen. Raum für die Vernunft gibt es hingegen bei der Frage, wie die Institution Strafe so verändert werden kann, dass sie den Vorstellungen eines guten gerechten Lebens möglichst nahe kommt. Das Beste ist eben, das Beste daraus zu machen.
Es ist darum zumindest verständlich, dass aus einer auf Lebenserfahrung und Risikovermeidung setzenden Grundeinstellung, wie sie gerade Juristinnen und Juristen zugeschrieben wird, das überkommene Strafkonzept weiter bevorzugt wird. Einer solchen Grundeinstellung entspricht es, vom status quo der institutionalisierten Strafpraxis ausgehend, die Beweislast für einen Systemwechsel den Advokaten einer Gesellschaft ohne Strafe zuzuweisen. Dies ist nicht zu beanstanden, solange klar bleibt, dass dieser Präferenz keine wissenschaftlich begründete Überlegenheit des Strafkonzepts entspricht. Eine solche Überlegenheit zu behaupten, würde der sozialen Institution Strafe allein wegen ihrer Existenz eine Vernünftigkeit zuschreiben und sie so mit HEGEL ("Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig") idealistisch überhöhen.
Vernunft kann Strafgewalt ideologiefrei nicht begründen, wohl aber begrenzen. Strafrecht ist reines Verbrechensbekämpfungs Begrenzungsrecht, welches untauglich ist, der Strafgewalt eine Legitimation zu verschaffen. Wo dies gleichwohl versucht wird, gerät die Strafrechtswissenschaft zum Büttel der Kriminalisierungspolitik. Die Existenz der Institution Strafe braucht als Ergebnis der sozialen Evolution keine Begründung. Optimistisch betrachtet, bewegt sich die Evolution von einem autoritären Gesellschaftsmodell, das Strafe rein als Herrschaftsmittel einsetzt, hin zu einem Modell, welches eines fernen Tages den Einsatz von Gewalt schlechthin ächten wird. Jedenfalls befinden wir uns irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Wir praktizieren die strafende Gegengewalt gegen Rechtsbrüche mit der Selbstverständlichkeit des Luftholens, wissend oder zumindest ahnend, dass das Strafritual atavistisch ist und in unabsehbarer Zukunft durch gewaltfreie Formen der Konfliktlösung abgelöst werden könnte. So entsteht der Eindruck eines vermeintlichen Begründungsbedarfs für die Strafpraxis, der in Wahrheit nur Ausdruck mangelnder Einsicht oder Bereitschaft zur Akzeptanz des derzeitigen gesellschaftlichen Übergangsstadiums ist. Insofern jenes Stadium unter anderem durch die Existenz der Strafe als soziale Institution gekennzeichnet ist, ist diese Existenz nicht begründungsfähig. Beim Strafen stringent sein und Maß halten sind die einzigen Devisen, welche rational begründbar sind.
Demnach hat man sich realistischerweise mit einer auch in Zukunft erwartbaren Dominanz der Vorstellung der Notwendigkeit von Strafe abzufinden. Gleichwohl ist die mangelnde wissenschaftliche Begründbarkeit der Präferenz für das Strafkonzept nicht bedeutungslos, sondern wirkt sich auf dessen praktische Ausübung aus.
Gewiss ist die Frage, ob eine Gesellschaft völlig ohne Strafe auskommt, von der Frage zu unterscheiden, ob bei institutioneller Gegebenheit von staatlicher Strafe und eines diese organisierenden Strafrechts im Einzelfall Strafe zu verhängen sei. Im ersten Fall geht es um den Begriff der Strafe, im zweiten um ihre Verwirklichung. Doch besteht zwischen beidem zumindest insoweit ein Zusammenhang, als die mangelnde wissenschaftliche Begründbarkeit der sozialen Institution Strafe die möglichen Argumente für eine Begründung der Verhängung von Strafe im Einzelfall begrenzt. Die Begründung der Bestrafung des Autors eines individuell zurechenbaren Tatunrechts kann keine vollständige Begründung in dem Sinne sein, dass sie die grundsätzliche Unent-behrlichkeit der Institution Strafe einschlösse. Und doch wäre dies eigentlich erforderlich, um die Voraussetzungen der Verhängung von Strafe im Einzelfall hinreichend zu begründen. Für den Fall, dass sich die Strafe als soziale Institution nicht nötig erwiese, wäre nämlich keine Verhängung von Strafe im Einzelfall begründbar. Wo es an der Notwendigkeit der Existenz einer Gattung fehlt, kann auch die Notwendigkeit der Existenz einer darunter fallenden Spezies nicht dargetan werden. Nun ist aber die Unnötigkeit der Institution Strafe nicht beweisbar, ebenso wenig wie ihre Nötigkeit. Angesichts der wissenschaftlichen Unentscheidbarkeit der Kontroverse um die Notwendigkeit der Strafe als soziale Institution muss dieses Problem bei der Verhängung von Strafe im Einzelfall ausgeklammert werden. Die Begründung von Strafe im Einzelfall ist somit dogmatisch, insofern sie die grundsätzliche Notwendigkeit der Institution Strafe als prinzipiell unüberprüfbares Dogma voraussetzt.
In der dogmatischen Jurisprudenz ist dies kein Sonderfall. Und doch bleibt durch die ausklammernde Wirkung der dogmatischen Unterstellung die materielle Begründung von Strafe im Einzelfall eigentümlich defizitär und damit prekär. Es verbleibt ein dunkler Fleck im ansonsten formal makellosen Begründungsmuster. Die Sensitivität dafür verschafft eine skeptische Distanz zum Strafen und ein schlechtes Gewissen beim Strafen. Strafe ist eine per se ethisch problematische Gegengewalt, eine absichtliche Übelzufügung als Antwort auf geschehenes Übel. Als reaktive Gewalt gegen eine Rechtsverletzung stellt sie sich zwar nicht auf dieselbe Stufe wie der Rechtsbruch. Aber es bleibt das Odium der an sich unzivilisatorischen "rohen" Gewalt, das durch die vom französischen Philosophen MICHEL FOUCAULT (1926-1984) vermittelte Erkenntnis der historischen Abschwächung des Strafübels, welchem der Körper ausgesetzt ist, unter gleichzeitiger Intensivierung des Zugriffs auf die Psyche eher noch verstärkt wird.
Das gefühlsmäßige Unbehagen wird durch vernunftgestützte Zweifel an der Notwendigkeit der Härte der praktizierten Strafwirklichkeit ergänzt. Um legitim zu sein, muss die Strafe Mindestbedingungen genügen. Dazu gehört namentlich die Verhältnismässigkeit des Eingriffs in die Freiheit des Rechtsbrechers. Bereits die Eignung der Strafe zur Erreichung der ihr zugeschriebenen präventiven Zwecke wird in der kriminologischen Literatur skeptisch eingeschätzt. Das Strafjustizsystem wird eher als Instanz der Verwaltung denn der Kontrolle oder Bekämpfung und mitunter sogar als Instanz der Beförderung von Kriminalität verstanden." Angesichts der empirisch gestützten Annahme, dass strafrechtliche Sanktionen nach spezialpräventiven Gesichtspunkten gegenseitig weitgehend austauschbar sind, ist es in der Regel zweifelhaft, ob die zu verlangende Erforderlichkeit von Strafe effektiv gegeben ist. Bei der nötigen Proportionalität im engeren Sinne lässt sich fragen, ob der gewöhnlich entsozialisierende Freiheitsentzug, der mehrheitlich Menschen betrifft, die ohnehin sozial benachteiligt sind, mit Prinzipien der Humanität und Solidarität vereinbar ist. Der Rückbezug des Sanktionensystems auf das Koordinatensystem der Menschenrechte macht die Härte der praktizierten Strafwirklichkeit vollends fragwürdig. In der Festsetzung der Strafe findet nicht nur die Bewertung der Tat Ausdruck, sondern auch das Niveau der Kultur und Zivilisation der Gesellschaft: Sage mir, wie du strafst, und ich sage dir, wie deine Gesellschaft beschaffen ist.
Eine dem freiheitlichen Rechtsstaat angemessene Sozialkontrolle durch Strafe setzt sich Grenzen: Überreaktionen sind wie auch bei informellen Strafpraktiken schädlich. Die rechtsstaatliche Strafpraxis ist denn auch den Tugenden der Formalisierung, also Prinzipientreue, Klarheit und Bestimmtheit verpflichtet. Sie muss die mit Strafe verbundene zwangsweise staatliche Bemäch-tigung des Rechtsbrechers mit den Grundwerten einer liberalen bürgerlichen Gesellschaft in Einklang bringen. Aus dem Straftadel als Verantwortungsappell folgt die anspruchsvolle Aufgabe, bereits bei der Urteilsfindung und erst recht bei der Strafvollstreckung dafür Sorge zu tragen, dass der Rechtsbrecher als Person und Mitbürger in eine Beziehung unter Gleichen einbezogen wird. Dazu gehören "Gegensteuerungsmassnahmen“ beim Vollzug von Strafsanktionen, welche deren faktische Tendenz, in der Selbstgerechtigkeit von Sicherungs und Besserungsanliegen über den Gefangenen objekthaft zu verfügen, zumindest bremsen.
Zudem besteht Anlass zur reformatorischen Überprüfung einer möglichen Absenkung des Härtegrades der Strafpraxis. Eine solche Minimalisierungsstrategie kann als zielnahes realistisches Äquivalent zum prinzipiellen Verzicht auf Strafe ("Abolitionismus") verstanden werden. Die Frage nach der Notwendigkeit von Strafe reduziert sich damit zur Frage: "Wieviel Strafe braucht die Gesellschaft?" Der Wechsel von der Grundsatzfrage zur Frage nach dem rechten Maß ist Ausdruck eines Arrangements mit den bestehenden Verhältnissen, die "nur" reformiert, als solche aber realistischerweise nicht zur Disposition gestellt werden können. Die Reformbemühungen richten sich einerseits auf eine Absenkung der Strafhäufigkeit und des Strafpegels und damit auf die Verkleinerung des Strafübels. Andererseits stützen sie Bemühungen um eine Minimalisierung der Strafe über ihren eigenen begrifflichen Bereich hinaus in Richtung auf Alternativen zu strafenden Reaktionsformen. Das Spektrum von "Alternativen" zur Kriminalstrafe reicht von einer basisdemokratischen Konfliktaufarbeitung nach dem Muster der restorativejustice bis hin zu krypto pönalen Sanktionen ohne förmlichen Strafmakel.
Im Zwischenbereich jener Fälle, wo die symbolische Eindrücklichkeit der strafrechtlichen Verantwortungszurechnung zwar geboten, eine Verminderung der Ressourcen des Täters aber nicht zwingend erscheint, kann die bloße Verwarnung mit Strafvorbehalt die Strafe ersetzen. Die Funktionsäquivalenz der bloßen Verwarnung mit Strafvorbehalt zur Strafe in solchen Fällen ergibt sich daraus, dass die Strafe neben der Übel zufügenden Reaktion die kommunikative Komponente einer damit an den Rechtsbrecher und die Rechtsgemeinschaft adressierten Botschaft enthält. Die Funktion der Strafe, das kollektive Bewusstsein anzusprechen und den "Gefühlshaushalt" der Gemeinschaft wieder ins Lot zu bringen, hat eigene Bedeutung neben der Übelzufügung, mag auch die symbolische Kraft des Strafrechts "auf den Knochen von Menschen" erarbeitet werden. Dies ermutigt vielfach dazu, es mit der tadelnden Verantwortungszuweisung für geschehenes Unrecht bewenden zu lassen.
In Zeiten der "punitiven Aufrüstung der Kriminalpolitik" (GARLAND) ist die Formulierung der erwähnten reformatorischen Zielrichtungen gewagt geworden. Sie klingen heute eigentümlich idealistisch und weltfremd. Dennoch folgen Bemühungen zur Minimalisierung des Strafübels der inneren Logik eines, soweit möglich, rationalen und menschengerechten Strafens, welches die Begründung dafür, dass Strafe wirklich sein muss, schuldig bleibt. Eingedenk des daraus resultierenden ethischen Unbehagens mit der strafenden Gegengewalt und der empirisch gestützten Enttäuschung in sie gesetzter Wirksamkeitserwartungen sollte beim Einsatz der Strafmittel Zurückhaltung geübt werden. Die Verbindung zwischen der mangelnden rationalen Belegbarkeit der Notwendigkeit von Strafe und dem Plädoyer für eine Reduzierung praktischer Bestrafungsaktivitäten aufzuzeigen, ist nicht nur ein Anliegen wissenschaftlicher Stringenz.
Es geht dabei auch um die Begründung der Rationalität einer minimalistischen Kriminalpolitik, welche ansonsten der freien Konkurrenz mit einer Kriminalpolitik des harten Durchgreifens ausgesetzt wäre. Mit dem Zusammenhang zwischen der wissenschaftlichen Unbegründbarkeit von Strafe und dem minimalistischen Anliegen ist der missing link für die Rationalität des minimalistischen Anliegens gefunden: Einzig diese kriminalpolitische Position kann vor einem Forum der Vernunft bestehen. Die Überlegenheit des minimalistischen Arguments mag einer "akademischen" Rationalität entsprechen, die es schwer hat, sich im Konzert der politisch tonangebenden Stimmen Gehör zu verschaffen. Sie ist nichts desto weniger eine Hoffnung, die der von Rationalität inspirierten Wissenschaft des Strafens verbleibt.
Man mag skeptisch sein, ob diese Hoffnung Chancen hat, sich zu erfüllen. Sie entstammt einer Zeit, in der Vernunft und Humanität als Vorgaben der Aufklärung nicht nur die Philosophie des Strafens prägten, sondern auch den social control talk der Strafpraxis bestimmten. Inzwischen hat sich unverkennbar die Sprache der kriminalrechtlichen Kontrollpolitik verändert: Begriffe wie Sozialtherapie, Resozialisierung, Behandlung und Diversion (wörtlich "Umleitung"; gemeint ist die Abkehr von Strafe und die Hinwendung zu alternativen Reaktionsformen) werden kaum noch verwendet. Im neuen Vokabular finden sich stattdessen Worte wie demonstrative Eindrücklichkeit, Risikobeherrschung, Sicherung und Neutralisierung. Die Sprachwahl signalisiert einen Perspektivenwechsel: Die neue Ökonomie des Strafens, die man als Ausdruck wie als Konsequenz der Spätmoderne 86 verstehen kann, setzt ungeniert auf die Eindrücklichkeit der Strafe und scheut nicht das Bekenntnis zu Sanktionshärte, wo diese den Interessen der Gesellschaft dienlich erscheint. Die von FOUCAULT analysierte camoflage des Freiheitsstrafvollzugs als therapeutische Wohltätigkeit ist einem unverhüllten Bekenntnis zur Expressivität des Strafens gewichen. Die neue Strafmentalität, die, in den Worten HASSEMERS, "freudig" zelebriert wird, signalisiert die Ankunft eines spätmodernen Verständnisses von Strafe, welches auf zivilisatorischen Begründungsschnickschnack verzichtet, Vergeltungsrituale zelebriert und dabei ungeniert auf populistische Wirkung schielt. Aus dieser eingeschränkten Perspektive bleibt so vordergründig für eine Infragestellung der Strafe weder als Institution noch gar als Konzept einer vernunftbestimmten Reaktion auf das Verbrechen als Auslöser sozialer Irritationen Raum. Indessen bietet das hier zugrunde gelegte Reflexions Modell der theoretischen Grundlagenfächer der Rechtswissenschaft ein Fundament für angeblich unzeitgemäße Fragen und Analysen gerade auch in solchen Konstellationen, in denen das politische Umfeld und das herrschende Verständnis einer Reflexion und einem Fortschritt eigentlich entgegenstehen.


Kriminalitätsangst wird gezielt erzeugt
Die Wahrnehmung von Kriminalität wird gesteuert, damit bestimmte Innenpolitiken durchsetzbar sind. Es geht um Absicherung von Reichtumsunterschiedenen, ruhige Profitemachen, Erhalt formaler Macht und anderer Privilegien. Mensch soll deshalb Angst haben vor ...
  • Fremden
  • Dunkelheit
  • Abweichungen von der Normalität
Das führt - neben anderen geschürten Ängsten, z.B. der Existenzangst bei Verlust der Ausbeutung am Arbeitsplatz oder der Erniedrigung in patriarchaler Ehe, zu einem stromlinienförmigen Verhalten.

Doch schon die Ausgangswerte sind falsch. Kriminalität kommt im Alltag und zwischen Bekannten am häufigsten vor, zwischen Fremden selten und im menschenleeren dunklen Wald eher nie. Angst vernebelt aber nicht nur die Wahrnehmung, sondern schafft auch neue Gefahren.

Beispiel Pädophilie
Menschen, die eine sexuelle Orientierung auf Minderjährige haben, sind stark benachteiligt - vor allem bei der sogenannten "ausschließenden Pädophilie" (nur auf Kinder fixiert) oder Hebephilie (nur auf Jugendliche). Denn sich können (und sollten!) ihre sexuellen Phantasien nicht mit konkreten Menschen ausleben. Nicht einmal die Selbstbefriedigung mit Fotos ist erlaubt. Um das nachzuvollziehen, müssten heterosexuelle Menschen, die auf andere Erwachsene stehen, mal überlegen, wie das wäre, wenn darauf eine Strafe stände: Kein Beischlaf vor dem Tod!

Von daher wäre, wenn überhaupt, Mitleid die richtige Reaktion. Aber was passiert: Lynchen oder die Variante ohne dreckige Hände, nämlich das Klatschen bei lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung, sind groß in Mode. Das macht aber die Gefährdungslage deutlich schlimmer. Denn wenn etwas helfen würde, wäre es die angstfreie Möglichkeit, sich als pädophil zu outen und darum zu bitten, keine Verlockungssituationen versehentlich herbeizuführen (oder mit darauf zu achten, keine enthemmenden Substanzen einzunehmen ... es gibt viele Wege). Angesichts der Aufheizung der Gesellschaft wird aber kaum noch jemensch die eigene Pädophilie zugeben. Das aber macht alles gefährlicher. Die Strafe verhindert also Kriminalität nicht, sondern fördert sie - sehr direkt!

Gepaart ist die Hetze gegen Pädophile mit der gemachten Fremdenangst. Gewarnt werden viele Kinder vor dem großen fremden Mann. Doch der Täter sind am häufigsten Vater, Mutter, Onkel usw. Weit verbreitet ist es auch noch in anderen geschlossenen Gemeinschaften.

Beispiele

Alternative und Umgangsvarianten
Aus "Unter Kontrolle: Wie Pädophile mit ihrer Neigung leben", auf: Deutschlandfunk, 6.3.2018
Etwa ein Prozent aller Männer sollen pädophile Neigungen haben. Pädophile, die für sich in Anspruch nehmen, keine Kinder zu missbrauchen und keine Kinderpornographie zu benutzen, nennen sich Non-Offender. Sie leben in dem Bewusstsein, ihre sexuelle Präferenz nie ausleben zu können.

Informative Seiten zur Frage des Umgang mit Pädophilie

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