Offener Raum

DIE VÖLKER DES KLEINES M@NNES: ANARCHIE, KOLLEKTIV UND KOLLEKTIVE IDENTITÄT

Anarchistische Kritik des Kollektiven


1. Einleitung
2. Egal was, Hauptsache Einheit und/oder Kollektiv
3. Erscheinungsformen und Steigerungen
4. AnarchistInnen pro Kollektiv
5. AnarchistInnen als Kollektiv: Wir und die anderen
6. Anarchistische Kritik des Kollektiven
7. Links zur Anarchie auf www.projektwerkstatt.de und anderswo

Doch einheitlich ist die Meinung nicht. Es gibt AnarchistInnen, die kollektive Identitäten kritisieren. Interessanterweise stammt das sogar aus der Felder von SozialanarchistInnen. Das spricht dafür, dass Sozial- und Individualanarchismus kein grundsätzlicher Gegensatz sind, sondern es auf die Art der sozialen Interaktion ankommt. Stellt diese die Vielfalt der Beteiligten in den Mittelpunkt, belässt Autonomie und begreift nichts als abgeschlossenes Kollektiv, sondern immer als offene Kooperation - eine Welt, in der viele Welten Platz haben -, dann ist individuelle Eigenart und intensive soziale Vernetzung kein Widerspruch.

Es gibt aber auch Kritik, Kollektive als Eigenzweck, Subjekt oder Ziel von Befreiung zu sehen. Denn Emanzipation ist der Blick durch die Augen des einzelnen Menschen und eine Politik zugunsten der Menschen und ihrer freier Zusammenschlüsse. Das ist eine ganz andere Sichtweise und Politik wie eine für die Menschheit insgesamt oder für deren Subräume als ganze Kollektive.

Im Original: Gegen konstruierte Einheiten
Aus Bookchin, Murray (1992): "Die Neugestaltung der Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 10, mehr Auszüge)
Stattdessen, so wie wir vage Begriffe wie "Menschheit" oder zoologische Wörter wie Homo sapiens benutzen, die riesige Unterschiede bis hin zu erbitterten Antagonismen verdecken, welche zwischen privilegierten Weißen und Menschen anderer Hautfarbe bestehen, zwischen Männern und Frauen, Reichen und Armen, Unterdrückern und Unterdrückten - gerade so benutzen wir vage Begriffe wie "Gesellschaft“ oder "Zivilisation", die in sich ebenso solche enormen Unterschiede, nämlich zwischen freien, nicht-hierarchischen, klassen- und staatenlosen Gesellschaften zum einen, und andererseits graduell unterschiedlich hierarchisch, klassengeschichtet, staatlich und autoritär gestalteten Gesellschaften verbergen. Somit wird eine sozial orientierte Ökologie letztlich durch Zoologie ersetzt. Über alles hinwegfegende "Naturgesetze", abgeleitet von Populationsschwankungen bei Tieren, sollen zur Erklärung widerstreitender ökonomischer und sozialer Interessen unter den Menschen herhalten.
Einfach nur "Gesellschaft" gegen "Natur", "Menschheit" gegen die "Biosphäre", und "Vernunft", "Technik" und "Wissenschaft" gegen weniger entwickelte, oft primitive Formen menschlicher Interaktion mit der natürlichen Welt auszuspielen, hindert uns daran, die hochkomplexen Unterschiede und Spaltungen innerhalb der Gesellschaft zu untersuchen, was zur Bestimmung unserer Probleme und deren Lösungen so notwendig wäre.
Aber selbst widersprüchlich (S. 29 und 37):
Solange die Gesellschaft nicht von einer vereinten Menschheit wiedererobert wird, die ihre gesamte kollektive Weisheit, ihre kulturellen Errungenschaften, technologischen Innovationen, wissenschaftlichen Erkenntnisse und angeborene Kreativität zu ihrem eigenen Besten und zum Nutzen der natürlichen Welt einsetzt, erwachsen alle ökologischen Probleme aus sozialen Problemen. ...
Wie genauere Studien bestimmter Ureinwohnergemeinschaften ergeben, kann ein starkes Kollektiv das Individuum weitaus mehr unterstützen als eine "freie Markt"-Gesellschaft, die einem egoistischen, aber verarmten Selbst huldigt.

Wilk, Michael (1999): "Macht, Herrschaft, Emanzipation", Trotzdem Verlag in Grafenau (S. 66)
Anarchistisches Ziel ist das Aufbrechen der inneren Hermetik der Menschen und das Aufheben der Deckungsgleichheit von System und Individuum ...

Aus Diefenbacher, Hans (Hrsg., 1996): "Anarchismus", Primus Verlag in Darmstadt (S. 25)
"Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst", heißt es bei Kant: Hier gebietet die Vernunft die Unterwerfung der Person unter das meta-individuelle Ideal einer moralisch qualifizierten "Menschheit". Stirner versucht, in seinem Hauptwerk sowohl dem Liberalismus in allen seinen Erscheinungsformen einerseits als auch dem Sozialismus beziehungsweise dem Kommunismus andererseits nachzuweisen, diese Unterordnung mit neuen Argumenten zu propagieren, und damit die Person, den Einzelnen seiner Eigenheit zu berauben, ihn um sein Eigen-tum zu bringen. ...
"Man meint wieder, die Gesellschaft gebe was wir brauchen, und wir seien ihr deshalb verpflichtet, seien ihr alles schuldig. Man bleibt dabei, einem 'höchsten Geber alles Guten' dienen zu wollen. Daß die Gesellschaft gar kein Ich ist, das geben, verleihen oder gewähren könnte, sondern ein Instrument oder Mittel aus dem wir Nutzen ziehen mögen, daß wir keine gesellschaftlichen Pflichten, sondern lediglich Interessen haben, zu deren Verfolgung uns die Gesellschaft dienen müsse, daß wir der Gesellschaft kein Opfer schuldig sind, sondern, opfern wir etwas, es uns opfern: daran denken die Sozialen nicht, weil sie - als Liberale - im religiösen Prinzip gefangen sitzen und eifrig trachten nach einer, wie es der Staat bisher war, - heiligen Gesellschaft! Die Gesellschaft, von der wir alles haben, ist eine neue Herrin, ein neuer Spuk, ein neues 'höchstes Wesen', das uns in Dienst und Pflicht nimmt!"
(Stirner)

Verycken, Laurent (1994): Formen der Wirklichkeit. Auf den Spuren der Abstraktion. Penzberg: GrundRiss-Verlag
Anarchismus ist die Weigerung das Allgemeine zu denken. [...] Vernünftig ist es, der Individualität der Dinge gerecht zu werden. Keine Wissenschaft, keine Politik, keine Moral und keine Religion nimmt uns die eigene Entscheidung ab.

Bakunin: Sozialismus und Freiheit. Aus: Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970
Denn es gibt tatsächlich keinen Geist, (...) es gibt keine Kombination von klugen Köpfen, die so gewaltig wäre, all die unendliche Vielfalt und Verschiedenartigkeit realer Interessen, Sehnsüchte, Willensäußerungen und Bedürfnisse zu umfassen, die in ihrer Totalität den kollektiven Willen des Volkes konstituieren.

Michail A. Bakunin (1873): Staatlichkeit und Anarchie (S. 564-565)
Auf dieser Fiktion einer Pseudovolksvertretung und auf dem wirklichen Faktum, daß die Volksmassen von einer kleinen Handvoll Privilegierter regiert werden. Gewählter oder sogar nicht Gewählter durch die Menge des Volkes, das man zu den Wahlen zusammengetrieben hat, und das nie weiß, wozu und wen es wählt; auf diesem vermeintlichen und abstrakten Ausdruck dessen, was angeblich das ganze Volk denkt und will, wovon aber das lebendige, reale Volk auch nicht die geringste Vorstellung hat, darauf basiert in gleicher Weise die Theorie der Staatlichkeit und die Theorie der sogenannten revolutionären Diktatur.

Gustav Landauer: Anarchismus - Sozialismus. In: Der Sozialist, 7.9.1895
Um unsre Angelegenheit vernünftig und gerecht zu ordnen, werden wir nur selten die ganze Menschheit bemühen müssen, wir bedürfen keines Menschenparlaments und keiner Weltbehörde.


Zum nächsten Text über Angst und Kontrolle, dem vierten im Kapitel über Strategien

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