Gewaltfrage

LIBERTÄR ODER LIBERAL? WENN DIE MARKTWIRTSCHAFT ZUM ANARCHISTISCHEN IDEAL WIRD ...

Die Schnittstellen zu Marktwirtschaft und Bürgerlichkeit


1. Einleitung
2. Markt oder Staat - die falsche Frage
3. Einzelfragen
4. Die Schnittstellen zu Marktwirtschaft und Bürgerlichkeit
5. Parecon - krude Wirtschaftstheorie aus anarchistischen Kreisen
6. Alternativökonomie
7. Kritik
8. Links und Materialien

Aus den Überschneidungen zwischen anarchistischen und bürgerlichen, mitunter sogar zu marktliberalen oder demokratiefetischistischen Kreisen entwickelt sich ideologische Nähe. Blindflecke dehnen sich aus, der analytische Blick trübt sich immer mehr ein. Im Ergebnis weiten sich die Übereinstimmungen, die zunächst aus gesellschaftstheoretischer Unschärfe entstehen, zu Ähnlichkeiten aus, die kaum noch einen Unterschied zwischen anarchistischen Entwürfen und bürgerlichen Realitäten erkennen lassen. Als zusätzliche Klammer wirken ähnliche Lebensweisen - es sind die in jungen Jahren leicht aufmüpfigen und sanft bis radikal anarchischen Kinder des BildungsbürgerInnentum, die auch die nächste Generation dieser stark rechtsstaatsgläubigen, auf typische Gutmenschenideale wie Gerechtigkeit und Demokratie bilden. Fehlende inhaltliche Füllung macht es einfach, völlig konträre Gesellschaftsmodelle wie Demokratie und Anarchie in den nebulösen Gedankenwelten zusammenzubringen oder Gerechtigkeit als Ideal zu empfinden, obwohl gerecht je nach Blickwinkel schlicht alles sein kann - bis zum Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Die Nähe bürgerlicher und aus solchem Denken stammender anarchischer Ideen ist auch in Texten über mögliche Zukünfte zu erkennen, wenn Besitzrecht als notwendig und die Marktwirtschaft als "ideale Form der Vernetzung in einer freien Gesellschaft" abgefeiert wird.

Im Original: AnarchistInnen für bürgerliche Ideale
Aus "Utopie - ein Vorschlag" der Utopie-AG/Gewaltfreies Aktionsbündnis Hamburg (1995)
Individuelle Freiheit braucht privates Besitzrecht. ... Unter bestimmten Bedingungen ist die Marktwirtschaft geradezu die ideale Form der Vernetzung in einer freien Gesellschaft. ... (S. 10)
In meiner Utopie setze ich auf die Kraft der Wirtschaftgemeinschaft, die ich für die freiheitlichste Form der Gemeinschaftsbindung halte.
(S. 55).

Fiktives Interview mit Menschen, die schon in der zukünftigen Utopie leben (im gleichen Heft, S. 24 ff.)
Karl: Wir erwarten nicht, daß jeder Verantwortung für ein Unternehmen tragen will. Jedem steht es frei, sich direkt bei einem Unternehmen anstellen zu lassen und mit Lohnarbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Auch in unserer Bäckerei tragen wir zu viert die Verantwortung für das Unternehmen als ganzes und drei weitere sind angestellt, d.h. sie erhalten einen festen Lohn und sind nur für ihren Arbeitsbereich verantwortlich.
Frage: Gibt es also auch bei euch weiterhin zwei Klassen: diejenigen, die ein Unternehmen leiten, und diejenigen, die in Lohnarbeit tätig sind?
Erika: Menschen sind verschieden und wir akzeptieren, daß es Menschen gibt, die Interesse und Fähigkeiten haben, ein Unternehmen zu leiten, und Menschen, die das nicht wollen oder nicht können. ...
Frage: Trotzdem gilt in eurem Wirtschaftssystem weiterhin das Leistungsprinzip: Je nach wirtschaftlichen Erfolg verdienen die einen mehr, die anderen weniger. Werden dadurch nicht wieder Menschen wirtschaftlich an den Rand gedrängt?
Erika: Grundsätzlich ist es doch gerecht, daß jemand, der viel und gut arbeitet, auch mehr verdient. Wir vom Kapitalrat bemühen uns allerdings, daß die wirtschafltichen Unterschiede nicht zu krass werden. Wir ermutigen die Betriebe, von den Konzepten der wirtschaftlich erfolglichen Unternehmen zu lernen, und weisen Unternehmensneugründer auf die Wirtschaftsbereiche hin, in denen gute Gewinne gemacht werden. ...
Mit dem 'Startgeld', das jeder Mensch zwischen seinem 21. und 27. Lebensjahr ausgezahlt bekommt, läßt sich bei sparsamer Lebensführung gut neun Jahre ohne Arbeit leben. Darüber hinaus hat niemand, der arbeitsfähig ist, das Recht, auf Kosten anderer zu leben. ...
Wenn die Löhne sinken, werden die Menschen, die noch über ihr Startgeld verfügen (also vor allem die jüngeren), es bevorzugen vorübergehend von diesem Geld zu leben, als für einen niedrigen Lohn zu arbeiten. Andere werden es vorziehen, statt abhängig-beschäftigt zu arbeiten, selber ein Unternehmen zu gründen. Die (zeitweisen knappen) Arbeitsplätze werden diejenigen erhalten, die darauf angewiesen sind, weil sie keine Alternative haben.


Aus James C. Scott: "Applaus dem Anarchismus" (S. 122)
Festzuhalten ist: Eine von Kleinhäuslern und Ladeninhabern dominierte Gesellschaft kommt der Gleichheit und dem breit verteilten Eigentum an Produktionsmitteln näher als jedes bisher entworfene Wirtschaftssystem.

Anarch@s als VorreiterInnen der Monetarisierung von Umweltschutz
Die hohe Kompatibilität einiger anarchistischer Strömungen mit moderner Bürgerlichkeit zeigt auch der von ihnen mitgetragene Wandel der Umweltschutzbewegung von der auf BürgerInnenbeteiligung ausgelegten BI-Zeit (70er und 80er Jahre) zu einer auf moderne, hochprofitable Wirtschaftstätigkeit ausgelegten Ansammlung von Firmen, Geldanlagevermittlung usw. In der alten Umweltliteratur und -debatte nahmen anarchistische Kreise immer eine Gegenposition zu Modellen z.B. der Vordenker Herbert Gruhl, dem Club of Rome und anderen konservativen Zirkeln ein. Inzwischen haben sich alle Flügel weitgehend konfliktfrei auf dem Sektor öko-marktwirtschaftlicher Ideen getroffen. Im Begriff der Nachhaltigkeit vereinigten sich die Strömungen. Gut sichtbar wurde diese von einer analytischen Betrachtung der Herrschaftsförmigkeit moderne Ökokonzepte völlig befreite Phalanx des Öko-Gutmenschen in der Debatte um den Schutz des Klima. Nur sehr kleine Kreise wehrten sich gegen die Idee, durch Luftverschmutzungsrechte die Atmosphäre kauf- und verkaufbar zu machen. Immerhin waren es erkennbar anarchistisch geprägte Kreise, die die Kritik überhaupt noch aufrecht erhielten - das Bündnis Risingtide aus dem anglo-amerikanischen Raum und niederländischen AktivistInnen sowie das kleine Netzwerk "Umweltschutz von unten" im deutschsprachigen Raum. Sie bildeten in der Umweltbwegung wie auch unter den AnarchistInnen nur kleine Minderheiten.

Im Original: Geld für Umweltverbrauch
Aus "Utopie - ein Vorschlag" der Utopie-AG/Gewaltfreies Aktionsbündnis Hamburg (1995)
Jeder Ökorat stellt den Regionen, von denen seine Region Schadstoffe empfängt, eine Rechnung aus in Höhe der eigenen Umweltschadensverwertung. ... (S. 50)
Wer ein AKW betreibt, muß zumindestens alle Haftungs- und Folgekosten in seinen Strompreis mit einrechnen. (S. 57)


Steigerung ins Absurde: Anarchokapitalismus
Aus James C. Scott: "Applaus dem Anarchismus" (S. 12)
Der letzte Strang anarchistischen Denkens, von dem ich mich definitiv distanzieren möchte, ist jene Art Libertarismus, der große Wohlstands-, Besitz- und Statusunterschiede toleriert (oder gar ermutigt). Freiheit und echte Demokratie sind unter den Bedingungen wild wuchernder Ungleichheit lediglich ein grausamer Schwindel. Das hat schon Bakunin so gesehen. Es gibt dort keine authentische Freiheit, wo enorme soziale und ökonomische Unterschiede aus freiwilligen Vereinbarungen oder Tauschaktionen nichts weiter als legalisierte Plünderungen machen. Man sehe sich zum Beispiel die Situation im China der Zwischenkriegszeit an, als Lebensmittelknappheit und Krieg den Hunger zum Dauerzustand werden ließen. Viele Frauen standen vor der schlimmen Wahl, entweder zu verhungern oder ihre Kinder zu verkaufen und am Leben zu bleiben. Für einen Fundamentalisten der Marktwirtschaft ist der Verkauf eines Kindes letzthin eine freiwillige Entscheidung und stellt daher freiheitliches Handeln unter gültigen Bedingungen dar (pacta sunt seruanda). Die Logik ist natürlich ungeheuerlich. Nur die Zwangsstruktur der Situation treibt die Menschen in einem derartigen Fall zu so katastrophalen Entscheidungen.

Es gibt einige Neoliberale, die ihre Ideen von totalem Markt und einer Privateigentumsgesellschaft (da der Staat weg soll, wird das Privateigentum dann mit Privatarmeen abgesichert) als Anarchie bezeichnen. Zu ihnen gehört Oliver Janich, Gründer der "Partei der Vernunft" sowie Andre Lichtschlag mit seiner Zeitung "eigentümlich frei" (aufgerufen: 25.8.2014). Dort steht: "Eigentum – das ist der Schlüssel zur Freiheit. ... eigentümlich frei steht auf der Seite der libertären Gegenwehr. Gegen die zunehmende neosozialistische Enteignung." Aber auch sonst hat die Zeitung krude Gedanken zu bieten:

Aus einem Text mit der Forderung, die Frau solle an den Herd, in: "eigentümlich frei", Sept. 2014 (S. 34)
Eine für den Mann kochende Frau ist ein transzendentales Urerlebnis, vergleichbar mit dem Öffnen des ersten Dosenbiers, dem Jagen eines wilden Tieres oder dem Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft.

Anarchokapitalismus ist gedanklicher Nonsens - die Anhänger sichtbar durchgeknallt
Über den argentinischen Präsidenten, der sich selbst Anarchokapitalist nennt, in: Junge Welt ma 7.12.2023 (S. 12)
Doch zunächst zu den Punkten seines Wahlprogramms, die bisher bekannt geworden sind: "Der ehemalige Fußballprofi und Rocksänger ist gegen Schwangerschaftsabbrüche und Sexualaufklärung, leugnet den Klimawandel und befürwortet den Organhandel. (…) Konkret will der Marktradikale (…) das Umwelt- und das Bildungsministerium abschaffen sowie die öffentlich-rechtlichen Medien und die Energieunternehmen privatisieren. Die Staatsausgaben sollen drastisch gekürzt, das Gesundheits- und Bildungswesen abgeschafft beziehungsweise privatisiert werden. ..."
Vielleicht lässt sich die Lösung des Rätsels, wie ein solches Programm im Hirn einer sich als Politiker verstehenden Person entstehen konnte, aus einer Mitteilung Mileis aus seinem Privatleben erahnen. In dem soeben zitierten Artikel heißt es zu Beginn: "Vor rund drei Jahren soll er von seinem verstorbenen Hund ›Conan‹, mit dem er über ein Medium Kontakt aufgenommen hatte, den Auftrag erhalten haben, in die Politik zu gehen."


Oliver Janich im Gespräch mit Robert Stein, Teil 1 ab ca. 3:00 min (Speakers Corner) über die Attentate von Paris am 13.11.2015
Ich weiß genau, was der (gemeint: seine Leser) denkt. Und der denkt sich "genau ahhh der Janich, dem sein nächster Post ist garantiert, das ist 'ne false flag ... und ich hab inzwischen diese Leute alle blockiert"
Im weiteren Verlauf bezeichnen sie Donald Trump als Teil der Wahrheitsbewegung und erhoffen sich viel von dessen Wahl.


Im Original: Partei, anarchokapitalistisch, rechts-offen
T-Shirt der Anarchokapitalist_innenAus der Seite der German Libertarian Party
Gemeinsam können wir aufdringliche und teure Behörden beseitigen, Steuern drastisch verringern und die Freiheit jedes einzelnen fördern.

Rechts: Motiv auf einem T-Shirt des anarchokapitalischen Liberty Store - Aufkleber usw. für Anarchokapitalist_innen

Aus einem Interview mit dem Parteivorsitzenden Manuel Peters, "einst Kreissprecher der Kölner Alternative für Deutschland", in: Freitum, 1.7.2014
Die Stoßrichtung unserer Partei ist durch ihr Programm vorgegeben. Dasselbe hat ein klar radikalliberales Profil, das uns ein unverwechselbares Alleinstellungsmerkmal garantiert. Wir verstehen uns als ein Sammelbecken für alle freiheitlichen Strömungen, die auf Basis unseres Programms zueinanderfinden können. Das schließt Libertäre, klassische Liberale, Anarcho-Kapitalisten oder auch nationalliberale Monarchisten wie mich ein, solange sie bereit sind, das Gemeinsame in den Mittelpunkt zu stellen. Wir können uns keine Grabenkämpfe leisten! Aber nicht nur unser Programm, sondern auch unser Stil wird einzigartig sein. ...
Wir wollen das staatliche Währungsmonopol aufheben und eine Freihandelszone mit den USA, Russland, Japan, Südkorea, Taiwan, Australien, Israel und Island einführen. ...
Alle Bürger sollen selbstfinanzierte Autonomiegebiete einrichten dürfen. Mit uns werden Parteienverbote ebenso der Vergangenheit angehören wie Meinungsstraftaten oder die Kriminalisierung von Drogensüchtigen. Dafür wird der freie Waffenbesitz erlaubt ...
Was die Partei der Vernunft angeht, so unterscheidet uns in erster Linie unser provokativer Stil von ihr. Inhaltlich sehe ich keine entscheidenden Unterschiede. Ich sehe die PDV auch nicht als Gegner, sondern als potentiellen Partner. Das habe ich auch immer so kommuniziert. Deswegen werde ich mich auch demnächst mit der Vorsitzenden der PDV, Frau Susanne Kablitz, zu einem Gespräch treffen, auf das ich mich bereits sehr freue.


Aus dem Programm der German Libertarian Party (Die Libertären)
Die Forderung nach Umverteilung steht aus unserer Sicht der Aufforderung zu einer Straftat gleich, da Umverteilung nur möglich ist, indem man Menschen die Früchte ihrer Arbeit wegnimmt. Parteien und andere Interessengruppen, die sich zusammenschließen, um staatlich erzwungene Umverteilung zu fordern, sind aus unserer Sicht kriminelle Vereinigungen. ...
Wir fordern die ersatzlose Abschaffung der Kapitalertragssteuer. Rendite für alle statt Doppelbesteuerung!
Wir fordern die Abschaffung der Erbschaftssteuer und der Grunderwerbssteuer. ...
Wir fordern die radikale Vereinfachung der Sozialgesetzgebung! Kurzfristig sind alle existierenden Sozialleistungen durch eine mit einer Arbeitsverpflichtung verbundene negative Einkommenssteuer zu ersetzen. ...
Wir fordern eine Freihandelszone mit den USA, Russland, Japan, Südkorea, Taiwan, Australien, Israel und Island! ...
Wir fordern die Abschaffung des Mindestlohnes. ...
Wir fordern die vollständige Privatisierung der Sozialversicherungssysteme. ...
Steuerhinterziehung ist ein Kavaliersdelikt! Wir fordern, die bestehenden Steuerstraftatbestände abzuschaffen und selbige künftig nur noch als Ordnungswidrigkeiten zu verfolgen. Gegen Sozialneid und Kriminalisierung von Leistungsträgern!
18) Wir fordern die Abschaffung des Rechtsanspruchs auf Asyl. ...
Wir fordern die Abschaffung des Antidiskriminierungsgesetzes. ...
Wir fordern die Abschaffung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG). Gegen Subventionen für landschaftsverschandelnde Vogelschredder!


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