Offener Raum

DIE VÖLKER DES KLEINES M@NNES: ANARCHIE, KOLLEKTIV UND KOLLEKTIVE IDENTITÄT

Egal was, Hauptsache Einheit und/oder Kollektiv


1. Einleitung
2. Egal was, Hauptsache Einheit und/oder Kollektiv
3. Erscheinungsformen und Steigerungen
4. AnarchistInnen pro Kollektiv
5. AnarchistInnen als Kollektiv: Wir und die anderen
6. Anarchistische Kritik des Kollektiven
7. Links zur Anarchie auf www.projektwerkstatt.de und anderswo

Kollektivität wird in vielen anarchistischen Kreisen per se als wertvoll angesehen. Diese kann sogar mit sehr deutlichen Kennzeichen gemeinsamer Identität versehen sein und gilt immer noch als anarchistisch. Die FAU mit ihrer Tendenz zu einheitlichen Marschformationen und Fahnenmeeren auf Demonstrationen ist ein beeindruckendes Beispiel solcher Orientierung. Selbst bei internen Treffen wird im Versammlungsort mitunter eine Fahne gehisst.
Andere Gruppen verzichten zwar auf derart aggressive Inszenierung von Kollektivität, benutzen aber ihren Gruppennamen auch zur Darstellung einer gemeinsamen Sprache nach außen. Die Gruppe erhält damit eigene Persönlichkeit und erhebt sich über die Individuen in ihr.
Im Spektrum der gewaltfreien Gruppen findet sich zwar ebenfalls eine offensive Außendarstellung, diese begründet sich aber weniger auf Kollektivität als auf bürgerlich-wirtschaftliche Überlegungen. Dort wird Markenimage erzeugt, um Spendengelder und Aufmerksamkeitsanteile in den Medien zu akquirieren. Die Organisierung von Gruppen- und "Wir"-Gefühl dient dort eher der internen Disziplinierung. So sind Selbstverpflichungserklärungen, gegenseitige Verhaltensversprechen und Konsense ein weit verbreitetes Mittel, um Individualität zugunsten einer Einheitlichkeit der Gesamtgruppe zu reduzieren. Es ist geradezu das Kennzeichen der großen Massenaktionen, aber auch kleinerer Aktivitäten von X-tausendmalquer, .ausgestrahlt, Campact oder Gendreck-weg, die beteiligten Menschen auf eine einzige, durch- und vorgeplante Vorgehensweise einzuschwören. Abweichungen oder eigenständiges Denken in der Aktion sind nicht gern gesehen und werden nicht nur über die Selbstverpflichungen, sondern auch schnell über massiven, durch die Führungskreise erzeugten Gruppendruck erzeugt ("das gefährdet uns alle" usw.).
Eindeutig der Identitätsbildung dient auch die dogmatische Festlegung auf absolute Gewaltfreiheit. Sie folgt nicht aus einem Auseinandersetzungsprozess der Beteiligten über unterschiedliche Aktionskonzepte. Die Frage, was an den Handlungen von Beate Klarsfeld und Georg Elser denn falsch gewesen sei, wird regelmäßig mit der erstaunten Gegenfrage "Wer ist das?" beantwortet und zeigt so, dass dem Bekenntnis gegen Gewalt kein Meinungsfindungsprozess vorweg ging. Stattdessen es ist eine - durchaus dem religiösen Gebrauch dieses Begriff ähnliche - Verkündung, der die Beteiligten sich unterzuordnen haben. Sie tun das meist auch, weil sie die propagandistisch gut aufgereiteten Scheinargumente (z.B. "der Weg muss dem Ziel entsprechen" oder "durch Gewalt lässt sich keine Gewaltfreiheit erreichen") überzeugend finden und nicht hinterfragen. Dem Verlangen nach garantierter Gewaltfreiheit folgt dann der Wille zu klaren Abgrenzung gegenüber anderen, was die Bildung des identitätsstiftenden Innen und Außen stärkt.
Fast identisch, nur mit umgekehrten Vorzeichen, verläuft die Bildung identitärer Kollektive in vielen der - zumindest verbalradikal - auf Kampf und Militanz stehenden Gruppen. Sie erzeugen Innen und Außen durch Abgrenzung von den "Weicheiern", die angeblich nur die Begleitfolklore zur Herrschaft oder schlicht zu feige sind, mal ordentlich draufzuhauen. Slogans, Kleidung, Plakate, Aufkleber und Songtexte z.B. punkautonomer Musikgruppen triefen von einem Militanzfetisch, der eher Ohnmachtsgefühlte kompensiert als praktische Handlungsanleitungen gibt. Denn tatsächlich sind militante Aktionen im deutschsprachigen Raum extrem selten und dazu noch mehrheitlich spontane Wutausbrüche aufgrund unbefriedigender Aktionsverläufe oder Partys, deren Vermittlungsqualität schon mangels Vorbereitung und strategischer Überlegung sehr zu wünschen übrig lässt. Für ein starkes "Wir"-Gefühl in Abgrenzung zu den vermeintlichen Luschen anderer Gruppen reicht es aber - und so entsteht die absurde Situation, dass sich Militante und Gewaltfreie geradzu brauchen, um ihren inneren Zusammenhalt über den sinnstiftenden Gegenpart zu stärken.
Schließlich gibt es sogar in den Kreisen Kollektivität, die ohne Label und irgendeine Art von Überbau agieren. Weit verbreitet sind Cliquen, deren Zusammenhalt stark über Zuneigung, erotische Abenteuer und die sehr ähnlichen Biographien von BildungsbürgerInnen-Kindern in einer Phase der Zweifel an der Gerechtigkeit der Welt. Nur in wenigen Fällen führen politische Neigungen zur Abgrenzung vom Umfeld und damit zur Bildung eines verstärkten inneren Zusammenhaltes. Meist ähneln die Cliquen Familien: Zusammenhalt als Selbstzweck. Solche Mischungen aus mangelnder Individualität, sich aufeinander beziehen und politischer Aktion als soziales Erlebnis sind vor allem bei jüngeren Personen häufig. Prägend sind sie für den (verbal-)radikale Veganismus, dessen Fixierung auf ein, dann dogmatisch ausgelegtes Hauptthema bestens geeignet ist, in Abwehrkämpfen gegenüber den "FleischfresserInnen" oder KonsumentInnen des "weißen Blutes" eine Innen und Außen definierende Grenze um die eigene Gruppe oder Szene zu ziehen.

Unabhängig davon, auf welche Weise kollektive Identität entsteht - sie ich eine Form der Beherrschung. Denn sie macht gleicher als nötig und als tatsächlich Gleichheit besteht. Das geschieht durch Überhöhung des identitätsstiftenden Merkmals, wodurch gleichzeitig andere Unterschiede zwischen den beteiligten Persönlichkeiten in den Hintergrund gedrängt werden. In identitären Kollektiven, also solchen Gruppen mit Gruppenpersönlichkeit, die auf (eingebildeten) Merkmalen beruht, besteht weniger oder gar keine Neigung, die innere Vielfalt zu fördern und auf freie Kooperation zu setzen. Typisch ist, dass die Gruppe - zumindest nominell - immer oder sehr oft als Ganzes handelt statt für jeden Einzelfall neu zu schauen, welche Runde von Interessierten sich einem Thema oder einer Aktivität widmet.

Für die Idee der Anarchie ist das Begreifen dessen, was Grundlage eines Kollektivs ist, wie Identität entsteht und was davon in den eigenen Zusammenhängen akzeptabel und was gefährlich sein könnte, von außerordentlicher Bedeutung. Die skeptische Analyse aller Kollektivität fällt zusammen mit der Kritik der Demokratie. Denn der „Demos“ als Kernbestandteil der Demokratie ist ein solches identitäres Kollektiv, ein "Wir" mit notwendigerweise klarer Abgrenzung des Innen und Außen. Das gilt in jeder Spielart der Demokratie, also auch der in anarchistischen Kreisen überraschend oft befürworteten direkten oder Basisdemokratie. Demokratie ist die Herrschaft des "demos", also des Kollektiv, über die Einzelnen - und damit eine klar anti-anarchistische Gesellschaftsform.
Der "demos" findet sich auf unterschiedlichen Ebenen, in großen gesellschaftlichen Sphären als Völker, Klassen und Nationen, aber ebenso in den vielen Subräumen als WGs und Parteien, Belegschaften und Fußballmannschaften. Überall dort bilden sich diese nicht klar definierbaren, aber dennoch in den Köpfen der Beteiligten existenten kollektiven Einheiten. Irgendwo um sie herum befindet sich die Grenze zu denen, die nicht dazu gehören.
Dieser „Demos“ ist immer ein Herrschaftsgebilde – ob er nun basisdemokratisch oder als Führerstaat organisiert ist. Nicht dass die Unterschiede zwischen diesen hier negiert werden sollen, aber ein Kern bleibt immer: Diese seltsame Definition dessen, wer zur Schicksals- oder Abstimmungsgemeinschaft dazugehört und wer nicht. Zwei Klassen – innen und außen – tun sich zwangsläufig auf. Noch verschärft: Wie überhaupt die Grenze gezogen wird, ist fast immer unklar. Sie ist einfach da bzw. setzt sich diskursiv durch. Das ist in Deutschland so: Wer ist deutsch? Wer gehört zu diesen, die da in einer Bundeskanzlerin ihre Vertretung haben? Wo ist die Schicksalsgemeinschaft zwischen einem jugendlichen Nazischläger und einem der letzten lebenden Ex-KZ-Gefangenen? Aber es ist auch so in jeder WG. Scheinbar logisch gehört zu ihr, wer dort ein Zimmer hat. Draußen ist, wer keines hat. Aber warum ist die Person privilegiert, die für ein Zimmer Geld bezahlt, aber seltener da ist wie Freund/Freundin eines/r Anderen? Was ist mit der Nachbarin, die von der zu diskutierenden Fete mehr betroffen sein wird als WG-Mitglied Gerd, der an dem Tag in der Ukraine unterwegs ist? Nein – es geht nicht, ein klares Kriterium zu definieren, was eigentlich der „Demos“ ist, der da „kratien“ ausüben soll. Jedes Kollektiv basiert auf der Definition von Innen und Außen. Hinter solcher Grenzziehung steckt immer ein Machtakt. Irgendjemand, eine Einzelperson oder eine Gruppe, muss über die Definitionsmacht des Zugehörens zu einem Kollektiv verfügen. Sonst gäbe es keines.
Formen des "demos"
Was hat was?Das Innen („Demos“)Inszenierung des „Demos“Wo ist das Außen?Mechanismus der SteuerungWer definiert und repräsentiert?
Nation und StaatVolkWahlen (Variante und Ergänzung: Volksabstimmungen, Umfragen)Andere Länder, je nach Bedarf wird das Außen auch im Innen entworfen (z.B. AusländerInnen, Juden, FaulenzerInnen, Kriminelle ...)Delegation und formale HerrschaftRepräsentanten (PolitikerInnen, Prominente) und Kampagnen („Du bist Deutschland“, „Sommermärchen“ usw.)
Moderne DemokratienBürgerschaftwie Staat/Nationwie Staat/NationDiskursmacht und KontrolleFunktionseliten plus RepräsentantInnen
Religion/ GlaubensgemeinschaftGott und seine Schäfchen (Psalm 23)Gottesdienst, Kreuzzüge, GlaubensfesteAnders- oder UngläubigeVerkündungsmonopole zum angeblichen Willen der höheren MachtVerkünderInnen von Gottes Wort oder anderen Weisheiten
Verein und ParteiMitgliederVersammlung, Jubiläum, VereinsfestNichtmitglieder, konkurrierende Verbände/ParteienWie ein Staat im KleinenSprecherInnen, Vorstand, PräsidentIn
Kommune, WGDie dort WohnendenPlenum, WG-Abend, HaustürschlüsselNachbarInnen, HausbesitzerInnen, potentiell alle AnderenHausrechtOft niemand, manchmal MietvertragsnehmerIn
RätesystemeBasisBezugsgruppen und SprecherInnenratBei bisherigen Versuchen im Kleinen: Die, die so nicht agieren wollen oder – bei Konsensprinzip – die außerhalb des Konsens bzw. die KonsensgegnerInnenDiskursmacht und Kontrolle von Koordinierung und KommunikationFunktionseliten (PressesprecherIn, Moderation u.ä.)

Ist das Kollektiv konstruiert, erlangt es Handlungsmacht, d.h. es agiert als eigene Persönlichkeit neben oder meist sogar über den Individuen. Diese treten in ihrer Bedeutung stark oder komplett zurück. Das Subjekt wechselt, es abstrahiert sich von den Einzelnen hin zum Kollektiv.

Aus Bergstedt, Jörg (2006), „Demokratie. Die Herrschaft des Volkes. Eine Abrechnung“, SeitenHieb-Verlag Reiskirchen (S. 40)
Basis der Demokratie ist ... nicht nur die Erfindung des Volkes, sondern zudem diese gedankliche Erschaffung als Kollektivsubjekt, d.h. als handlungsfähige Masse (Subjekt) in seiner Gesamtheit (Kollektiv, Gemeinwille).

Darin liegt auch ein entscheidender Unterschied zwischen Kollektiv und Kooperation. In einer Kooperation bleiben die Einzelnen die Subjekte des Handeln. Sie treten als Personen auf, agieren und entscheiden als Personen. Erklärungen, Meinungen und politische Positionen erfolgen im Namen der Person - und, wenn mehrere eine gemeinsame Meinung formulieren, als Runde dieser Personen. Es gibt kein Subjekt außer den Menschen selbst. Ein "Wir" existiert nur als beschreibendes Wort, dass tatsächliche, gemeinsame Handlungen oder Positionen im konkreten Fall darstellt. Kollektiv schafft eine Metaebene. Wer zum Kollektiv gehört, geht als Einzelperson ganz oder teilweise unter. Das "Wir" bekommt eine Eigenständigkeit. Wenn das Kollektiv handelt oder nach außen tritt, muss die/der Einzelne nicht mehr dabei sein. Ja - er/sie muss nicht einmal davon wissen.


Die Merkmale des „Demos“ im Überblick
  • Innen und außen sind definiert, in Abstimmungs- und Eigentumsgemeinschaften sogar auf die Person genau.
  • Der "Demos" handelt wie eine eigene Persönlichkeit, d.h. er kann Entscheidungen treffen, für das Ganze sprechen und handeln.
  • Er steht über den Individuen und besitzt Anspruch auf Durchsetzung gegenüber den Einzelnen.
  • Für Definition und Sanktion der Regelverletzungen bedarf es konkreter Personen oder Gremien mit Privilegien.
  • Die gemeinsamen identitätsstiftenden Werte oder Merkmale sowie die über den Interessen der Einzelnen stehenden Gemeininteressen fördern eine Normierung.

Durch bestimmte Ritualisierungen der Entscheidungsfindung oder Verkündung der identitätsstiftenden Gemeinsamkeiten kann die anti-emanzipatorische Wirkung des „Demos“ verstärkt werden. Hierzu zählen spritiuelle Beschwörungen gemeinsamer Eigenschaften (kosmische Quellen, Götter, Karma ...), Selbstverpflichtungserklärungen und Konsensfindungen.

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