Laienverteidigung

PATRIARCHAT, KAPITAL UND GESELLSCHAFTLICHE REPRODUKTION VON SEXUELLER GEWALT

Modernisiertes Patriarchat


Was ist Patriarchat? · Strukturen und Gewalt · Ausblick · Modernisiertes Patriarchat

Dieser Text basiert auf zwei Annahmen in Bezug auf die Frage von reproduktiven Tätigkeiten und alltäglicher Dienstleistung: Einer zur Verteilung dieser Arbeitsleistung alten Patriarchat und einer zweiten zur Verschiebung der Zugriffsmethoden in modernen Gesellschaften.

Reproduktives Hinterland: Die Rollenverteilung im Patriarchat
Für die hier folgende Betrachtung soll als zumindest ein prägendes Kennzeichen des Patriarchats (es ist nicht das einzig Wichtige) benannt werden, dass eine bestimmte Rollenzuweisung und –verteilung bestand und diese jeweils konkreten Personen nach einem nicht zufälligen Muster aufoktroyiert wurden. Die Aufteilung großer Bereiche gesellschaftlicher Tätigkeiten erfolgte nach Geschlecht. Sie war nicht freiwillig, sondern eher eine Art Zuordnung, wobei die in dieses Zuordnungsschema hineingepressten Personen entsprechend zugerichtet und sozial geformt wurden. Diese Aufteilung war notwendig, um Arbeitskraft zu erpressen - im Dienste von Gott, Fürst oder Kapital. Denn jede Form von Herrschaft verbraucht einen großen Teil ihrer Ressourcen zur Absicherung der vorhandenen Privilegien und Hierarchien. Das machte immer erforderlich, menschliche Arbeitskraft zu kanalisieren und in die Projekte der Herrschenden umzuleiten. Hierfür sind im Laufe der Geschichte vielfältige Lösungen entwickelt worden – von der Sklavenhaltung über Frondienste bis zu Steuern oder dem Entzug subsistenter (d.h. sich selbst versorgender) Lebensmöglichkeiten, damit die Menschen zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen sind. Schon früh, d.h. nicht erst mit Entstehung des Kapitalismus, setzte sich eine geschlechtsspezifische Rollenverteilung durch. Es ist wenig hilfreich, diesen Vorgang verkürzt als Unterwerfung „der“ Frauen durch „die“ Männer zu denken – auch wenn es aufgrund der Rollenverteilung vor allem Männer waren, die die praktische Durchsetzung auf der formalen Ebene organisierten. Denn wichtiger als solche formalen Aspekte sind bei der Durchsetzung von Rollenmustern diskursive Steuerungen, d.h. die Frage, wie Menschen denken über sich, über andere und über die Strukturen in der Gesellschaft – und wer dieses Denken steuert bzw. beeinflusst. In den gesellschaftlich als anerkannt geltenden Werten, in Normen, Kategorien und Begriffen, selbst in Mimik und Gestik verstecken sich Denkmuster, die nicht isoliert voneinander entstehen, sondern zentralen Diskursen folgen – also dem, was so allgemein gedacht wird, „mainstream“ ist. Sie werden nicht allein von einzelnen Gruppen hergestellt, während andere nur Opfer der Diskurse sind. Vielmehr sind (fast) alle gleichzeitig TäterInnen und Opfer. Das gilt auch für die patriarchalen Rollenzuweisungen: Erwartungshaltungen an die Geschlechter, Behauptungen geschlechtsspezifischer Eigenschaften und daraus folgender gesellschaftlicher Einhegungsnotwendigkeit – all das passiert in allen Köpfen, d.h. Männer und Frauen sind gleichermaßen TäterInnen in einem Spiel, das den von ihnen abstrahierten Logiken folgt und beide in Unfreiheit, nämlich in vorgegebene Rollen presst. Daran ändert nichts, dass diese Verteilung so erfolgt, dass in den Binnenhierarchien des traditionellen Patriarchats Männer regelmäßig über Frauen stehen (Hierarchien, Lohnhöhen, Eigentumsverteilung usw.), über sie bestimmen und Frauen dem Mann zugerechnet werden (Namensrecht, Familienstand usw.). Solche Unterschiede dürfte durch den Blick auf den Gesamtdiskurs nicht übersehen werden – die Zerschlagung der Binnenhierarchien in der Gesellschaft ist noch lange nicht erledigt. Aber es wäre falsch, die ursächliche Schuld in den Individuen zu suchen – auch wenn unbestritten ist, dass diese (fast) immer ihren Teil beitragen und daher auch einzeln gefordert sind, mit den Traditionen zu brechen, ohne neue Unterdrückungsverhältnisse zu schaffen.

Genau hier entsteht mit der Modernisierung der Gesellschaft ein neues Problem. Der Kampf gegen das traditionelle Patriarchat ist nicht beendet, hat aber (glücklicherweise) bereits die eine oder andere Wirkung gezeigt. Dummerweise hat er mit dieser (Teil-)Emanzipation von einer Fessel der Menschheit mitgeholfen, neueren Unterdrückungsverhältnissen den Weg zu ebnen. Das geschah nicht bewusst und auch nicht nur an dieser Stelle, ist aber doch ein Blindfleck in diesem Befreiungskampf (wie auch in anderen Befreiungskämpfen). Die großen, als amorphe, kollektive Identitäten organisierten GegnerInnen (Kapital, Markt, Staat, Religionen usw.) haben eine bemerkenswerte „Intelligenz“ gezeigt, die bedrohlichen Protestwellen, Verweigerungs- und Alternativbestrebungen durch Verschiebungen in den Ausbeutungsverhältnissen nicht nur abzufedern, sondern selbst zum Steigbügelhalter moderner Hierarchien, Diskurse usw. zu machen.

Modernisierte Reproduktion: Gekaufte Körper
Während also alte Rollenmuster langsam (z.T. unerträglich langsam) zerfallen oder niedergekämpft werden, organisiert sich Herrschaft neu. Dominant ist dabei zur Zeit die grenzenlose Verwertungs- und Profitlogik, die aus allem das zu machen trachtet, was der Generierung von Kapital und Profit am besten dienst. Das führte und führt zu einer immer weiter voranschreitenden, ökonomischen Durchdringung (fast) aller Lebensbereiche und bewirkt damit eine Modernisierung, bei der traditionelle Rollen und Aufgabenbereiche neu verteilt werden. Neu heißt nicht: gerechter oder weniger herrschaftsförmig. Sondern heißt zunächst nur: Anders, nach neuen Kriterien verteilt. Diese ökonomische Durchdringung ist Angetrieben von dem ständigen, einem Zwang ähnelnden Antrieb zur Inwertsetzung aller Teile der Gesellschaft – der Produkte menschlicher Arbeit, der Ideen und des Lebens selbst. Sie bricht einerseits global über die Gesellschaft herein, dringt andererseits aber auch an jedem Ort in die Ritzen des Lebens, bedroht jede Privatheit und gewinnt fortwährend neues Terrain aus den bislang noch nicht verwerteten Bereichen des Lebens. So entsteht eine Totalität – der Fetisch, alles und jedeN zu verwerten, wirkt immer und überall. Ob angesichts solch prägender Mechanismen die alten Muster – also z.B. die Verteilung nach Geschlechtszugehörigkeit bzw. –zuweisung – gänzlich verschwinden oder nur ergänzt, verformt bzw. vermischt werden mit neueren Wirkgrößen, lässt sich nicht vorhersagen. Daher soll hier nur dargestellt werden, welche neuen Muster heute prägen und welche Wirkungen das nach sich zieht.
Die globale Ausdehnung aller Wirtschaftsbeziehungen macht den permanenten Zugriff auf (theoretisch) alle Rohstoffe, alle Lebewesen, alle Flächen, alles Wissen, alle Infrastruktur und alle Arbeits-/Denkkraft der Menschen möglich. Der Prozess, sich diese Zugriffe zu sichern, ist sehr komplex und ungeheuer gewaltförmig. Von Kriegen (moderner Imperialismus) über die Abtrennung der Menschen von ihren Lebensgrundlagen (Vertreibung vom Land, Umverteilung von unten nach oben, Gesetze, Zäune und mehr) bis zur Inwertsetzung von allem und jedem greifen übermächtige Mechanismen in die gesellschaftlichen Subräume und sortieren Zugriffsrechte und Handlungsmöglichkeiten. Gleichzeitig überziehen Bildungsprogramme, Medienschlagzeilen, Wahrheitsregimes in Büchern und Internetportalen, inszenierte Gemeinwillensverkündungen und andere Mittel der Diskurssteuerung die gesellschaftlichen Debatten. Sie formen Wahrnehmung und Werten. Auch wenn all dieses angesichts konkurrierender Interessen und komplizierter Elitenverhältnisse nicht vollständig einheitlich ausgerichtet ist, sind doch einige Richtung als dominant erkennbar:
  • Die Menschen sollen ihre Lebensreproduktion nicht direkt, z.B. auch eigener Schaffenskraft mit eigenen Produktionsmitteln, sondern vermittelt über ein Lohnarbeitsverhältnis und die Nutzung von Geld zum Einkauf der nötigen Versorgung erreichen.
  • Alle Ressourcen sollen zu diesem Zwecke permanent verfügbar sein.
  • Die Steuerung der Prozesse ist nicht gleichberechtigt, sondern in der Hand derer, die über die entsprechenden Privilegien verfügen.
  • Abweichungen werden durch diskursive Manipulation oder repressiven Druck verhindert oder eingegrenzt.

Subjektiv funktional: Mitschwimmen und Nutzen der Angebote
Für die in dieses System ungefragt eingebundenen Menschen ergibt sich angesichts der Dominanz der so gestalteten Ordnung bei gleichzeitig nur noch schwer zugänglichen Alternativen ein deutlicher Druck, sich systemkonform zu verhalten, d.h. eigene Vorhaben so umzusetzen, wie es der Gesamtlogik entspricht. In Kapitalismus & Co. mitzuspielen, erscheint funktional – alles andere abwegig oder zumindest wenig erfolgversprechend. Das Gesamtsystem stellt ein Angebotsmuster bereit, innerhalb dessen die Menschen ihre (scheinbar) eigenen Wünsche (scheinbar) optimal umsetzen können – z.B. durch den Besitz von Gütern oder Geld, durch das Ausnutzen formaler Wege bei der Umsetzung von Ideen, durch die Orientierung von Lebenspraxis an den formal oder diskursiv vorgegebenen Normen.

Nicht effizient, aber: Die Masse macht‘s
Das Bild der „Intelligenz“ von Staaten oder dem Kapitalismus als aktuelle Gesamtheit vieler Teil der großen Maschine ewiger Verwertung und Profitjagd ist übertragen. Natürlich gibt es nicht wirklich eine Intelligenz von Staaten oder Märkten. Das Bild, das hier eine übernatürliche Persönlichkeit wirkt, stellt nur den Versuch dar, mit Begriffen und Denkfiguren aus der menschlichen Erfahrung Phänomene zu beschreiben. Das ist mit den Denkprothesen der Marke „Gott“, Himmel und Hölle usw. nicht anders gewesen. Im Fall von Staat, Markt usw. sind es sehr große, gewaltförmige und –tätige „Figuren“, die wirken. Sie sind nicht selbst intelligent oder überhaupt irgend etwas, sondern sie saugen ihre Fähigkeiten aus den Köpfen und Leibern derer, die sie in ihre Maschine integrieren und anzapfen. Das verläuft nicht besonders effizient, weil das Ziel nicht die Kooperation der Unterschiedlichen und Eigenartigen ist, als welche die Menschen ohne hierarchische und diskursive Steuerung zusammenkommen würde. Sondern die Denk- und Arbeitskraft der Menschen soll für bestimmte Zwecke, zumindest für den Nutzen nur Weniger eingefangen werden. Der dafür nötige Aufwand an Beeinflussung, Steuerung und Kontrolle ist immens. Doch die Masse macht’s. Den großen, abstrakten Kollektivitäten gelingt es, derartige Massen von Menschen mit viel Zeitaufwand einzubringen, dass insgesamt eine erhebliche Wirkung entsteht.

Was heißt das für das Ziel „Selbstorganisierung“?
Viele politisch aktive und auch etliche andere Menschen träumen von Alternativen zum üblichen Leben – manche nur für kurze Phasen im Leben, andere länger oder erst spät. Die Dominanz der Angebotsmuster in der Gesellschaft schafft nun eine absurde Situation: Auch für die Verwirklichung scheinbar alternativer Ideen scheint die Nutzung der „normalen“ Möglichkeiten erfolgversprechend. Das Ergebnis ist verheerend:
  • Alternative Wohnprojekte, die über Bankkredite finanziert, von selbstgeschaffenen Vereinen verwaltet werden – oder wo Projekte gar eigene, bankähnliche Strukturen aufbauen usw.
  • Politische Oppositionsgruppen, die sich hierarchisch organisierten, kollektive Identitäten und Zugangsbeschränkungen schaffen, Parlamente und verregelte Demonstrationen als Handlungsrahmen wählen.
  • Orientierung der eigenen Strategien an dem (scheinbar) Funktionalen – von Eigentumsbildung bis zur Hörigkeit gegenüber ExpertInnen, ob nun vor Gericht oder bei fachlichen Fragen.
  • Nutzung der weltweit organisierten Stoff- und Wissensströme für eigene Zwecke durch Nutzung des Tauschmittels Geld zum Einkauf erzwungener Arbeitsleistung und Ressourcen i internationalen, anonymen Markt.
  • In der Gesamtheit verschwindet auch – zumindest vorübergehend – die Fähigkeit, selbstbestimmt zu agieren, d.h. es entsteht eine Kultur des eigenen Lebens, in dem die Fremdsteuerung über die Angebotes des Systems die eigene Entscheidung weitgehend verdrängt.
Diese und die vielen weiteren Verflechtungen des eigenen Lebens und eigener Organisierungen zu analysieren, zu demaskieren und durch freie Kooperationen zu ersetzen, wäre das Ziel der Selbstorganisierung. Dieses bedeutet einen grundsätzlichen kulturellen Bruch. Eine – eher modische – Hinwendung zu symbolhaften Positivbezügen auf Selbstorganisierung, Selbstbestimmung oder gar die Allgemeinfloskel „Anarchie“ hilft da wenig bis nichts. Denn alles, auch das Label „Anarchie“, ist nicht gegen die Instrumentalisierung des übermächtigen Systems gefeit. Im Gegenteil – selbst solche sich als oppositionell inszenierenden Nischen sind schon lange kaum noch etwas anderes als Verkaufsmessen für Buttons, Bücher, Mitgliedschaften sowie Schlachtfelder um Hegemonien in gesellschaftlichen Subräumen. Die Welt da draußen zeigt das jeden Tag deutlich.

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