Stiftung Freiräume

MEINUNGEN ÜBER DEN 11.9.2001

Sie versuchen es noch einmal


1. Offener Brief an alle Menschen dieser Welt
2. Heidelberger Flugblatt
3. Aufruf aus Leipzig „Jetzt aufstehen - Stoppt den Krieg“
4. Auswahl aus sehr, sehr vielen Mails auf der Hoppetosse-Mailingliste
5. Sie versuchen es noch einmal
6. Kreuzzug gegen den Terrorismus?
7. Seid Ihr sicher?
8. Interview mit den "Ärzten"
9. Gegen Repression und Polizeiterror
10. Die USA unter Feuer...
11. Leichen pflastern ihren Weg: Imperialistische Generalmobilmachung
12. Declaración de Cochabamba ++ Erklärung von Cochabamba
13. Solidarität mit den Opfern! Kampf den Kriegstreibern!
14. Terror  der  Wirtschaft ++ Wirtschaft  des  Terrors
15. Den eigenen Mördern Steuern zahlen
16. gegen eine vermeintlich antideutsche relativierung von auschwitz (von der gruppe sinistra)
17. Seid Ihr sicher? (aus der FAU)
18. DIE RÜCKKEHR DER ASSASSINEN
19. Japan-RAF oder CIA ?
20. WELTHANDEL UND WORLD TRADE CENTER
21. IST DAS DER COUP D ETAT ??? Pearl Harbour oder Reichstagsbrand?
22. Die USA unter Feuer...
23. Leichen pflastern ihren Weg: Imperialistische Generalmobilmachung
24. PEOPLES´ GLOBAL ACTION (PGA)
25. Sozialismus oder Barbarei - EXTRA
26. Brot, Bomben und Lügen
27. Vorher geschrieben ... „Weil wir gehasst werden“ -  Terrorismus und USA
28. Zivilisation?
29. Islam und Antikapitalismus
30. Mehr Meinungen und Texte

Von: P.M.16.9.2001

Wenn einmal der Horror verdaut ist, dann müssen wir uns sagen: ja, es ist so, diese Dinge können geschehen. Wir leben in einer Hochrisikozivilisation. Die nur prekär gebändigten Technologien und die Wut der Unterdrückten können jederzeit und ungezielt explodieren. Diese Welt ist eine technologische und soziale Bombe, in zweihundert Jahren gebastelt vom globalen Kapitalismus. Sie muss entschärft werden.
Wir haben schon Seveso, Tschernobyl, Flugzeugabstürze, Oklahoma City usw gehabt. Wir haben noch einen Unfall oder Angriff mit biologischen Waffen, eine Atombombe in einer Grossstadt, den ultimativen Hackerangriff aufs Netz, vor uns. Wir sind im Prinzip alle schon markierte Opfer, schon tot.
Sie haben inzwischen Vietnam, Ruanda, Shatila, unzählige Kriege und Massaker und dazu noch die schleichende Hungerkatastrophe, der jeden Tag 35 000 Kinder zum Opfer fallen, gehabt. Nur schon seit dem Ende des Kalten Krieges sind bei ihnen 40 bis 50 Millionen Menschen in 200 Kriegen umgekommen. Sie sind noch töter als wir. Auch mit diesem Horror haben sie und wir gelebt.
Das World Trade Center ist schon dutzende von Malen in Filmen, Romanen und auch in unseren Wutphantasien gegen die USA explodiert, bevor es nun wirklich geschehen ist. Manhattan war immer schon das Symbol des Imperiums und die Bühne seines Untergangs. („Ich rauchte meine letzte Zigarette und langsam zog die eingestürzte Manhattan-Bridge an mir vorbei, im freundlichen Sonnenschein jenes warmen Septembernachmittags.“ So begann 1980 mal mein erster Roman.)
Solange die Wut auf Symbole beschränkt war, konnte das Weltkapital gut schlafen. Es hat keine Angst vor Katastrophen, Kriegen, ja nicht einmal vor Crashes. Schliesslich ist nur etwas Bürofläche verloren gegangen, und die Arbeitskräfte sind bei zunehmender Arbeitslosigkeit leicht zu ersetzen. Die Gebäude sind versichert, amortisiert (1973-2001), die Bauindustrie schon in den Startpflöcken. Der Ökonom Krugman schätzt, dass nur etwa 0.1 des US-Bruttosozialprodukts verloren gingen - ein Kratzer. Auch die Kriegskredite, die Bush bewilligt bekommen hat ? 40 Milliarden $ - sind ein Klacks, nicht einmal eine wirksame Konjunkturspritze. Es standen da zwei Penisse (Menhire, Obelisken, Siegessäulen) in Zentrum des Imperiums, zwei Einladungen, doch bitte Symbole eines grössenwahnsinnigen, patriarchalen, lebensfeindlichen Systems anzugreifen. Und nicht es selbst. Symbole sind nichts, Gegensymbole auch nichts.
Angesichts der Macht und Arroganz des vom US-Kapital angeführten Weltsystems und unserer Ohnmacht ist das Setzen von Zeichen eine grosse Versuchung. Noch grösser ist die Versuchung bei jenen, denen nicht einmal einige Brosamen (Sozialstaat) zufallen. Es gibt im planetarischen Süden einige hundert Millionen junge Frauen und Männer, die realisieren, dass ihr Leben keine Perspektive haben wird.
Sie sind blockiert durch die Platzzuweisungen des Weltkapitals, durch die von diesem subventionierten autoritären Regimes, durch die von diesen konservierten patriarchalen Strukturen. Sie sind beherrscht von alten Männer, die Angst haben, und die alles Interesse daran haben, diese Wut der Enttäuschten auf andere Ebenen - religiöse, symbolische, militärische - zu leiten. Weil sie den Kampf gegen ihre Machtcliquen nicht führen können, begehen die Jungen Selbstmord. (Das geschieht auch bei uns. Und der Tod ist für jede/n der einzige, auch wenn tausende sterben.)
Bush hat unrecht, wenn er meint, dass nun ein Krieg des Guten gegen das Böse begonnen habe. Nein, es ist viel schlimmer: der Krieg der Guten gegen die Guten geht weiter. Im Namen absurder religiöser Symbolsysteme werden blutige Schaukämpfe abgehalten, die zwar viele Gute in dem Himmel bringen, aber für alle jene, die nur mal anständig leben wollen, verlängertes Elend bedeuten. Es geht weder um den Islam noch um die westliche Zivilisation. Beide haben sich schon lange selbst desavouiert. Die angekündigten Vergeltungsmassnahmen Bushs können seine „Feinde“ nicht erschrecken. Sie werden benötigt, um das Spiel weiter spielen zu können. Die wirklich Bösen sind ganz anderswo ? und sie sind gemeint.
Was den Machteliten im Westen und ihren frustrierten Statthaltern im Süden und Osten wirklich Sorgen bereitet, ist etwas ganz anderes. Seit Chiapas, Seattle, Davos, Genua (das sind nur die weniger wichtigen, „symbolischen“ Ereignisse) gibt es eine schleichende Absetzbewegung von den Verlockungen der kapitalistischen Zivilisation, und das im Süden wie im Norden bei Jungen und Alten.
Das Credo der freien Marktwirtschaft wird nicht mehr geglaubt, man redet wieder von Mais, Kartoffeln, vielleicht auch Hirsebier, und wie man sie am besten mit möglichst wenig Arbeit und viel gemeinsamen Spass für immer und ewig anbauen könnte. Dagegen ist das letzte glamouröse Spielangebot, die elektronische Kommunikation, als dumpfer Ersatz abgefallen. Die darauf basierende Konjunktur ist zusammengebrochen, die Japaner wollen nicht kaufen, die Deutschen nicht arbeiten. Die Hälfte will überhaupt nicht mitspielen.
Lustlosigkeit, Zerfaserung der Strategien, dazu eine Witzfigur im Weissen Haus. Es musste irgendetwas geschehen. (Jenseits aller Verschwörungstheorien könnte man sagen, dass das seit langem angekündigte Attentat absichtlich nicht verhindert wurde. Schon etwas merkwürdig, dass vier Flugzeuge so lange in der Luft sein konnten, ohne dass eines der Abwehrsysteme reagierte.)
Es brauchte einen Befreiungsschlag, eine Mobilisierung um ihrer selbst willen, eine Fokussierung gegen das sich vorfressende Geschwür der Absetzbewegung. Das Attentat wird zu einem Kriegsakt (mit Zivilflugzeugen gegen die Zivilisation?) hochstilisiert, damit das Machtzentrum die ohnehin knappen rechtlichen Garantien (Genua reichte noch nicht) abschütteln und gegen jeden und jedes vorgehen kann, der nicht „für uns“ ist. Und unsere guten alten rezyklierten Trotzkisten, Spontis und Sozialisten von Jospin bis Schröder stehen schon stramm wie Gouverneure von US-Bundesstaaten.
Was wir heute wieder einmal erleben, ist die Strategie der Spannung. Langweilig, lebensgefährlich, reaktionär. (Wer erinnert sich noch an die 70er und 80er Jahre?) Die Trauer und der Horror, den wir angesichts des sinnlosen Sterbens unserer Mitproletarierinnen in den Bürotürmen (Geht nicht mehr zu solchen Orten hin! Brecht sie langsam und kontrolliert ab!) empfinden, sollen umgemünzt werden in bedingungslosen Gehorsam gegenüber unseren Rächern und Rettern.
Doch es gibt keine Rettung, und Rache ist ein Spiel ohne Ende (wie stand es denn mit der sogenannten Abschreckung durch die Todessstrafe? Die Attentäter haben sich schon gerichtet, bevor sie losflugen. Sie haben Bushs texanische Logik schon vorweggenommen. Sie waren der makabre Witz auf seine Exekutionen.)
Der Versuchung von Gegensymbolik müssen wir widerstehen. Schon einen Tag nach dem Attentat sah man in der Wallstreet das Schild „Business as usual“. Natürlich ist ihr Business nicht unser Business, aber warum sollen wir nicht mit unserem Business ? geduldiges Stricken an nachhaltigen Lebensweisen, Weiterführen der Diskussion über globale Alternativen ? weiterfahren? Es wäre das beste Gegengift gegen jene Welle verzweifelter Begeisterung des „endlich einmal Losschlagens“, auf der nun Bush und seine Leutnants reiten wollen. Und vergessen wir endlich die Symbole ? es ist Zeit für das natürlich weit weniger grandiose wahre Ding.

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