Offener Raum

LIBERTÄR ODER LIBERAL? WENN DIE MARKTWIRTSCHAFT ZUM ANARCHISTISCHEN IDEAL WIRD ...

Einzelfragen


1. Einleitung
2. Markt oder Staat - die falsche Frage
3. Einzelfragen
4. Die Schnittstellen zu Marktwirtschaft und Bürgerlichkeit
5. Parecon - krude Wirtschaftstheorie aus anarchistischen Kreisen
6. Alternativökonomie
7. Kritik
8. Links und Materialien

Anarchistische Gruppen und Einzelpersonen äußern sich auch zu wirtschafts- und sozialpolitischen Einzelfragen. Hier dominieren erneut Blindflecke und vergessenene Themen, zudem sind Vorschläge und Kritiken meist tagespolitischer Art, d.h. sie werden nicht eingebettet in weitergehende theoretische Überlegungen und Konzepte. Immerhin gibt es sie: Die Einmischung per konkreter Forderung, als Kritik und oder Vorschlag zur Veränderung.
Naturgemäß dominieren, entsprechend der Orientierung von Teilen der anarchistischen Strömungen, soziale Themen mit Bezug auf ArbeiterInnen. Vor allem anarcho-syndikalistische Organisationen haben hier Schwerpunkte.

Grundsicherung
Es ist nicht schwer zu erkennen, dass Herrschaft vielfach auf den Entzug von selbstorganisierten Überlebensmöglichkeiten aufbaut. Wo Menschen nicht oder nur schwer selbständig die dazugehörigen materiellen Grundlagen schaffen (z.B. durch Zugriff auf Boden oder andere Produktionsmittel) oder wenigstens erwerben können, sind sie gezwungen, sich den Angeboten anderer zur fremdbestimmten Versorgung zu unterwerfen. Die AnbieterInnen der Versorgung diktieren dabei umso mehr die Bedingungen, wie die sich ihnen unterwerfenden Menschen nur als Einzelne und austauschbar dastehen. In der Regel erhalten die VerkäuferInnen ihrer Arbeitskraft als Gegenleistung der universale Tauschmittel Geld, es sind aber weiterhin auch moderne Formen der Sklaverei und Leibeigenschaft verbreitet, bei denen oft nur eine vorgegebene Unterkunft und Nahrung als "Lohn" herausspringen.
Menschen, die keine andere Chance haben, müssen zur Revolte greifen oder sich mit Haut und Haaren unterwerfen. Sie unterliegen dann einer extremen Form der Beherrschung, die ihre ganze Person einnimmt und kaum Privatheit mehr zulässt. Gegen solche Unterdrückungsformen richtet sich die Idee der Grundsicherung, d.h. einer Garantie der Versorgung mit dem Lebensnotwendigen unabhängig von der Unterwerfung unter Abhängigkeitsverhältnisse. Eine solche Grundsicherung würde die individuellen Handlungsspielräume erhöhen und hätte - wenn entsprechend gestaltet und nicht mit neuen Kontrollmechanismen verbunden - befreienden Charakter. Allerdings schafft sie gleichzeitig eine Legitimation für den Garanten der Grundsicherung, als der in allen vorliegenden Konzepten der Staat vorgesehen ist. Für eine antistaatliche Theorie wie den Anarchismus ist das ein Widerspruch, der einer Grundsicherung daher den Rang eines Reformschrittes zuweist, der zu mehr führen muss - nämlich zu einem gleichberechtigten Zugriff auf alle gesellschaftlichen Ressourcen in freien Vereinbarung. Nur leider fehlt es dem meisten AnarchistInnen an gesellschaftlicher Theorie, so dass sozial- und wirtschaftspolitische Forderungen, wenn sie nicht sogar ganz ausbleiben, auf Einzelvorschläge reduziert bleiben und oft staatslegitimatorischen Charakter annehmen.

Aus Bookchin, Murray (1992): "Die Neugestaltung der Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 187, mehr Auszüge)
Brot ist mit Verlaub "heiliger“ als priesterlicher Segen; Alltagskleider "gesegneter" als kirchliche Gewänder; der persönliche Wohnraum spirituell wichtiger als Kirchen und Tempel; das bessere Leben auf Erden ist segensreicher als das im Himmel verheißene. Die Lebensgrundlagen müssen als das gelten, was sie buchstäblich sind: Grundlagen, ohne die das Leben unmöglich ist. Sie Menschen vorzuenthalten, ist schlimmer als "Diebstahl" (um Proudhons Bezeichnung für Eigentum zu gebrauchen); es ist schlechterdings Totschlag.

Allerdings ist das nicht überall so. Vielmehr schlagen die bis ans marktliberale heranreichenden Theorien (oder was mensch mangels vorhandener Theorie zu solcher erklärt) auch hier durch. Zum Teil zeugen die Texte von regelrechtem sozialrassistischen Hass auf LeistungsverweigerInnen.

Im Original: Ohne Fleiß kein Preis
Peter Kropotkin: "Die Eroberung des Brotes", Trotzdem Verlag in Grafenau
Alles soll allen gehören! Vorausgesetzt, daß Mann und Weib die ihnen mögliche Arbeit liefern, haben sie ein Recht auf den ihren Bedürfnissen entsprechenden Teil des Gesamtprodukts.

Vorschlag aus "Parecon" (mehr Zitate unten)
Wer mehr verdienen will, muss eben länger oder härter arbeiten. ... (S. 17)
Entlohnung je nach persönlichem Bedarf. Doch so gut sich diese Norm anhört, sie hat eigentlich gar nichts mit ökonomischer Gerechtigkeit zu tun, sondern zählt zu einer anderen Kategorie - der des Mitgefühls. Unter moralischen Wertaspekten kann die reine Gerechtigkeit nicht das letzte Wort sein. ... (S. 43)
Eines ist allerdings klar: Es hätte natürlich keinen Zweck, die Einkommensgerechtigkeit und das Mitgefühl so weit zu treiben, dass die Produktion zusammenbricht oder andere unerwünschte Nebeneffekte uns das Leben erschweren. ... (S. 44)
Das hört sich etwas abgehoben an, doch stellen wir uns mal vor, ich wäre auf einer einsamen Insel gestrandet, mit mir 50 andere Schiffbrüchige. Das Schiff hätte Spielzeug geladen, von dem wir einiges retten konnten. Die Leute könnten am Traumstrand schwimmen gehen, sie könnten sich mit Spielen oder Musik die Zeit vertreiben, Beziehungen aufbauen, Gedichte schreiben, die Natur erforschen etc. Andererseits müssten wir auch Unterkünfte errichten, Nahrungsmittel anpflanzen, Trinkwasservorräte anlegen, Feuerstellen hüten etc. Zur Wahl stünden also eintönige Schwerarbeit oder aber Spaß und Muße.
Und jetzt meine ganz persönlichen Erwartungen: Ich brauche für mich ein Dach über dem Kopf, Lebensmittel und Trinkwasser, neuwertige Kleidung sowie eine kostbar geschnitzte Flöte. Meine Gesundheit, mein Glück, mein Lebenssinn - alles hängt davon ab, ob ich diese Dinge bekomme oder nicht. Ich brauche das einfach. Arbeiten mag ich aber auch nicht, weder an der Herstellung dieser Sachen noch anderswo. Ich mag viel lieber schwimmen und herumhängen, als mich tagtäglich mit solchen Pflichten zu befassen. Ich brauche sehr viel Freizeit. So bin ich eben.
Niemand wird ernsthaft glauben, ich käme mit dieser Erwartungshaltung durch. Doch was soll mit der Forderung, ich m üsse in jedem Fall alles bekommen, was ich benötige, anderes gemeint sein, als dass solche Ansprüche auch legitim wären? Ich hege den Verdacht, man meint in Wirklichkeit: Klar, du bekommst was du brauchst, aber du musst auch eine faire Gegenleistung in Form von Arbeit liefern, und du benötigst auch nicht was du sagst, sondern was im Licht dessen, was du sagst, die Gesellschaft dir zugesteht. Wenn aber dies so ist, dann ist die Forderung nach Bedürfnisbefriedigung ohne Arbeitsbezug nichts als dummes Gerede.
Außerdem ist diese Forderung nicht nur die Produktmenge betreffend utopisch - nicht alle können alles kriegen. Es wäre auch alles andere als gerecht, die Bedürfnisse Arbeitsfähiger, die nicht arbeiten, zu belohnen. Es würde auch nichts nützen, sich immer fair und gerecht verhalten zu wollen ...
(S. 274 f.)

Parecon-Autor Michael Albert in einem Interview
Wirtschaftsgerechtigkeit, das sei, wenn man im Verhältnis zu seiner Anstrengung, bzw. zu den erbrachten Opfern, belohnt wird.

Aus "Utopie - ein Vorschlag" der Utopie-AG/Gewaltfreies Aktionsbündnis Hamburg (1995, S. 24)
Grundsätzlich ist es doch gerecht, daß jemand, der viel und gut arbeitet, auch mehr verdient.

Arbeit
Interessant sind einige Theorieansätze und Vorschläge aus anarchistischen Kreisen zur Neuorganisierung der Arbeit insgesamt. Hier zeigt sich mitunter das Besondere des Anarchismus, der von seinen Grundlogikgen hier eine Ablehnung nicht nur eines auf Profit und Verwertung ausgerichteten Wirtschaftens, sondern auch eines dirigistischen Staates darstellt.

Im deutschsprachigen Raum hat das Modell der "5-Stunden-Woche" von Darwin Dante eine größere Bedeutung errungen. Danach wird heute die meiste Arbeitskraft in Bereichen eingebracht, die keine für das menschliche Leben notwendige oder förderliche Produktivität darstellten. Kapitalismus (und sicher auch andere Wirtschaftssysteme) sind damit alles andere als effizient, sondern folgen den Zwängen zu Profit, Profitabilität und ständiger Verwertung aller Dinge und allen Lebens. Dabei werden Mensch und Natur zu reinen Waren, die möglichst kostengünstig auszubeuten sind. Das System beruht nicht auf Freiwilligkeit, sondern auf Kontrolle, Strafe, Entzug von Alternativen und Garantie von Privilegien sowie der formalen Absicherung ungleichen Zugriffs auf Ressourcen und Produktionsmittel. Die Aufrechthaltung all dieser Herrschaftsbeziehungen und -verhältnisse verbraucht ungleich mehr Produktivkraft als die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen für das Leben der Menschen selbst.
Es ist folglich eine einfache mathematische Sache, dass schon Überwindung kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse, noch mehr die Überwindung aller Herrschaftsformen viel Zeit und Kraft freisetzen würde, so dass, wenn zukünftig Freiwilligkeit statt Zwang vorherrschen, keine Sorge bestehen braucht, dass die für Überleben und gutes Leben notwendigen Tätigkeiten verrichtet würden. Im Gegenteil: Der menschlichen Schaffenskraft und Kreativität würden etliche Bremsen entzogen, wenn z.B. Neuerungen in der Gestaltung von Arbeitsabläufen, innovative Techniken usw. nicht mehr unter dem Zwang der Profitabilität stehen, sondern sich an freiem Willen oder Bedürfnissen orientieren.

Im Original: Produktivkraftverschwendung
Produktivkraft wäre da, wird aber verschwendet
Aus Schandl, Franz: "Die Welt sich vorstellen ohne Geld und Markt", in: Freitag, 11.4.2004 (S. 5)
Hierzulande dürften wohl an die 90 Prozent aller Verausgabung von Arbeitszeit direkt oder indirekt dem kapitalistischen Rechnungswesen (Buchhaltung, Verkauf, Auspreisung, Kalkulation, Abrechnung, Werbung, Versicherung, Banken, Mahnwesen, Münzprügung, Gelddruck) geschuldet sein. Emanzipation meint ein Arbeitsentsorgungsprogramm ungeheuren Ausmaßes. Dieses Potenzial wird frei und steht anderweitig zur Verfügung. Imagine!

Aus Bookchin, Murray (1992): "Die Neugestaltung der Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 196, mehr Auszüge)
Ich muß aber unzweideutig klarmachen, daß man größten Wert auf arbeitsersparende Geräte legen wird - seien es nun Computer oder automatische Maschinen - um die Menschen von unnötiger Plackerei zu befreien und um ihnen den zeitlichen Freiraum dafür zu sichern, an sich selbst als Einzelwesen und als Bürger zu arbeiten. Wenn neuerdings vor allem die amerikanische Umweltbewegung den Einsatz von arbeitsintensiven Technologien fordert, offenbar um auf den Knochen der arbeitenden Klassen Energie zu "sparen", so ist dies eine skandalöse, selbstgerechte Anmaßung der Mittelschichten. Diese Professoren, Studenten, Akademiker und der ganze übrige gemischte Salat der Leute, die diese Ansichten vertreten, sind meist solche, die noch nie in ihrem Leben gezwungen waren, einen mühsamen Arbeitstag etwa in einer Gießerei oder am Fließband einer Automobilfabrik hinter sich zu bringen. Ihre eigenen arbeitsintensiven Aktivitäten haben sich meistens auf ihre "Hobbies" beschränkt, die allenfalls Joggen, Sport und erholsame Wanderungen in Nationalparks und Wäldern einschließen. Ein paar Wochen heiße Sommerwochen in einem Stahlwerk würde sie schnell von der Vorliebe für arbeitsintensive Industrien und Technologien heilen.

Das Genannte gilt aber nicht immer und überall. Einer der aktuellsten unter den umfassenden und auch in anarchistischen Spektren angesehenen Vorschläge für ein vermeintlich anderes Wirtschaften schlägt unter dem Stichwort "partizipatorische Ökonomie" (Parecon, siehe Extraabsatz unten) wieder nichts anderes als Steuerung und Verteilung vor, ohne das gewaltige Herrschaftspotential in solchen Vorgängen zu erfassen. Wie üblich steckt hier ein blinder Glaube an eine irgendwie geartete bessere Obrigkeit hinter dem Gesamtmodell. Der Akzeptanz in anarchistischen (und auch anderen, z.B. politisch "linken" Kreisen und NGOs) tat das keinen Abbruch. Vielleicht war die Begrenztheit sogar förderlich, weil fehlende Herrschaftsanalysen hier mindestens üblich, wenn nicht sogar gewollt sind, um nicht allzustark auf Konfliktkurs mit Hierarchien und den zur Zeit Herrschenden zu geraten.

Zuteilung von Arbeit ja, aber etwas netter!
Vorschlag aus "Parecon" ... vermeintlich ein aktuelles anarchistisches Werk (mehr Zitate hier ...)
Daher soll jeder arbeitenden Person - also jedem, der zum Sozialprodukt beiträgt - ein Bündel verschiedener Tätigkeiten zugewiesen werden. Diese Tätigkeitsbündel sind so gestaltet, dass im Durchschnitt für jeden die gleiche Arbeitsplatzqualität gilt. (S. 16)
Wer mehr verdienen will, muss eben länger oder härter arbeiten. (S. 17)
Wer aber stellt die Tätigkeitsbündel gerecht zusammen, und wer bewertet den Grad des Einsatzes - und entscheidet somit über die Bezahlung? Das machen die Arbeiter natürlich selbst, und zwar in ihren Räten. (S. 17)


Arbeit einschließlich fremdbestimmter Erwerbsarbeit wird in vielen Zusammenhängen nicht grundlegend, sondern nur in seinen konkreten Ausformung kritisiert, obwohl diese nichts Anderes sind als die erwartbare Folge eines Systems von Abhängigkeiten, Zwang und Entzug von Alternativen. Dennoch sind profitable Betriebe, Arbeit und Herstellung von Waren für den Verkauf im Markt selten theoretisch hinterfragt und auch Praxis in den meisten anarchistischen Projekten, z.B. Kommunen. Der Arbeitsethos kam zu neuen Weihen ...

Im Original: Maloche ja, aber in kollektiven Betrieben?
Michail A. Bakunin (1873): Staatlichkeit und Anarchie (S. 639)
Kooperation in jeder Gestalt ist zweifellos die rationale und gerechte Form der zukünftigen Produktion. Um aber ihr Ziel erreichen zu können - die Befreiung der arbeitenden Massen und ihre volle Entlohnung und Zufriedenstellung - ist es unerläßlich, daß Land und Kapital in jeder Hinsicht zum Kollektivbesitz gemacht werden.

Erich Mühsam: Alle Macht den Räten. Aus: Fanal Nr. 3 / 1930 (5. Jahrgang)
Die Organisation von den Arbeitsstätten und Arbeitsbeziehungen aus, das ist die politische und wirtschaftliche Gesellschaftsform der Anarchisten, das ist die staatlose, die dem Staat entgegengesetzte Gesellschaftsform der Anarchie. [...] Die alten politischen Systeme würden also ersetzt werden durch die Repräsentation der Arbeit.

Kritik an hoher Bewertung der Arbeit als solcher
Aus Wicht, Cornelia (1980): "Der Ökologische Anarchismus Murray Bookchins", Verlag Freie Gesellschaft in Frankfurt (S. 29)
In dem Maße, wie die Anzahl der Industriearbeiter im Verhältnis zu anderen sozialen Klassen zunahm, wurde der Arbeit - genauer gesagt, der mühevollen Arbeit - auch im revolutionären Denken ein höherer, positiver Wert zugemessen. Diese puritanische Arbeitsethik der Linken ging im Laufe der Zeit nicht zurück, sie bekam sogar in den 20er Jahren einen gewissen Nachdruck. Die Massenarbeitslosigkeit machte den Arbeitsplatz und die soziale Organisation der Arbeit zu einem zentralen Thema der sozialistischen Propaganda. Der Sozialismus wurde gleichgesetzt mit einer auf Arbeit beruhenden Gesellschaft.

Peter Kropotkin: Die Eroberung des Brotes. Trotzdem Verlag in Grafenau
Das Recht auf Wohlstand ist die soziale Revolution, das Recht auf Arbeit ist günstigstenfalls ein industrielles Zuchthaus.


Peter Kropotkin: Die Eroberung des Brotes. Trotzdem Verlag in Grafenau
Das Lohnsystem hat seinen Ursprung in der persönlichen Aneignung des Grundes und Bodens und der Arbeitsinstrumente durch einige wenige. Es war dies eine notwendige Bedingung für die Entwicklung der kapitalistischen Produktion. Das Lohnsystem wird mit dieser verschwinden, selbst wenn man es unter der Form von „Arbeitsbons“ wird vermummen wollen.

Aus Robert Kurz: Antiökonomie und Antipolitik
... brachten die alte Genossenschaftsbewegung seit dem 19. Jahrhundert ebenso wie die sogenannte Alternativbewegung der Neuen Linken seit den späten 70er Jahren wie aus dem Lehrbuch des Marxismus tatsächlich all das hervor, was ihnen die Politikaster und Staatsplanungs-Fetischisten immer schon vorgeworfen hatten: massive Kleinbürgerlichkeit und Klitschenmentalität, Abwendung von jeder gesamtgesellschaftlichen Perspektive, technologische Rückständigkeit und Selbstausbeutung, Verblödung des Landlebens; schlielich Rückkehr in den Schoß der bürgerlichen Gesellschaft qua Bankrott oder qua kapitalistische "Professionalisierung".
Was zurückblieb, waren im Fall der älteren Arbeiterbewegungs-Genossenschaften stinknormale kapitalistische Konzerne wie Co-op oder Neue Heimat, die sich bekanntlich durch besondere Anfälligkeit für Korruptionsskandale blamierten. Die Reste derjüngeren Alterantivbewegung dagegen besetzten hauptsächlich Marktnischen im Kasinokapitalismus durch handwerkliche Luxusproduktion für eine betuchte Honoratiorenkundschaft, durch Edel- und Ethno-Gastronomie, Kultur- und Sozialarbeitsklitschen (kommerziell oder am Staatstropf) usw. Hier hat sich ein klassisches Mittelstands- und neues Spießbürgerpotential übelster Sorte zusammengebraucht, das entweder den keynesianstischen Umverteilungsgeldern hochkonkurrent nachjammert oder gar längst wieder "stolz" aus sein "selbsterarbeitetes" und selbsterrafftes Kleineigentum ist, protestantischen Arbeitsmasochismus pflegt und politisch zwischen kommunaler SPD-Mafia und grünen Realos angesiedelt ist. Daraus kann auch noch bei weitergehender Krise ein Zulauf für den rechtsradikalen oder "linken" Sozialnationalismus kommen. Zwar gibt es unter den Resten der Alterantivbewegung auch Menschen, die sich ihren emanzipatorischen Anspruch und die radikale Gesellschaftskritik nicht abgeschminkt haben, aber sie finden dafür in ihrem eigenen Milieu keinen sozialen Boden mehr. ...
Alternativbewegung der 70er und 80er Jahre ... die damaligen Vorstellungen einer "anderen Produktions- und Lebensweise" waren durchwegs mit einer reaktionären "Kritik der Produktivkräfte" verbunden. Mikroelektronik, Computer und Potentiale er Automatisierung in der industriellen Produktion wurden verteufelt. Diese Produktivkraftkritik konnte und wollte die Frage der sozialen Emanzipation nicht an die Aufhebung der "abstrakten Arbeit" binden, sondern umgekehrt an deren Rückführung auf ein historisch tieferes Niveau. Damit blieb die Alternativbewegung aber auch dem System der "Arbeitsplätze" verhaftet; sie ergriff die Partei der (vermeintlich alternativ und sozial befriedigend auszugestaltenden) "Arbeit" gegen die vom Kapitalismus hervorgebrachten Produktivkräfte. Auf diese Weise wurde sie sogar kompatibel mit konservativen und kulturpessimistischen Ideologien, die schon seit dem späten 18. Jahrhundert etwas in Gestalt der literarischen, politischen und sozialökonomischen Romantik das Rad der Geschichte zurückzudrehen versuchten. In den meisten Fällen wurde dabei nur innerhalb der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte irgendein früherer Entwicklungsstand pnatasmatisch verlärt und in eine "schwarze", reaktionäre Utopie verwandelt.



Eigentum
Eine merkwürdige Blindstelle zeigen viele anarchistische Texte in Sachen Eigentum. Obwohl diese Gesellschaft stark auf dem Eigentumsprinzip aufbaut und sich wesentliche Teile der Zwangsapparate nur mit deren Sicherung und Akkulumation beschäftigen, wird Eigentum oft nicht als Problem an sich, sondern nur in seiner konkreten Form z.B. allzu großer Reichtumsunterschiede problematisiert.

Im Original: Pro Eigentum
Dogma plus Naivität: Gewaltfreiheit repektiert Eigentum
Aus Stehn, Jan (1997): "Manjana. Ideen für eine anarchistische Gesellschaft"
Die sozialen AnarchistInnen haben fünf Gebote für ein herrschaftsfreies Nebeneinander unterschiedlicher Ideen aufgestellt
  • keine Gewalt gegen Menschen und deren Eigentum
  • keine gravierende Ungleichheit in der Eigentumsverteilung ...
Weil jeder Mensch ein Recht auf Eigentum hat, wird gravierende Eigentumsungleichheit - wie wir sie etwa in unserer kapitalistischen Gesellschaft kennen - in Manjana nicht akzeptiert. Die AnarchistInnen schützen das Recht auf Eigentum, soweit es nicht in solchem Umfange angehäuft wird, dass andere dadurch arm an Eigentum werden. (S. 6)

Pro Kapitalakkumulation - Kreditanstalten sammelt private Produtionsmittel ein
Aus Stehn, Jan (1997): "Manjana. Ideen für eine anarchistische Gesellschaft" (S. 17)
Ein Unternehmen, das keine wirtschaftliche Perspektive mehr hat, tut gut daran, seinen Kapitalkredit zu kündigen. Das ist jederzeit mit einer Frist von einigen Monaten möglich. Anders als bei einem Bankkredit brauchen die UnternehmerInnen ihren Kredit nicht geldlich zurückzahlen. Ihre Kreditschuld gilt getilgt, wenn sie ihr Unternehmen, also Grundstücke, Gebäude, Produktionsmittel, Warenlager, Kasse usw. der Genossenschaftsbank übergeben.

Aber Zweifel: Kollektiveigentum und "alles soll allen gehören" gleichgesetzt!
Peter Kropotkin: Die Eroberung des Brotes. Trotzdem Verlag in Grafenau
Unter der Gefahr des Untergangs sind die menschlichen Gesellschaften gezwungen, auf folgende Fundamentalprinzipien zurückzukommen: die Produktionsmittel müssen als Kollektivprodukt der Menschheit wieder in Kollektivbesitz der Menschheit gelangen; (...) alles soll allen gehören, da alle dessen bedürfen, da alle nach Maßgabe ihrer Kräfte den Reichtum haben schaffen helfen, und da es faktisch unmöglich ist, den Anteil zu bestimmen, der in der gegenwärtigen Produktion einem jeden zufallen könnte.

Ein seltenes Gegenbeispiel lieferte das Buch bolo'bolo, ohnehin einer der wenigen romanhaften Zukunftsentwürfe, in dem tatsächlich auf Kontroll- und Steuerungsstrukturen verzichtet wird. Mensch mag ihn im Detail als mehr oder weniger gelungen ansehen, aber immerhin ist ein Versuch.
Das gilt auch für die Eigentumsfrage. Statt Wischi-waschi-Aussagen über irgendwie bessere Steuerung durch Räte voller gutwilliger Menschen oder, wie im Marxismus sehr beliebt, die Vergesellschaftung zu fordern, ohne zu erklären, wer oder was eigentlich denn diese Gesellschaft als Eigentümerin ist, entwirft P.M. frech ein Modell: Jede Person hat eine Kiste - das taku. Was da reinpasst, ist der eigene Besitz. Niemand anders darf an die Kiste. Was nicht mehr reinpasst. gehört allen und ist hinsichtlich der Nutzung immer Gegenstand freier Vereinbarung ohne Privilegien. Soll etwas Neues rein und es fehlt der Platz, muss etwas Anderes raus.
Daneben gibt es wenig aktuelle anarchistische Texte, die Eigentum klar ablehnen. Der Satz "Eigentum ist Diebstahl", ja aus anarchistischer Quelle stammend, ist heute vergessen oder zum plakativen Slogan für die typischen Demonstrationsblöcke verkommen, in denen Lautstärke die Inhalte ersetzt.

Am 27.4.2012 fand sich in der FR eine Doppelseite zum Thema Urheberrecht. Für das Eigentum und die Verwertbarkeit von Wissen sprachen sich zwei Personen aus. Andere bezogen die Gegenposition. BefürworterInnen von Eigentum und Verwertung waren Dota Kehr ("Kleingeldprinzessin") und Lutz von Schulenburg, Chef des "anarchistischen" Verlag Nautilus. Peinlich.

Im Original: Eigentumsbehälter in bolo'bolo
Aus P.M.: "bolo'bolo" zu taku (Quelle)
Jedes ibu bekommt von seinem bolo einen Behälter aus solidem Material (50x50x100 cm), über dessen Inhalt es als sein exklusives Eigentum verfügen kann.

Geld, Zinsen und Co.
Da überrascht nicht, wenn AnarchistInnen auch noch das Geld loben. Das sei ein "ideales Instrument" zur Selbstbestimmung. Als Basis scheint immer wieder das Eigentumsrecht durch: Das Recht auf Handel (mit Geld) ergebe sich als Folge der uneingeschränkten Bestimmungsgewalt über das Eigentum.

Im Original: Geld macht frei - Anarchie und der schnöde Mammon
Aus Stehn, Jan (1995): "Eine Struktur für die Freiheit"
Zum Recht, frei über den Ertrag der eigenen Arbeit zu verfügen, gehört auch das Recht sich mit anderen auszutauschen. Geld ist ein ideales Instrument, mit dem Menschen ihre Austauschverhältnisse zueinander selbstbestimmt und unkompliziert gestalten können. Die Prinzipien und Regelungen, nach denen Menschen sich austauschen, sind offen und selbstbestimmt.
Geld ermöglicht, Menschen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, ohne daß der Verwendungszweck fest gelegt ist.

Pro Marktwirtschaft, Geld und Zinsen
Aus Stehn, Jan (1997): "Manjana. Ideen für eine anarchistische Gesellschaft"
"Geld erst ermöglicht unser Leistungen ohne direkte Gegenleistungen zu tauschen", sagten mir meine manjanischen Freunde. "Wo wir geben, müssen wir nicht zugleich nehmen, und wo wir nehmen, müssen wir nicht geben. Das Geld verbindet uns in der Gesellschaft miteinander und lässt doch den einzelnen frei über sein Geben und sein Nehmen, über seine Arbeit und seinen Konsum entscheiden."
Die Sozialen AnarchistInnen lobten mir nicht nur das Geld, sie lehnen auch Konkurrenz, Gewinne und Gewinnstreben nicht ab. ... "Wenn Betriebe überdurchschnittliche Gewinne machen, dann fördern wir die Konkurrenz." ... (S. 13)
Die Zinsen schaffen Anreiz, sparsam mit Kapital umzugehen. Manjana ist keine rechte Gesellschaft, viele Dinge müssen mit einfachen, arbeitsintensiven Mitteln erledigt werden. Die Genossenschaften setzen die Zinsen so hoch (oder so niedrig), dass ihr Angebot an Kredit der Nachfrage entspricht. (S. 14)

Aus dem Kapitel "Der Kapitalrat - die Monopolbank der Gesellschaft", in: "Utopie - ein Vorschlag" der Utopie-AG/Gewaltfreies Aktionsbündnis Hamburg (1995, S. 26)
Das Privatgeldkonto: Auf dieses Konto wird mein Arbeitsverdienst überwiesen, eventuell ein Einkommenszuschuß und unabhängig von meinem Einkommen, meine Rente, falls mir eine solche zusteht.

An anderen Stellen gehört die Abschaffung des Geldes zu den Versuchen alternativer Ökonomie. Doch auch hier zeigt sich, dass zentrale Mechanismen kapitalistischer Wirtschaft nicht erfasst und analysiert werden. Denn ein zentrales Problem, welches Geldflüsse nach sich zieht und durch diese in konkrete Form gebracht wird, ist die Wandlung aller Sachwerte und menschlichen Fähigkeiten in Waren. Ihnen wird ein Wert zugeordnet, der sie kauf- und verkaufbar macht. So wandelt wirtschaftliches Geschehen alles in Werte, freigegeben zum Handeln mit ihnen.
Dieses Prinzip wird nicht abgeschafft, wenn die Währung wechselt - also weder durch regionale Währungen noch durch eine Umstellung auf Zeit als Währungseinheit. Damit werden zwar die Parameter von gerechter und ungerechter Verteilung verschoben, es entstehen neue Arme und Reiche, aber das Prinzip wird nicht aufgehoben.

Im Original: Anarchistisch bezahlen
Kompliziertes Tauschen, unsichtbare Ordnungskräfte, nebliges Heilversprechen
Aus Grosche, Monika (2003): "Anarchismus und Revolution", Syndikat A in Moers (S. 24)
Der Wert der Produkte ist unveränderlich, er wird durch die dafür erbrachte Arbeit, gemessen in Zeit, bestimmt. Dabei wird ein allgemeiner Durchschnittswert für das jeweilige Produkt errechnet und zugrundegelegt. Gebrauchswert und Tauschwert sind somit in dieser auf Nützlichkeit ausgerichteten Produktion identisch, ebenso wie Produktion und Konsumption, es herrscht weder Mangel noch Überproduktion. Wo eine Sache eine natürliche Seltenheit besitzt, sorgt die Gesellscahft dafür, daß alle daran teilhaben können. Der Geldverkehr wird abgeschafft, im Tausch handelt man Produkt gegen Produkt. Die Werte sind somit nach Proudhon einer beständigen Zirkulation unterworfen, was jegliche Anhäufung von Mehrwert unmöglich macht. Jeder Produzent/jede Produzentin erhält den gleichen Lohn, der Anteil bestimmt sich aus der Summe des Arbeitsertrags dividiert durch die Anzahl der ProduzentInnen. Jede Person verrichtet die Arbeit, für die sie das meiste Talent hat, ohne dadurch einen unterscheidlichen gesellschaftlichen Stellenwert einzunehmen.

Technikkritik
Das Verhältnis zur Technik unter den AnarchistInnen scheint gegensätzlicher kaum sein zu können. Während einige diese komplett ablehnen und vom Leben in Einklang mit der Natur träumen, bejubeln andere die Technik als neue Ausgangsbasis für eine Befreiung des Menschen aus der Fremdbestimmung der Lohnarbeit. Platt sind oft beide einschließlich vieler Zwischen- und Nebenformen solcher Ideologie. Denn das macht die Schnittmenge vieler Auffassungen zur Technik aus: Es fehlt der Blick durch die Herrschaftsbrille. Die Frage nach emanzipatorischer und antiemanzipatorischer Wirkung wird selten gestellt.

Technik pauschal als Chance oder Gefahr zu werten, ist zu wenig für einen emanzipatorischen Ansatz. Die entscheidenden Fragestellungen sind, ob sie eine Befreiung in Gleichberechtigung der Menschen fördert oder die Herrschaftsverhältnisse stärkt. Dazu findet sich ein Text "Mensch - Natur - Technik" in der Sammlung "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen". Hier klaffen - zumindest im deutschsprachigen Raum - riesige Lücken. Es dominieren unpolitische Positionen der Art "Atomkraft schlecht, Windkraft gut" oder ähnlich.

Die am weitesten entwickelte der neuen Debatten über Herrschaft und Befreiung lief (und läuft zum Teil noch) im Zusammenhang mit freier Software. In den Organisierungsprinzipien von Betriebssystemen, Programmen, Treibern und mehr wurde die Keimzelle für mehr gesehen. Nach einiger Zeit erschienen Bücher und Abhandlungen über mögliche Perspektiven über den Softwarebereich hinaus. Leider ebbte diese Diskussion wieder ab. Freie Software ist heute zu einer Normalität geworden, die bis in Regierungsetagen Bedeutung gewonnen hat. Ihre ProtagonistInnen beraten heute Konzerne, Polizei und Staatsanwaltschaften, während das Ringen um Befreiung und Gesellschaftsgestaltung stark nachgelassen hat.
In einigen politischen Bewegungen gibt es kleine Strömungen, die emanzipatorische Ideen in den politischen Widerstand einzubringen zu versuchen. Dazu gehört die Idee des "Umweltschutz von unten" oder die "emanzipatorische Gentechnikkritik".


Literaturempfehlung: Reader "Technik für ein gutes Leben oder für den Profit?"
Ein Büchlein zu Technik und Technikkritik mit Diskussionsbeiträgen zur Kritik am Allheilmittel Technik und emanzipatorischen Perspektiven jenseits des Primitivismus. Themen: Technik als Werkzeug ++ Debatte um Technikkritik ++ Was wäre emanzipatorische Technik? ++ Perspektiven.
A5, 114 S., 4 Euro, ISBN 978-3-86747-049-0 ++ Mehr Infos ++ Download als PDF

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