Stiftung Freiräume

VERSAMMLUNGEN ZU AKTIONEN MACHEN

Reclaim the streets & Co.


1. Einheitslatschen oder kreativ-widerständige Vielfalt?
2. Besetzungen und Blockaden als Versammlungen
3. Viele Aktionsideen und -beispiele
4. Reclaim the streets & Co.
5. Links und Materialien

Der Begriff Reclaim the Streets (zu Deutsch etwa Holt euch die Straße zurück) bezeichnet eine Aktionsform mit dem übergeordneten Ziel des gemeinschaftlichen Aneignens des öffentlichen Raums ... sagt Wikipedia. Damit ist das Besondere aber noch nicht wirklich ausgedrückt. Die Aktionsform ist selbstorganisiert und verdrängt den Autoverkehr, in dem auf einer Straße eine Partyzone geschaffen wird. Tripods und andere Blockadetechniken sorgen dafür, dass die Aktion nicht einfach schnell beendet werden kann. Ein erweitertes Konzept ist die Idee, kurz vor einer polizeilichen Räumung zu verschwinden und an einem verabredeten anderen Punkt wieder aufzutauchen - auch mehrfach wiederholbar.

Critical Mass
Auf Räder (Fahrrad, Inliner ...) auf den Straßen unterwegs sein, einfach chaotisch und immer in Bewegung. Den Verkehr chaotisieren - aber das Ganze nicht als organisierter Block, sondern wie ein zufälliges Zusammentreffen vieler Menschen, die unabhängig was voneinander tun (fahren, Kreidemalerei, Flugis verteilen). Eine Demo? Nein, wo denn ... EinE VersammlungsleiterIn? Ist doch gar keine Gruppe hier, ich bin ganz zufällig grad hier am langfahren ... usw.

Critical-Mass-Aktionen in London legal
Die Polizei hat den Teilnehmern von so genannten Critical-Mass-Aktionen in London mit Anzeigen gedroht, falls die Polizei im Vorfeld nicht informiert würde. Die Rechts-Abteilung der Organisation Friends of the Earth hat diese Androhung nun im Namen der Critical-Mass-Teilnehmer vor Gericht angefochten. Critical-Mass-Ereignisse entstünden spontan, weshalb es keine Organisatoren gäbe, die die Polizei informieren könnte, begründeten die Rechtsanwälte ihren Antrag. Die fünf Richter urteilten im Sinne der Critical-Mass-Vertreter und beschrieben in ihrem Urteil diese Events als gemeinschaftlich abgehaltene, unorganisierte Prozessionen, die nicht an die Polizei gemeldet werden müssen. (Quelle)

  • Critical Mass in Hamburg (Mai 2007)
  • Blog zur Aktion "Kampfradler"

Kreative Aktionen in bzw. an einer Demo
Aber selbst wenn es nur eine Latschdemo ist (im günstigsten Fall aber auch dann als Teil von mehr Aktionen, die aufeinanderfolgen oder nebeneinander laufen), muss es nicht auf diesen typischen Einheitsblock ohne Ausstrahlung nach außen hinauslaufen. In und neben einer Demo sind viele bunte Elemente denkbar. Im folgenden werden einige wenige aufgezählt - unendlich mehr sind denkbar. Der Kopf ist rund ...
  • Trojas Puppenkiste
    Politische Aktionen verlaufen oft wie Rituale. Langweilige Latschdemos und Kundgebungen zerren eher an den Nerven aller Beteiligten und haben oft kaum eine Außenwirkung. Vielfach führen sie dazu, dass man sich als AktivistIn bald ausgebrannt, gelangweilt und deprimiert fühlt. Aber es gibt auch ein anderes Gesicht politischer Aktionen, das bunt und kreativ, motivierend und inspirierend sein kann. Der weltweite Protest gegen den Neoliberalismus hat uns nicht nur in Seattle und Prag gezeigt, dass Demos wie Festivals sein können. „Radical cheerleaders“, „Tutti Bianchi“, Samba-Bands, Kostüme, Straßentheater, Puppen, kreative Blockadetechniken, Kommunikationsguerilla, militante und direkte Aktionen ... bilden die Vielfalt und den Facettenreichtum politischer Interventionsmethoden. Und gerade diese enorme Vielfalt und Kreativität besitzt eine außerordentliche Schlagkraft, wie die Erfolge in Seattle und Prag gezeigt haben.
    Die Broschüre „Trojas Puppenkiste“ dient dazu, eine dieser kreativen politischen Aktionsformen vorzustellen und Tipps und Tricks im Umgang damit zu geben. Diese Broschüre enthält Anleitungen und Anregungen zum Bau von großen Puppen, die auf Demos und Aktionen eingesetzt werden können. Das ist ein Ausdruck von Kreativität, der v.a. in den USA und England schon sehr lange einen Platz im Widerstand einnimmt. In Deutschland blieb bisher, trotz Inspiration durch die Anti-Globalisierungs-Proteste, der Fest-Charakter dieses Widerstands eher wenig beachtet. Puppen können eine Menge Enthusiasmus verbreiten, können ein Sinnbild für die Buntheit und Verschiedenartigkeit des Widerstands sein und - wie Reclaim the Streets (RTS) beispielsweise bewiesen hat - auch Hand in Hand gehen mit direkten Aktionen: Während einer RTS in London konnte sich mindestens ein Aktivist unter dem Rock einer riesigen Puppe tarnen und die Strasse mit einem Presslufthammer aufreißen. Mehr hier ...
  • Mars TV: Extra-Seite
  • Lieder
    Lustige Sprechgesänge und Lieder können eine Demo, aber auch andere Aktionen, lustiger und bunter gestalten. Wer Liederzettel an die Umstehenden verteilt und sie zum Mitsingen/-gröhlen einlädt, kann so auch Gespräche anzetteln. Beispiele für kreative Texte auf peinliche Musik (als Gag und Aufmerksamkeitsstifter) unter www.projektwerkstatt.de/lieder.
  • Blockade einer Nazi-Aufmarschroute durch Betonpyramide, Bericht in: Junge Welt, 3.8.2009 (S. 4)

Überidentifikation
Den Begriff "Positive Subversion" benutze ich noch nicht lange. Ich weiß noch nicht mal, ob ich ihn irgendwo aufgeschnappt habe oder ob er sich im eigenen Kopf zusammengesetzt hat. Ist auch unwichtig. Die Methode dagegen kenne ich schon seit der Schulzeit. Damals waren wir als Klasse für unsere „mangelnde Beteiligung am Unterricht“ bekannt. Zuweilen legten wir großen Eifer an den Tag und diskutierten höchst engagiert. Allerdings gelangten wir dann sehr schnell von der inneren Zerrissenheit des Prinzen vom Homburg zum Kaliber von Musketen oder ähnlichem. Wollte der Lehrer uns stoppen, versuchten wir die Relevanz solcher Fragen nachzuweisen. Wurde auch das unterbunden, zeigten wir uns empört und beleidigt: "Sonst heißt es immer, wir beteiligten uns nicht. Wenn wir es tun, ist das auch nicht richtig. Kein Wunder, daß wir da keine Lust haben" usw. Später, bei der Bundeswehr, begegnete mir die Methode erneut. Man führte bestimmte Befehle einfach wörtlich durch, war übergehorsam und damit nicht bestrafbar. Unteroffizier XY hatte ja befohlen.
Noch später, zu einer Zeit, als auch auf Deutschlands Straßen und Plätzen zuweilen öffentlich diskutiert wurde, lernte ich eine weitere Variante kennen. Ich vertrat die Meinung, die meiner nicht entsprach, die Position, gegen die ich anging. Und die führte ich durch kleine, aber feine Übertreibungen und Verdrehungen ad absurdum, ohne sie auch im mindesten zu kritisieren. Das war oft sehr wirksam - einmal wurde ich von einem zackigen Militaristen zur Seite genommen. Er vertraute mir an, es sei zwar alles richtig, was ich sage, aber darüber solle man doch nicht in der Öffentlichkeit reden! (Fremde Meinungen zu vertreten, schult übrigens nicht nur das Hirn und lehrt Widersprüche zu erkennen, man lernt auch, daß jeder Position ein gerüttelt Maß Absurdität innewohnt - auch der eigenen.)
Doch zurück zum Begriff "Positive Subversion": Er bedeutet, gegen eine Sache oder Zustände anzutreten, indem man sie scheinbar unterstützt. Nicht kritisch zu attackieren, sondern durch Eifer und Bejahung zu ersetzen. Schön an der Positiven Subversion ist, daß sie Spaß macht und das Herz erfreut. Nicht umsonst steht sie in enger Verwandtschaft zu Dada-Aktionen, Happenings, Yippietum und Spaßguerilla. Zu ihren Ahnen zählen Till Eulenspiegel und Schwejk. Die Positive Subversion weicht der offenen Konfrontation aus, zeigt sich nie als sichtbare Aufsässigkeit. Im Gegenteil!

Gegendemo
Subversiv denken heißt, im Kopf einen Salto vollziehen zu können. Die eigene Position kann oft besser rüberkommen, wenn die Gegenposition besetzt und karikiert wird. Zudem wird dann denen, gegen die sich z.B. Protest richtet, der Raum genommen, selbst aufzutreten. Ein Mittel ist die Gegendemo - gleichzeitig, davor und/oder danach. Will heißen: Wer zu einem Thema eine Demo (und, besser, noch andere Aktionen) macht, kann eine Gegengruppe erfinden bzw. eine vorhandene imitieren und gegen sich selbst antreten. Das Ganze kann ernst oder skuril sein, in jedem Fall erhöht es die Aufmerksamkeit und schafft einen deutlich kommunikativeren Rahmen. Denn jetzt findet ja (zunächst scheinbar) eine echte Debatte statt. Da mischen sich schnell mehr ein ...
Beispiele:
  • Dörfliche Initiative für Heide und Sicherheit
    Am 1. August fand am geplanten „Bombodrom“ eine skurile Demo statt. Angemeldet war sie von einer „Dörflichen Initiative für Heide und Sicherheit“, die sich als Unterstützerin des Übungsplatzes zeigte. Das Fake, tatsächlich aus dem Aktionscamp gegen den Bombenabwurfplatz heraus organisiert, irritierte in der Region und vor allem in der Presse mächtig. Die Presseagentur dpa bemühte sogar das Bundesamt für Verfassungsschutz, um Informationen über die veranstaltende Gruppe zu bekommen. Auch die Polizei war ziemlich verwirrt, zumal sie den Anmelder zweimal bei Protesten auf dem Truppenübungsplatz kontrollierte. Am Tag der Demonstration schickte sie eine Einsatzhundertschaft, um Zusammenstösse zwischen den Demonstrant*innen und dem Camp zu verhindern ...
    Die Demo selbst war ziemlich bunt, schrill und absurd. Viele hatten sich als Soldat*innen verkleidet, mit blutigen Verbänden und total bekloppten Schildern vom Fronttranspi „Bomt die Kanickel aus der Heide!“ bis zu „Deutsche Kollonin in allen Öhlstaten!“. Unterwegs gab es Lieder und Parolen wie „Osama bin Laden ist überall, jagen wir ihn mit Überschall“. Die Lokalpresse erschien vor Ort, es gelang ihr aber nicht, das Ganze zu durchschauen. Am nächsten Tag erschien ein Bericht unter der Überschrift „Küchentechnik dank Militär“. Bericht hier ...
  • Bündnis „Mehr Sicherheit in Magdeburg“
    Als „böse Autonome“ in Magdeburg zu Solidaritätsaktionen gegen ein 129a-Gerichtsverfahren aufriefen (und leider vor allem auf Einheits-Gelatsche setzten), mobiliserte ein bis dahin unbekannte Gruppe dagegen. Das BMS trat auch tatsächlich ständig auf - mit blödesten Plakaten, Parolen und Forderungen. Das aber erhöhte die Aufmerksam erheblich, z.B. als Prozessgegner*innen einen öffentlichen Molotowcocktail-Workshop in der Innenstadt von Magdeburg veranstalteten. Auch die hinzukommende Polizei geriet unter die Räder: Zugetextet von den Law-and-Order-Fans suchte sich nach einiger Zeit verwirrt das Weite und ließ den Workshop in Ruhe.
  • Kameragottesdienst in Gießen
    Um die neue Überwachungskamera zum Gesprächsthema zu machen, lud die „Initiative Sicheres Gießen“ zu einem Dankgottesdienst an der neuen Überwachungstechnologie. Ein skuriler Auftritt fand statt, bei dem die eintreffende Polizei als Propheten des Sicherheitsgottes angebetet und mit Weihrauch überschüttet wurde (und genervt abhaute) und der dann im Karstadt unter den Kameras wiederholt wurde (ebenfalls ungestört). Eine Wochenzeitung in Gießen war so blöd, dass sie sogar Fotos von dem Geschehen machte, aber am nächsten Tag auf der Titelseite ganz ernst berichtete. Selten so gelacht ...

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