Offener Raum

WER WÄHLT DA EIGENTLICH WAS?

Zahlenspielereien rund um die Wahlurne


1. Einleitende Zitate und Texte aus der Projektwerkstatt
2. Zahlenspielereien rund um die Wahlurne
3. Wer wählt?
4. Leseprobe Demokratiebuch: Einleitungskapitel
5. Buchvorstellungen zum Themenbereich
6. Links und Leseempfehlungen
7. Weitere Links zu Marxismus und Demokratie

Im Original: Carneval against NATO (Bericht)
Aus Williams, Jessica (2006): "50 Fakten, die die Welt verändern sollten", Goldmann Verlag in München
An den allgemeinen Wahlen des Jahres 2001 beteiligten sich in Großbritannien knapp 26 Millionen Wähler. Bei der ersten Staffel der Reality-TV-Show Pop Idol wurden über 32 Millionen Stimmen abgegeben.
In der letzten Woche der ersten Staffel der britischen Castingshow Pop Idol, dem britischen Pendant zu Deutschland sticht den Superstar, war das Feld der jungen Hoffnungsträger erbarmungslos auf zwei Anwärter auf den Thron der Popmusik beschnitten worden. Will Young, ein smarter Politikabsolvent, trat gegen den ehemaligen Chorknaben Gareth Gates an, und die Frage, wer von den beiden gewinnen würde, bescherte den Briten tagelang Stoff für angelegentliche Plaudereien am Kaffeeautomaten. Zur Mobilisierung ihrer jeweiligen Anhänger begaben sich die beiden jungen Männer auf die Straßen des Landes und verteilten Wahlrosetten mit der Aufschrift "Wählt Will" oder "Wählt Gareth". Young machte schließlich das Rennen, am Abend seiner Wahl gaben in nur drei Stunden fast neun Millionen Menschen ihre Stimmen ab und hätten damit beinahe das britische Telefonnetz zusammenbrechen lassen. Hätte er den Wettbewerb nicht gewonnen, so Young, wäre er gerne in die Politik gegangen.
Diese Spaßwahl stieß besonders denjenigen bitter auf, die es gerne sähen, wenn Großbritanniens junge Bürger der Politik ein vergleichbares Maß an Leidenschaft entgegenbringen würden. Im Laufe der zwanzigwöchigen Laufzeit von Pop Idol wurden mehr als 32 Millionen Stimmen abgegeben.' Nach Auskunft des britischen Wahlausschusses hatten bei der Wahl zum britischen Parlament im Jahre 2001 nur 25,9 Millionen Menschen ihre Stimme abgegeben - die Beteiligung von weniger als 60 Prozent war übrigens die geringste seit 1918.2 Allerdings darf man nicht vergessen, dass bei einer allgemeinen Wahl jeder Wahlberechtigte nur eine Stimme abgeben darf, wohingegen man bei Pop Idol so viele Stimmen abgeben kann, wie man möchte (beziehungsweise die eigene Telefonrechnung es verkraftet). Aber das Ganze illustriert eine sehr wichtige Tatsache: Wenn Leuten am Ausgang einer Wahl etwas liegt, werden sie alles dafür tun, dass ihr Votum zählt.
Im Jahre 1950 hatten noch 84 Prozent aller Briten gewählt. Seither aber hat die Zahl derjenigen, die sich dafür entschieden haben, von ihrer Wahlberechtigung Gebrauch zu machen, stetig abgenommen, und junge Leute machen sich am Wahltag am zögerlichsten auf den Weg zur Urne. Das Meinungsforschungsinstitut MORI schätzt, dass bei der Wahl im Jahre 2001 nur 39 Prozent der Achtzehn- bis Vierundzwanzigjährigen gewählt haben, bei den Fünfundsechzigjährigen waren es 70 Prozent.
Es ist ein Trend, der auf der ganzen Welt zu beobachten ist: Junge Leute gehen nicht zur Wahl. Bei der amerikanischen Präsidentenwahl im Jahre 2000 - einem der knappsten Kopf-an-Kopf-Rennen der Geschichte - gaben nur 29 Prozent der Wahlberechtigten zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren ihre Stimme ab, die Wahlbeteiligung insgesamt lag bei 55 Prozent. Japans Parlamentswahl hatte das niedrigste Ergebnis aller Zeiten zu verzeichnen, und nur die Hälfte aller Wähler unter Dreißig geht dort regelmäßig zur Wahl. Mit den Worten eines Neunundzwanzigjährigen: "Wählen ist Zeitverschwendung. Ich habe die Nase voll von Politikern, die in Japan noch nie etwas zum Guten verändert haben."
An den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2004 beteiligten sich weniger als ein Drittel der Wahlberechtigten zwischen achtzehn und vierundzwanzig - wobei aber gleichzeitig zu sagen ist, dass quer durch die EU die Wahlbeteiligung in allen Altersgruppen so gering war, dass die politischen Vertreter Europas sie als "erschütternd" und "Katastrophe" bezeichneten. Nur acht Prozent der Jungwähler gaben an, einer politischen Gruppierung "nahe zu stehen" und erschreckende 30 Prozent erklärten, sie hätten noch nie gewählt. Und das trotz eines höchst bizarren Sammelsuriums an Aktionen, die von politischen Parteien quer durch die EU veranstaltet worden waren. In Estland schenkte eine Partei an Bushaltestellen Kaffee aus, Großbritanniens Parteien druckten ihre Slogans auf Bierdeckel ("Ich trinke, also wähle ich"), und eine Brüsseler Tageszeitung versuchte gar, die Abläufe im Parlament in Form eines Comics zu erklären.
Bei der Bundestagswahl in Deutschland im Jahr 2005 wurde festgestellt, dass die Wahlbeteiligung bei den unter 30Jährigen im Vergleich zur Bundestagswahl 2002 um 1,5 Prozent auf 68,8 Prozent gesunken ist. Auch in Deutschland setzt sich bei den Jungen der Trend zur Wahlenthaltung fort.
Sogar in Südafrika, wo viele noch vor etwas mehr als einem Jahrzehnt für das Recht zu wählen gekämpft und ihr Leben gelassen hatten, haben junge Menschen nicht das Gefühl, dass die politischen Abläufe es wert sind, dass man ihnen seine Zeit widmet. Die geringen Registrierungszahlen mögen die unabhängige Wahlkommission Südafrikas schockiert haben, aber auf den Straßen von Soweto wunderte sich niemand darüber. Der zwanzigjährige Tumi Phana traut Politikern nicht: Er sagt, sie vergäßen grundsätzlich alle Versprechen, die sie gemacht hätten - vor allem, wenn es um die Schaffung von Arbeitsplätzen und die medizinische Versorgung gehe, und sobald sie an der Macht seien, ließen sie die Menschen umsonst für sich arbeiten. "Ehrlichkeit gibt es nicht. Wer stimmt schon freiwillig für einen leeren Magen? Ich werde nicht wählen. Ich falle auf ihre Schwindeleien nicht herein. "
In Großbritannien hat die geringe Beteiligung der Jungwähler das politische Establishment aufgerüttelt. In der MORI-Umfrage für die Wahlkommission hat ein großer Teil der jungen Leute sich freimütig dazu bekannt, für Politik nicht das geringste Interesse zu hegen, in einer BBC-Umfrage unter Nichtwählern aus dem Jahre 2001 erklärten 77 Prozent, es sei sinnlos zu wählen, weil "das ja doch nichts ändert". Die Wahlkommission zitiert Argumente, die bemängeln, Politik habe nichts mehr mit grundlegenden ideologischen Unterschieden zu tun, sondern allein mit technischen Fragen wie dem Beitritt zur Europäischen Währungsunion oder in wessen Besitz der öffentliche Personenverkehr sein sollte und wie er gefördert wird. Manche Leute sagen, das Misstrauen junger Menschen gegenüber Politikern habe mehr damit zu tun, wie die Parteipolitik sich gibt, als mit den Themen, um die es geht, andere sind der Ansicht, dass Wählen und die Teilnahme am politischen Prozess nicht mehr als Bürgerpflicht gesehen werden.
Im Vorfeld der amerikanischen Präsidentenwahl 2004 versuchten Politiker beider Lager mit großem Einsatz, junge Wähler zu umwerben. Der Musikkanal MTV unterstützte Jungwählerinitiativen wie Rock the Vote oder Choose or Lose, mit denen die Jugend dazu gebracht werden sollte, sich für die Wahl registrieren zu lassen. Musiker wie P. Diddy wandten sich an die Hip-Hop-Generation, und die Schauspielerin Cameron Diaz trat in Werbespots auf, die Amerikas Latino-Bevölkerung ansprechen sollten.
Es war keine leichte Aufgabe - denn man musste die jungen Leute nicht nur dazu bringen, sich für die Wahl einzuschreiben, sondern obendrein dazu, in den Wahllokalen zu erscheinen und anzustehen, um ihre Stimmen abgeben zu können. Mit Ausnahme eines kurzen Zwischenhochs im Jahre 1992 war die Wahlbeteiligung unter den amerikanischen Jungwählern seit 1972, dem Jahr, in dem Achtzehnjährige erstmals wählen durften, stetig gesunken. Larry Sabato, Professor für Politische Wissenschaften an der University of Virginia, zeigte sich skeptisch: "Nur weil Kandidaten im schwarzen Anzug bei CNN auftreten, gehen die Leute doch nicht raus und wählen."
Am Wahltag aber gaben Millionen Jungwähler ihre Stimmen ab. Mehr als 20 Millionen beteiligten sich an der Präsidentenwahl, das entsprach einem Zuwachs von 4,6 Millionen gegenüber der Wahl aus dem Jahre 2000. ja, die Beteiligung war sogar durch die Bank erhöht: Im Jahre 2004 wählten mehr als 120 Millionen, im Jahre 2000 waren es im Vergleich dazu nur 105 Millionen gewesen. MTV berichtete, dass Jungwähler - auch diejenigen, die für den demokratischen Kandidaten John Kerry gestimmt hatten - glaubten, 2004 werde sich als Wendepunkt erweisen. Sie glaubten, dass es auf ihre Stimme ankomme.
Das Gefühl, dass eine einzelne Stimme tatsächlich ausschlaggebend für einen Wechsel sein kann, könnte das Gegenmittel für die Apathie der Jungwähler sein. Vor der Wahl von 2004 hatte das in den Vereinigten Staaten ansässige Center for Information und Research an Civic Learning and Engagement CIRCLE Studien darüber veröffentlicht, wie junge Menschen sich am großen politischen Ganzen beteiligten. Im Juli 2003 stellten Umfragen fest, dass die meisten jungen Amerikaner noch nie einen Vertreter des öffentlichen Lebens kontaktiert (80,9 Prozent), an eine Zeitung oder Zeitschrift geschrieben (82 Prozent) oder an einer Protestaktion oder Demonstration teilgenommen (84,4 Prozent) hatten. Doch etwas mehr als die Hälfte der Befragten im Alter zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahren gab an, schon einmal ein Produkt oder eine Marke "wegen den Bedingungen, unter denen das Produkt hergestellt wird" boykottiert zu haben, und 40 Prozent berichteten, schon an Aktionen teilgenommen zu haben, mit denen Geld für wohltätige Zwecke beschafft werden Sollte.
Die CIRCLE-Forscher stellten fest, dass junge Menschen bewusst dazu tendieren, ihren Ansichten auf eine Weise Ausdruck zu verleihen, bei der sie glauben, wirklich etwas bewirken zu können: "Massenveranstaltungen wie Race For The Cure oder die Fahrradaktion AIDS Ride vereinen die Teilnehmer zu großen Gruppen Gleichgesinnter, in denen die einzelnen Akteure 'sehen', dass ihre Beteiligung etwas zählt." Und vielleicht haben die Jungwähler 2004 zum ersten Mal das Gefühl gehabt, dass ihre Stimme zählt.
Was also kann der Rest der Welt aus dem amerikanischen Experiment lernen? Wenn junge Menschen das Gefühl haben, sie haben Einfluss auf den Ausgang einer Wahl - unabhängig davon, ob diese nun entscheidet, wer das Land regieren soll oder wer einen praktisch nicht mehr aufzuhaltenden Hitlistenerfolg erzielen wird - werden sie ihre Stimme abgeben, Die Herausforderung besteht darin, Politik prickelnd und lohnend erscheinen zu lassen.
Eine der von der britischen Regierung erwogenen Reformen sieht die Absenkung des Wahlalters auf sechzehn vor. Regierungsquellen sind der Ansicht, dass ein jüngeres Wahlalter dazu beitragen könnte, Bürgerkunde und den Politikunterricht an den Schulen zu beleben. Eine Familienumfrage der Firma Nest16 zeigte, dass mehr als die Hälfte aller jungen Leute das Wahlalter gerne herabgesetzt sähen, doch in derselben Umfrage erklärten auch 45 Prozent, es interessiere sie nicht, wie das politische System organisiert sei.
Deutschland hatte erwogen, noch einen Schritt weiter zu gehen: Ende 2003 diskutierte die Regierung über einen Vorschlag, Kinder an den Bundestagswahlen zu beteiligen. Bis zum Alter von zwölf Jahren hätten die Eltern das Recht, stellvertretend für ihre Kinder abzustimmen, danach aber hätten die Kinder die Möglichkeit, darauf zu bestehen, ihre Stimme selbst abgeben zu dürfen. Eine Sprecherin der damaligen stellvertretenden Bundestagspräsidentin Antje Vollmer erklärte, Grundidee sei es, in den Familien die Diskussion über Themen zu fördern, die Kinder betreffen. Themen wie Umwelt und Krieg seien bereits bei Kindern im Alter von sechs Jahren fest im Bewusstsein verankert. In den Familien solle darüber diskutiert werden, und die Eltern könnten dann für die Partei stimmen, die den Ansichten des Kindes am nächsten kommt. Politische Themen in der Familie zu diskutieren kann in hohem Maße dazu beitragen, das Interesse für den politischen Prozess bei Kindern zu wecken - und weil man damit eine völlig neue Wählerschaft anspräche, würde sich der Wählerstamm auf einen Schlag um 14 Millionen erhöhen.
Manche Länder probieren überdies neue Mittel der Stimmabgabe aus: Textnachrichten per Mobiltelefon verschicken zu lassen, telefonische Abstimmungen, Stimmabgabe über digitales Fernsehen oder online. Die Wahlkommission zitiert Forschungen, denen zufolge junge Leute vermutlich vor allem Veränderungen begrüßen würden, die die Stimmabgabe bequemer gestalteten. Das erste Internetwahlsystem wurde bei den demokratischen Vorwahlen in Arizona eingesetzt - und die Beteiligung schnellte um mehr als 600 Prozent in die Höhe -, obwohl nur 41 Prozent der Wähler tatsächlich über das Internet abgestimmt hatten. Mehrere Wahlbezirke im Vereinigten Königreich haben bei den Kommunalwahlen vom Mai 2003 mit verschiedenen alternativen Methoden der Stimmabgabe experimentiert, und die Regierung hat sich das Ziel gesetzt, irgendwann nach 2006 eine "e-taugliche" Parlamentswahl zu organisieren.
Das Misstrauen junger Leute, die Politiker nicht vertrauenswürdig finden oder sich von ihnen als ihre Generation nicht angesprochen fühlen, ist womöglich schwieriger aus der Welt zu schaffen. Die politischen Parteien müssen sich mehr darum bemühen, junge Wähler anzusprechen - nicht notwendigerweise dadurch, dass sie Wahlwerbespots im Stil von Musikvideos senden, sondern indem sie dafür sorgen, dass junge Wähler alle Informationen bekommen, die sie brauchen, um relevante Themen zu verstehen, vielleicht auch, indem sie ein paar jüngere Kandidaten aufstellen, darüber nachdenken, wie sich eine Politik alten Stils dem neuen Stil einer jungen Generation anpassen kann, statt das Gegenteil zu fordern.
Jungen Menschen Predigten darüber zu halten, wie wichtig es ist, hart erkämpfte Freiheiten in Ehren zu halten, wird nicht viel helfen, auch nicht, ihnen ein schlechtes Gewissen einzureden, weil sie ihre Rolle in der Gesellschaft nicht adäquat wahrnehmen. Statt zu versuchen, sie an die Wahlurnen zu drängen, sollten die Wahlurnen zu ihnen kommen - ihnen Gelegenheit geben, auf für sie annehmbare Art ihre Meinung zu den wirklich wichtigen Themen zu äußern. Politik ist nicht langweilig; es ist an den Politikern, die Lesung des Haushalts in einer Art und Weise zu gestalten, dass sie für unser tägliches Leben nicht minder bedeutsam erscheint als die Frage, wer in Großbritannien das legendäre Rennen um den ersten Platz in den Weihnachtscharts macht und "Christmas Number One" wird.


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