Offener Raum

DIE VÖLKER DES KLEINES M@NNES: ANARCHIE, KOLLEKTIV UND KOLLEKTIVE IDENTITÄT

Einleitung


1. Einleitung
2. Egal was, Hauptsache Einheit und/oder Kollektiv
3. Erscheinungsformen und Steigerungen
4. AnarchistInnen pro Kollektiv
5. AnarchistInnen als Kollektiv: Wir und die anderen
6. Anarchistische Kritik des Kollektiven
7. Links zur Anarchie auf www.projektwerkstatt.de und anderswo

Ein Text im Buch "Anarchie. Träume, Kampf und Krampf im deutschen Anarchismus" (Gliederung)

Kommen wir zum nächsten Thema - und jetzt wird es deutlich verfahrener. Denn im Umgang mit Kollektivität und Identität sind anarchistische Strömungen wesentlich stärker selbst in herrschaftsförmigem Gedankengut gefangen oder reproduzieren mangels eigener Analyse munter solche Herrschaftsformen. Um das zu begreifen, ist zunächst einmal zu klären, was Kollektivität ist und wodurch es sich z.B. von Kooperation oder Kommunikation unterscheidet. Das ist wichtig, um Missverständnisse zu vermeiden - schließlich soll hier Kollektivität als Gefahr und kollektive Identität als Beherrschungsform behandelt werden.

Kollektiv ist ein Zusammenhang von Menschen, der mehr ist als die Summe der Einzelnen und auch mehr als die Kooperation der Einzelnen, die ja dank besserer Handlungsmöglichkeiten, gegenseitiger Hilfe und Ergänzung von Fähigkeiten auch bereits über die reine Summe der Beteiligten hinausgeht.
Kollektivität macht aus der Summe eine Art eigener Person. Das Kollektiv handelt nicht mehr nur in Form der Einzelnen, sondern selbst. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das bei näherem Hinsehen tatsächlich stimmt oder es doch weiterhin Einzelne sind, die handeln. Entscheidend ist, dass es so wirkt, dass das Kollektiv handelt und dieses auch bei den Mitgliedern des Kollektivs so empfunden wird. Das "Wir" entwickelt sich im Kollektiv von der reinen Beschreibung ("Wir spielen Fussball") zur eigenen Persönlichkeit ("Wir sind der FC X"). Diese kann handeln und als Rechtsperson Verträge unterschreiben, Eigentum bilden usw. - jedenfalls im zur Zeit existierenden kapitalistischen Rechtsstaat.
Eine weitere Stufe erlangt das Kollektiv mit einer Identität, die dem Kollektiv zugedacht wird. Sie beschreibt Wesensmerkmale des Kollektivs und trennt damit zwischen Innen und Außen. Sie ist - wie das Kollektiv selbst - immer damit verbunden, auch gedacht zu werden von den Mitgliedern des Kollektivs (allen, den meisten oder den prägenden). Die größte kollektive Einheit ist zur Zeit das Volk als originäre Bevölkerung einer Nation oder nach ähnlichen Kriterien, z.B. Regionen, abgegrenzt. "Die Schweizer" sind mehr als das Nebeneinander von Millionen Menschen, mit unterschiedlicher Sprache und noch vielen weiteren Unterschieden. Die Schweiz als Ganze ist handlungsfähig, tritt als Akteur im globalen Maßstab auf und schuf sich eine Identität, die mehr darstellt als die Grenzkontrolle an einer eher zufälligen Linie durch die Landschaft. Immerhin ist diese Identität nicht mit einem derart übersteigerten Gefühl der Rassenüberlegenheit verbunden, wie das "die" Deutschen schon einige Male drauf hatten und daraus einen - blutig umgesetzten - Anspruch auf Vernichtung vermeintlich Minderwertiger ableiteten. "Die" Schweiz diskutiert "nur" über Begrenzung und "Wegweisung" (=Abschiebung) von Nicht-SchweizerInnen.

Es fällt nicht schwer, derart absurde Kollektivitäten und Identitäten abzulehnen. Das ist in anarchistischen Kreisen auch durchgehend der Fall. Nationen und Staaten werden dort regelmäßig abgelehnt, wenn mensch von skurrilen Randerscheinungen rechtsextremer Szenen wie den NationalanarchistInnen absieht, die aber offensichtlich eher mit dem revolutionären Pathos der Anarchie kokettieren als irgendwas begriffen zu haben, was Herrschaftsfreiheit bedeuten könnte.
Schwieriger wird es mit anderen Kollektiven und kollektiven Identitäten. Hier tun sich vielerlei Überraschungen auf, wie angesehen Kollektivät ist, wenn sie nicht mit den bösen Kategorien wie Nation oder Religion verbunden wird. Oft wirkt es so: individuell = schlecht, kollektiv = gut.

Stowasser, Horst (2007): "Anarchie!", Nautilus in Hamburg (S. 489 ff., gesamtes Kapitel als .rtf)
Zum Beispiel das Dogma des Kollektivismus. Der Glaube, kollektives Arbeiten, kollektive Entscheidungen und kollektives Leben seien in jedem Falle gut und stünden für die libertäre Lebenseinstellung schlechthin, ist in der heutigen Anarchobewegung hartnäckig verbreitet. All das ist natürlich höherer Blödsinn, denn Kollektive können ebenso gut schlechte Arbeit leisten, dumme Entscheidungen treffen oder das Leben zur Hölle machen. Die Tatsache, dass in unseren Gesellschaften das soziale Zusammenwirken von Menschen mittels Hierarchie und Vereinzelung denkbar schlecht organisiert ist, hat dazu geführt, dass der Anarchismus kollektive Modelle entwickelte, die möglicherweise besser sind. Das bedeutet aber nicht, dass auf einmal alles kollektiv zu geschehen habe. Praktische Kollektivmodelle können hervorragende Lösungen bieten, dogmatische Kollektivideologie aber ist das Ende von Freiheit und Vielfalt. Formalisiertes Kollektivhandeln führt leicht zum Tod individueller Kreativität und würgt jede Art persönlichen Genies ab. Heraus kommt das graue Einheits-Mittelmaß. Wer aber hat denn gesagt, dass man sich entscheiden müsse zwischen entweder kollektiv oder individuell? Das kann nur der kleine monokausale Virus im Hinterkopf gewesen sein!

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