Offener Raum

ANGST ESSEN FREIHEIT AUF: KONTROLLWAHN IN ANARCHISTISCHER THEORIEN UND PRAXIS

Naives Machtverständnis: Hierarchien schöngeredet


1. Anarch@s für Kontrolle
2. Anarchismus von Polizei bis Knast
3. Spätestens in der Krise: Demokratisierung von Entscheidungsprozessen
4. Naives Machtverständnis: Hierarchien schöngeredet
5. Gegenentwürfe: Herrschaftskritische Positionen
6. Links

Grund für die hohe Akzeptanz machtförmiger Gesellschaftsgestaltung ist nicht nur der Mangel an Mut, das offene, kommunikative und unsichere Terrain freier Vereinbarung gedanklich zu betreten und stattdessen einen Fluchtpunkt auf dem scheinbar festeren Boden geregelter Verhältnisse zu suchen. Sondern er entspringt auch der fehlenden Intensität von Herrschaftsanalyse und -kritik.

Im Original: Fehlende Herrschaftsanalyse
Nach der Revolution lösen sich Avantgarde und Führungsstrukturen von selbst auf ...
Text auf www.anarchismus.at:
Hat das Volk erst einmal triumphiert und sich nach freiheitlichen Prinzipien organisiert, haben diese Avantgarden keine Funktion mehr, sie verschwinden.

Aus Mühsam, Erich (1933): "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", Nachdruck bei Syndikat A und im Internet
Unzulässig im Sinne anarchistischer Auffassung werden Gewalt und Zwang erst, wenn sie im Dienste einer Befehlshoheit stehen, und daraus erklärt sich eben die oberflächliche Gleichsetzung der drei Begriffe, daß der Staat kraft seiner Macht den Alleingebrauch von Zwang und Gewalt für sich in Anspruch nimmt. Der Anarchismus ist gegen Staatsgewalt und Staatszwang, weil er gegen Staatsmacht ist. Um der Sauberkeit des Denkens willen muß aber unterschieden werden: Gewalt ist Kampfhandlung, bloßes Mittel zur Erreichung eines Zwecks; Zwang ist Maßregel im Kampf und Mittel zur Sicherung des erreichten Kampfzweckes; Macht ist ein Dauerzustand von Gewalt und Zwang zur Niederhaltung von Gleichheitsgelüsten, ist das von oben her verfügte Zwangs- und Gewaltmonopol der Herrschaft.

Macht und Gegenmacht?
Aus: Wilk, Michael (1999): "Macht, Herrschaft, Emanzipation", Trotzdem Verlag in Grafenau (S. 15)
Beschränkt sich der Faktor eigener Macht in den meisten Fällen auf die Rolle sogenannter "Gegenmacht", so erscheint die Problematik noch überschaubar. Sie erreicht jedoch eine andere Dimension, wenn sich die Rolle des gesellschaftlichen Agierens vom Revoltieren weg" - hin zur Neugestaltung gesellschaftlicher Realität wandelt. Die Schwierigkeiten im Umgang mit Macht traten in der anarchistischen Geschichte deshalb immer dann am deutlichsten zu Tage, wenn es gelungen war, libertäre Philosophie aus den Diskussions- und Widerstandszirkeln in breitere soziale Zusammenhänge wirken zu lassen, sprich wirkliche gesellschaftliche Relevanz zu ereichen.

Avantgarde und Elite
Der Theoriemangel wirkt sich auch auf die Einstellung zu Autoritäten aus. Beruhen deren Macht nicht auf klar erkennbaren Hierarchien oder Privilegien, so scheint für viele AnarchistInnen die Herrschaftsfreiheit bereits vollendet. In alten Texten mag das entschuldbar sein angesichts des damals noch wenig verbreiteteten Wissens über informelle und diskursive Machtgefälle.

Im Original: Gute und schlechte Autorität in alten Werken
Aus Bookchin, Murray (1992): "Die Neugestaltung der Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 144, mehr Auszüge)
Viele junge Menschen der Gegenkultur waren vorübergehende Exilanten aus den Vororten der Mittelschicht, wohin sie nach den 60em zurückkehren sollten. Die Werte vieler kommunaler Lebensformen blieben jedoch als Ideale bestehen, die in die Neue Linke einflossen, als diese ihre eigenen Kollektive für die Verrichtung bestimmter Aufgaben wie das Drucken von Literatur oder die Leitung 'Freier Schulen" und Kinderläden gründeten.

Aus Mühsam, Erich (1933): "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", Nachdruck bei Syndikat A und im Internet (S. 46, mehr Auszüge)
Wir Anarchisten verabscheuen eine Führerschaft mit Befehlsgewalt und auf Dauer gesicherter Wirksamkeit, also jede Staatsregierung, Beamtenschaft und Parteizentrale, jede Diktatur und jede Klüngelherrschaft. Aber wir leugnen weder die Nützlichkeit des Spielleiters im Theater noch des Vorsitzenden einer Versammlung oder des Kapitäns auf einem Schiff. Hier teilen persönliche Eigenschaften dem Geeigneten bestimmte Aufgaben in bestimmten Fällen zu.

Aus Bakunin, Michail: Gott und der Staat (Nachdruck 1995 im Trotzdem Verlag, Internet ,S. 65)
Das größte wissenschaftliche Genie sinkt unvermeidlich und schläft ein, sobald es Akademiker, offizieller, patentierter Gelehrter wird. Es verliert seine Selbstbestimmung, seine revolutionäre Kühnheit und die unbequeme und wilde Tatkraft, die für das Wesen der größten Genies charakteristisch sind, die stets berufen sind, hinfällige Welten zu zerstören und die Grundlagen neuer Welten zu legen. Zweifellos gewinnt es an Höflichkeit, nützlicher und praktischer Weisheit, was es an Denkkraft verliert. Es wird, mit einem Wort, verdorben. ...
Eine wissenschaftliche Körperschaft, welcher die Regierung der Gesellschaft anvertraut wäre, würde sich bald gar nicht mehr mit der Wissenschaft, sondern mit ganz anderen Dingen beschäftigen; sie würde, wie alle bestehenden Mächte, sich damit befassen, sich ewige Dauer zu verschaffen, indem sie die ihr anvertraute Gesellschaft immer dümmer und folglich ihrer Regierung und Leitung immer bedürftiger machen würde.
Was aber von wissenschaftlichen Akademien gilt, gilt in gleicher Weise von allen konstituierenden und gesetzgebenden Versammlungen, selbst den aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangenen. Letzteres mag zwar ihre Zusammensetzung erneuern, was aber nicht hindert, daß sich in wenigen Jahren eine Körperschaft von Politikern bildet, die tatsächlich, nicht rechtlich bevorrechtet sind und durch ihre ausschließliche Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten eines Landes eine Art politischer Aristokratie oder Oligarchie bilden.

Aus: Arschinoff, Peter A. (1923): "Geschichte der Machno-Bewegung", Nachdruck bei Unrast, Münster (S. 31)
Wir kennen keine einzige Revolution in der Weltgeschichte, die vorn werktätigen Volk selber, das heißt von den städtischen Arbeitern und von der armen, die Arbeit anderer nicht ausbeutenden Bauernschaft im eigenen Interesse geführt worden wäre. Obwohl die eigentliche Kraft aller großer Revolutionen Arbeiter und Bauern waren, die - um sie zum Sieg zu führen - unzählige Opfer brachten, waren doch die Führer, Ideologen und Organisatoren der Formen und Ziele der Revolution immer wieder nicht Arbeiter und Bauern, sondern abseits stehende, fremde Elemente, gewöhnlich eine Art Mittelelement, das zwischen der herrschenden Klasse der absterbenden Epoche und dem Proletariat von Stadt und Dorf schwankte.

Ein emanzipatorisches Verständnis von Wissen und Wissenschaft müsste privilegierte Stellungen auflösen. Menschen sind immer ExpertInnen, jeweils in den Gebieten, die sie in ihrem Leben berühren. Die einen können Perfektionswaffen bauen, die anderen das Gewürzregal in der eigenen Küche managen. Was komplizierter und mehr Wissen bzw. Übung verlangt, ist bereits eine offene Frage. Was von beiden der Menschheit mehr nützt, ist augenfällig. Es ist eine Form der Macht, bestimmtes Wissen als bedeutend zu definieren, die Personen mit Titeln (und Geld) zu überschütten und ihnen damit einen gesellschaftlich höheren Einfluss zu verschaffen.

Im Original: Kompetenzautorität
Aus Bakunin, Michail: Gott und der Staat (Nachdruck 1995 im Trotzdem Verlag, Internet, S. 67 f.)
Folgt heraus, daß ich jede Autorität verwerfe? Dieser Gedanke liegt mir fern. Wenn es sich um Stiefel handelt, wende ich mich an die Autorität des Schusters; handelt es sich um ein Haus, einen Kanal oder eine Eisenbahn, so befrage ich die Autorität des Architekten oder des Ingenieurs. Für irgendeine Spezialwissenschaft wende ich mich an diesen oder jenen Gelehrten. Aber weder der Schuster, noch der Architekt oder der Gelehrte dürfen mir ihre Autorität aufzwingen. Ich höre sie frei und mit aller ihrer Intelligenz, ihrem Charakter, ihrem Wissen gebührenden Achtung an, behalte mir aber mein unbestreitbares Recht der Kritik und der Nachprüfung vor. Ich begnüge mich nicht, eine einzige Spezialautorität zu befragen, ich befrage mehrere, vergleiche ihre Meinungen und wähle die, die mir die richtigste zu sein scheint. Aber ich erkenne keine unfehlbare Autorität an, selbst nicht in ganz speziellen Fragen; folglich, welche Achtung ich auch immer für die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit einer Person habe, setze ich in niemanden unbedingten Glauben. Ein solcher Glaube wäre verhängnisvoll für meine Vernunft, meine Freiheit und den Erfolg meines Unternehmens, er würde mich sofort in einen dummen Sklaven und ein Werkzeug des Willens und der Interessen anderer verwandeln.
Wenn ich mich vor der Autorität von Spezialisten beuge und bereit bin, ihren Angaben und selbst ihrer Leitung in gewissem Grade und, solange es mir notwendig erscheint, zu folgen, tue ich das, weil diese Autorität mir von niemand aufgezwungen ist, nicht von den Menschen und nicht von Gott. Sonst würde ich sie mit Abscheu zurückweisen und ihre Ratschläge, ihre Leitung und ihre Wissenschaft zum Teufel jagen, in der Gewißheit, daß sie mich die Brocken menschlicher Wahrheit, die sie mir geben könnten, in viele Lügen eingehüllt, durch den Verlust meiner Freiheit und Würde bezahlen ließen.
Ich neige mich vor der Autorität von Spezialisten, weil sie mir von meiner eigenen Vernunft auferlegt wird. Ich bin mir bewußt, daß ich nur einen sehr kleinen Teil der menschlichen Wissenschaft in allen Einzelheiten und positiven Entwicklungen umfassen kann. Die größte Intelligenz genügt nicht, alles zu umfassen. Daraus folgt für die Wissenschaft wie für die Industrie die Notwendigkeit der Arbeitsteilung und Vereinigung. Ich empfange und ich gebe, so ist das menschliche Leben. Jeder ist abwechselnd leitende Autorität oder Geleiteter. Es gibt also keine stetige und feststehende Autorität, sondern einen beständigen Wechsel von gegenseitiger Autorität und Unterordnung, die vorübergehend und vor allem freiwillig ist.
Diese gleiche Ursache verbietet mir also, eine feste, beständige und allgemeine Autorität anzuerkennen, weil es keinen universellen Menschen gibt, der imstande wäre, mit jenem Reichtum an Einzelheiten, ohne den die Anwendung der Wissenschaft auf das Leben nicht möglich ist, alle Wissenschaften, alle Zweige des sozialen Lebens zu umfassen.


Verzwickte Sache: Räte
Für die überregionale Koordinierung schlagen AnarchistInnen regelmäßig Rätesysteme vor - und leben sie auch in ihren politischen Organisierungen. Dort zeigen sich allerdings schon die Probleme: Wer in den Räten sitzt, hat zumindest diskursive Macht, dominiert die Wahrnehmung gemeinsamer Entscheidungen und ist sprachlicheR VermittlerIn dessen, was dort geschieht. Da helfen auch imperatives Mandat und jederzeitige Abberufbarbeit nicht. Andererseits bedarf es auch überregionaler Koordinierung. Es ist eine Schwäche anarchistischer Theorie, sowohl die Probleme diskursiver Macht durch Räte nicht sinnvoll analytisch aufzuarbeiten wie auch kaum überzeugende Konzepte für überregionale Kooperation zu haben. In der Textsammlung "Freie Menschen in freien Vereinbarungen" findet sich ein Text zu Rätesystemen, ihre Gefahren und Chancen sowie einer zu überregionaler Kooperation.

Aus Erich Mühsam: Alle Macht den Räten
Nach mancherlei zweifelndem Schwanken hat sich in den Bewegungen des kommunistischen Anarchismus und des Anarchosyndikalismus das Bekenntnis zur Räterepublik als der freiheitlichen Gesellschaftsform des Sozialismus ziemlich allgemein durchgesetzt. Die Losung "Alle Macht den Räten" (...) erwies sich als so erschöpfender Ausdruck des wahren Willens der gesamten revolutionären Arbeiterschaft in allen Ländern.

Nur konsequent: Interne Hierarchien
Wer an das Gute von oben glaubt, ist nur konsequent, dass auch im Inneren umzusetzen. So lassen sich überall versteckte Hierarchien finden - und mitunter wird das sogar formalisiert. Darwin Dante wollte eine anarchistische Partei bilden, schön gestuft mit Gremien und Kontrollorganen.

Im Original: Kontrolle auch anderswo
Aus der Satzung der Partei "Basisdemokratie Jetzt / "Die Libertären Basisdemokraten":
Organe der Partei sind: ... der Ortsgruppenvorstand, ... die Mandatsverwaltungsbeauftragten ... die Landes- und Kontinentalräte und den Weltrat. (§ 4)
Verwaltungsbeauftragte sind der Vorsitzende, dessen Stellvertreter, der Protokollführer und und die geschäftsführenden Mitglieder des Ortsgruppenvorstandes.
(§ 9)
Die Aufgabe des Kontinentalrates soll die Verteilung von gewonnenen Rohstoffen bzw. die Koordination des Abbaus von Rohstoffen nach den Anforderungen der Landesräte sein. Die Aufgabe des Weltrates soll die Koordination von Hilfsprogrammen bei Natur- und Umweltkatastrophen neben der von den Landesräten und Ortsgruppen direkt eingeleiteten Hilfe sowie die Koordination von Weltraumprojekten sein.
(§ 13)

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