Alltagsalternativen

TUTTE BIANCHES IN ITALIEN

Quellen


1. Der Körper als Waffe des Zivilen Ungehorsams: ”Wenn die Welt zu verkaufen ist, ist rebellieren selbstverständlich”
2. Zapatismus, Ya Basta und die Tutte Bianches
3. Die Rolle der Kommunikation: Die Unsichtbaren sichtbar machen
4. Organisation und ‘Centri Soziale’
5. Grüne Züge
6. Perspektiven
7. Quellen

  • Artikel von Jess Ramrez Cuevas in La Jornada (Mexiko) ”der Körper als Waffe des Zivilen Ungehorsams”- Oktober 2000
  • ‘Das Zeitalter der Klandestinität” - Gedanken und Aktionen von Ya Basta vorgeschlagen.

Kontakt: Associazione Ya Basta ! For peoples dignity and against neoliberalism CSOA Leonkavallo, Via Watteau 7, 20125 Milano, Italien, www.yabasta.it oder www.ecn.org/yabasta.milano

Aus Hardt, Michael/Negri, Antonio (2004): „Multitude“, Campus Verlag in Frankfurt (S. 293 ff., mehr Auszüge ...)
TUTE BIANCHE
Die radikaldemokratischen Bewegungen Europas spiegelten sich Ende der 1990er Jahre drei oder vier Jahre lang am deutlichsten in einer Gruppe italienischer Aktivisten wider, die als "Tute Bianche" (Weiße Overalls) bekannt waren. Diese "Tute Bianche" waren in den "centri sociali" entstanden, wo Aktivisten Mitte der 1990er Jahre damit begonnen hatten, über die grundlegenden Veränderungen in unserer Gesellschaft nachzudenken.
Die italienischen "centri sociali" ihrerseits waren als alternative gesellschaftliche Räume in den 1970er Jahren entstanden (vgl. dazu Klein 2003, 266-269). Gruppen junger Menschen übernahmen dabei ein leer stehendes Gebäude und schufen darin einen eigenen Ort für sich, ein soziales Zentrum, zu dem häufig eine gemeinsam geführte Buchhandlung, Cafés, Radiosender, Veranstaltungsräume für Lesungen und Konzerte gehörten - eben alles, was diese jungen Menschen brauchten. In den 1980er Jahren hatte die Jugend in den sozialen Zentren den Tod der alten Arbeiterklasse und das Ende der fordistischen Fabrikarbeit ihrer Eltern erlebt und betrauert; die Tragödie verstärkte sich noch durch eine ganze Reihe selbst zugefügter Wunden, durch Heroin, Einsamkeit und Verzweiflung. Alle großen Industriestaaten durchlebten diese Erfahrung, aber da in Italien der Klassenkampf in den 1970er Jahren besonders heftig getobt hatte, war die italienische Jugend in den 1980er Jahren besonders betroffen. In den 1990er Jahren jedoch war es mit der Trauer vorbei und die Jugend in den "centri sociali" erkannte allmählich das neue Arbeitsparadigma, das ihre Erfahrungen prägte: die mobile, flexible, prekäre Arbeit, die so typisch für den Post-Fordismus ist und die wir in Kapitel 2 beschrieben haben. Dieses neue Proletariat stellten nicht mehr die traditionellen "Blaumänner" der alten Fabrikarbeit dar, sondern die "Weißen Overalls".
Die Bewegung der "Tute Bianche" tauchte zum ersten Mal Mitte der 1990er Jahre in Rom auf, zu einem Zeitpunkt, da die traditionellen Parteien und Organisationen der italienischen Linken zunehmend an den Rand gedrängt wurden. Die "Tute Bianche" betonten von Anfang an, dass sie keiner politischen Gruppe oder Partei nahe stünden. Sie seien vielmehr "unsichtbare" Arbeiter ohne feste Verträge, ohne Sicherheit, ohne Identifikationsgrundlage. Die weiße Farbe ihrer Overalls sollte diese Unsichtbarkeit symbolisieren. Und diese Unsichtbarkeit, die ihre Arbeit charakterisierte, sollte sich auch als die große Stärke dieser Bewegung herausstellen.
Schon bald erwiesen sie sich als Meister bei der Organisation von Raveveranstaltungen in den Großstädten. Jederzeit und allerorten trieben sie in kürzester Zeit riesige Lautsprecheranlagen und ganze Wagenkarawanen für riesige, karnevaleske Tanzparties auf. Urplötzlich tauchten Tausende junger Menschen auf, um die ganze Nacht zu tanzen. Und die "Tute Bianche" vermengten diese Festivalarbeit mit ihrem politischen Aktivismus. Auf den Straßen beklagten sie die miserablen Lebensumstände der neuen prekären Arbeiter, protestierten sie gegen deren Armut und forderten sie ein "garantiertes Einkommen " für alle. Ihre Demonstrationen schienen wie aus dem Nichts zu kommen, so wie Ariel plötzlich in Shakespeares Sturm auftaucht. Sie waren durchsichtig, unsichtbar. Ab einem bestimmten Zeitpunkt breiteten sich ihre Demonstrationen in verschiedenen Städten rasant aus. Die "Tute Bianche" begannen gemeinsam mit illegalen Einwanderern (anderen unsichtbaren Gliedern der Gesellschaft), politischen Flüchtlingen aus dem Mittleren Osten und anderen Befreiungsbewegungen Demonstrationen zu organisieren.
Als es im Zuge dessen zu ernsten Konflikte mit der Polizei kam, konnten die "Weißen Overalls" mit einem weiteren symbolischen Geniestreich auf warten. Sie begannen die Spektakel polizeilicher Repression mimetisch nachzuahmen: Wenn die Polizisten ihre volle Kampfmontur anlegten und hinter ihren Plexiglasschilden und gepanzerten Fahrzeugen wie Robocops wirkten, bewehrten sich auch die " Tute Bianche" mit weißen Knieschützern und Footballhelmen und verwandelten ihre Rave-Trucks in monströse Vehikel für ein Scheingefecht - ein Spektakel voller postmoderner Ironie.
Der wirklich entscheidende Entwicklungsschritt für die Organisation der "Tute Bianche" kam jedoch, als sie zum ersten Mal über Europa hinaus und nach Mexiko blickten. Sie waren der Überzeugung, Subcomandante Marcos und sein Zapatistenaufstand hätten die Neuartigkeit der veränderten globalen Situation erkannt. Wie die Zapatisten sagten: Man muss auf der Suche nach neuen politischen Strategien für die Bewegungen weiter gehen und dabei Fragen stellen, "caminar preguntando". Die "Weißen Overalls" schlossen sich deshalb den Unterstützergruppen für die mexikanische Revolte an und das weiße Pferd Zapatas wurde auch zu ihrem Symbol. Die Zapatisten sind berühmt für ihre weltweite Kommunikation via Internet, doch die "Tute Bianche" wollten mehr: Sie wollten physisch auf internationalem und globalem Terrain agieren, und zwar durch Operationen, die sie später als "Diplomatie von unten" bezeichneten. Zu diesem Zweckfuhren sie mehrmals nach Chiapas. Die "Tute Bianche" waren Teil des europäischen Geleitschutzes für den historischen Marsch der Zapatisten aus dem Lakandonischen Urwald nach Mexiko-Stadt. Sie befanden sich in dem gleichen Kampf wie die mexikanischen Ureinwohner, denn sie alle waren Ausgebeutete in der neuen und gewalttätigen Wirklichkeit, die das globale Kapital geschaffen hatte. In der neoliberalen Globalisierung waren räumliche Mobilität und zeitliche Flexibilität wesentliche Elemente sowohl für die Arbeiter in den Metropolen als auch für die indigenen ländlichen Bevölkerungen, die beide unter den neuen Gesetzen der Arbeitsteilung und Machtverteilung im neuen globalen Markt zu leiden hatten. Das wieder erwachte Proletariat aus Europas Metropolen brauchte eine Politik jenseits des bloßen Symbolismus undfand sie im Urwald von Chiapas.
Aus Mexiko-Stadt kamen die "Tute Bianche" mit einem stimmigen Projekt nach Europa zurück das ihre Aktionen gegen die neoliberale Globalisierung richtete. Als Seattle 1999 von den Protesten gegen das WTOTreffen erschüttert wurde, fuhren sie deshalb dorthin und lernten von den amerikanischen Aktivisten Techniken des zivilen Ungehorsams und gewaltlosen Protests, die in Europa bislang selten benutzt worden waren. Diese dort erlernten aggressiven und defensiven Taktiken fügten sich zu den ironischen und symbolischen Innovationen der Bewegung. Die "Tute Bianche" setzten ihre Reisen fort, sie fuhren wieder nach Chiapas, nach Quebec und waren beijedem internationalen Gipfeltreffen in Europa vor Ort, von Nizza bis Prag und Göteborg.
Letzte Station für die "Tute Bianche" waren die Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua im Sommer 2001. Die "Weißen Overalls" waren einer der zentralen Organisatoren der Proteste, die über 300 000 Aktivisten zusammenbrachten. Die "Tute Bianche" zogen friedlich zum Ort des Gipfeltreffens und leisteten so gut sie konnten Widerstand, als die Polizei sie mit Tränengas, Schlagstöcken und scharfer Munition attackierte. Dieses Mal jedoch wurde ihre ironische Mimikry von der Polizei mit intensiver Gewaltanwendung beantwortet, die eher an kriegsähnliche Zustände als an polizeiliches Handeln erinnerte. Einer der Demonstranten, Carlo Giuliani, wurde von der Polizei getötet. Die Empörung über die Polizeigewalt war in Italien und ganz Europa groß, und noch lange danach waren Gerichtsverfahren gegen die Brutalität der Polizei anhängig.
Nach Genua beschlossen die "Tute Bianche" zu verschwinden. Die Zeit sei vorbei, da eine Gruppe wie ihre die Bewegungen der Multitude anführen sollte. Sie hatten ihre Rolle als Organisatoren dergroßen Proteste bei internationalen Gipfeltreffen erffillt,- sie hatten daran mitgewirkt, die Protestbewegungen auszuweiten, und ihnen politische Kohärenz verliehen; und sie hatten versucht, die Protestierer zu schützen und deren Aggressivität von kontraproduktiver Gewalt in Richtung kreativer - oftmals ironischer - Ausdrucksformen zu lenken. Die vielleicht wichtigste Erfahrung der "Tute Bianche" war jedoch, dass sie eine den neuen Arbeitsformen adäquate Protestform geschaffen - Organisation in Netzwerken, räumliche Mobilität und zeitliche Flexibilität - und sie als kohärente politische Kraft gegen das neue globale Machtsystem organisiert hatten. Ohne diese Fähigkeit nämlich kommt heute keine politische Organisation des Proletariats mehr aus.

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