Offener Raum

BERUFUNGSVERHANDLUNG ZWEITER ANLAUF: PLÄDOYERS DER ANGEKLAGTEN

Symbolisch: Polizeigewalt am 2.3. und 11.4. in/vor dem Landgericht


1. Plädoyer allgemein, Anfang
2. Rahmenbedingungen eines jeden Gerichtsverfahrens
3. Spezielle Rahmenbedingungen dieses Verfahrens
4. Plädoyer allgemein, Ende
5. Symbolisch: Polizeigewalt am 2.3. und 11.4. in/vor dem Landgericht
6. Anklagepunkt „Wahlplakate“
7. Anklagepunkt "Farbschmierereien an der Gallushalle"
8. Anklagepunkt "Körperverletzung" (vermeintlicher Fusstritt)
9. Anklagepunkt "Hausfriedensbruch" (Gaile Lügen)
10. Anklagepunkt "Körperverletzung" (Puffs Daumen-Kino)
11. Anklagepunkt "Beleidigung" (Gülle prügelt)

Bericht vom 2.3. und 11.4. – auch im Internet (www.projektwerkstatt.de/2_3_05) und beim Bericht vom sechsten Prozesstag)

Der Vorfall hat aus meiner Sicht den Prozess unter einen ganz besonderen Blickwinkel gestellt. Die Angeklagten mussten fürchten, als wilde Verschwörungstheoretiker oder einfach Irre hingestellt zu werden mit ihren ständigen Versuchen, gezielte Kriminalisierung, Fälschungen und Erfindungen durch die Polizei zu belegen. Die abfälligen Äußerungen seitens des Staatsanwaltes passen dazu – wobei er ja ohnehin als Teil dieses Komplexes zum Schutz der Obrigkeit und zum Mund-tot-machen unerwünschter Personen an sehr zentraler Stelle gehört.

Diese Lage hat sich durch die Vorfälle, insbesondere den 11.4.2005 verändert, denn nun geschah vor den Augen aller hier Beteiligten genau das, was die Angeklagten immer behaupteten: Polizeigewalt gegen sie und dann die dreisteten Lügen mit Beweismittelerfindung gegen sie. Daher will ich diesen Augenblick noch mal nennen. Er mich zunächst deutlich heruntergezogen – ich war verletzt, mussten einen Prozesstag unter deutlichen Schmerzen hier sitzen und in meinem Kopf drehte sich immer wieder die Frage, in welcher Welt ich hier eigentlich lebe und auf welchen Planeten ich auswandern könne.

Im Wortlaut, weil der Ablauf und Hintergründe wiedergibt:

Anzeige wegen Freiheitsberaubung, Körperverletzung, Sachbeschädigung, falsche Verdächtigung und Beweismittelfälschung am 11.4.2005

Gegen Unbekannt (Führer der Polizeieinheit beim Übergriff am 11.4.2005)
Am 11. April 2005 wurde ich gegen 8.30 Uhr vor dem Landgericht im Zugang der FußgängerInnenunterführung von Beamten der Bereitschaftspolizei attackiert und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Danach erfanden Polizeibeamte vermeintliche Fusstritte von mir gegen einen Polizisten und meldeten das einer für Strafverfolgung zuständigen Stelle, u.a. der Staatsanwaltschaft Gießen.

Im Verlauf des Polizeiübergriffs kam es zu mehreren Straftaten, die ich hiermit anzeige:

  1. Sachbeschädigung
    Eine Ausstellung mit Auszügen aus der „2. Dokumentation zu Polizei, Justiz, Politik und Presse in und um Gießen 2005“ wurde von mir an einem Geländer befestigt. Dieses war einige Tage vorher an gleicher Stelle und in ähnlichem Zusammenhang von der da anwesenden Polizei ausdrücklich akzeptiert worden. Der Zugriff erfolgte mit der fehlerhaften Begründung, die Ausstellung enthielte eine Beleidigung. Hinsichtlich des Punktes „Beleidigung“ ist von der Polizei angeführt worden, dass die Aufschrift „Fuck the police?“ eine Beleidigung darstellen könnte. Diese Aufschrift war auf eine Dokumentationstafel zum Gerichtsprozess aufgebracht, bei der die es um einen Kreidespruch „Fuck the police“ ging. Es ist selbstredend, dass bei einer Dokumentation über diesen Prozess auch dieser Spruch erwähnt wird. Das ist keine Beleidigung. Die Wertung der Gießener Polizei ist daher absurd. Die Sicherstellung der Ausstellung ist daher rechtswidrig. Bei der Sicherstellung wurde die Ausstellung erheblich beschädigt, wenn nicht gar zerstört.
  2. Körperverletzung
    Nach der Sicherstellung der Ausstellung schlug mit der Führer der Polizeieinheit (Name unbekannt) einmal mit der Faust an die linke Seite meines Kopfes. Danach packte er mich an den Haaren und zerrte mich mit erheblicher Gewalt im Eingangsbereich zur FußgängerInnenunterführung hin und her, einmal zerrte er meinen Oberkörper über das Geländer. Dadurch wurde meine Nacken- und Halsmuskulatur erheblich gezerrt. Ich war im Nacken- und Halsbereich weitgehend bewegungseingeschränkt, alle diese Bereiche wiesen entsprechende Schmerzen auf. Von dort ausgehend kam es auch zu Kopfschmerzen. Die Bewegungseinschränkung und die Schmerzen hielten 2 weitere Tage an.
  3. Freiheitsberaubung
    Nach dieser Attacke wurde ich von mehreren Beamten auf den Boden gedrückt und mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Das ist eine Festnahme. Da sie ohne Grund und auch ohne angeführte Begründung erfolgte, stellt dieses eine Freiheitsberaubung dar.
  4. Falsche Verdächtigung
    Insbesondere der körperverletzende Polizeiführer, möglicherweise aber auch weitere, berichteten nach dem Vorfall ohne mein Wissen und ohne eine Eingriffsmöglichkeit von meiner Seite im Innern des Landgerichts Bediensteten des Gerichts und der Staatsanwaltschaft davon, dass ich die Polizisten getreten hätte. Das ist frei erfunden. Da es gegenüber einer mit der Strafverfolgung befassten Stelle erfolgte, ist der Tatbestand der falschen Verdächtigung gegeben. Dass die Polizei dieses bei vollem Bewusstsein tat und auch eine Strafverfolgung des Opfers ihres Übergriffs wollte, lässt sich auch am Punkt 5. ersehen.
    Zusätzlich ist der Straftatbestand der üblen Nachrede gegeben.
  5. Beweismittelfälschung
    Zur Untermauerung seiner falschen Anschuldigung ließ der Polizeiführer einen nassen Fleck auf seiner Hose filmen mit der auf dem Video zu hörenden Bemerkung, dass dieser durch einen vermeintlichen Tritt hervorgerufen wurde. Da aber der Film selbst beweist, dass es gar keinen Tritt gegeben habe, ist dieser Fleck folglich durch etwas anderes entstanden und zu einem Beweismittel umdefiniert worden.

Ich stelle Strafanzeige aus den genannten und allen weiteren denkbaren Gründen.

Als Beweismittel liegt ein Video der Polizeimassnahme vor, in dem der gewaltsame Übergriff der Polizei und die anschließende Fesselung sichtbar sind. Erkennbar ist auch, dass für die Massnahmen keinerlei Begründung abgegeben wurde.

In seiner Klarheit ist der ganze Vorgang kaum zu übertreffen ... und erst wie ein Zeitraffer des gesamten Prozesses. Dabei war es wichtig, dass er im Prozess geklärt wurde – es war auch für mich als Angeklagten sehr aufwühlend, hier wieder verprügelt, verletzt und dann falsch beschuldigt zu werden. Und zu erleben, wie diese Polizeiuniform den Prüglern und Lügnern eine Glaubwürdigkeit verleiht, die nur sehr, sehr schwer zu durchbrechen ist.

Explizit möchte ich aber auch noch mal auf die Nähe des Vorgangs zu den Ereignissen am 11.1.2003 und den entsprechenden Anklagepunkt hier hinweisen. Auch da: Polizei greift an, ist gewalttätig und erfindet schließlich einen Fusstritt. Der 11.4.2005 belegt nicht meine Unschuld – es sind ganz andere Beamte, ein anderer Ort. Aber er belegt, dass die Version nicht absurd ist und nicht vorkommen können. Sondern es ist belegt, dass die Polizei in Gießen so verfährt. Daher kann das auch am 11.1.2003 geschehen sein.

Nach dem Aktenvermerk von KHK Urban und der im folgenden auch öffentlich gewordenen Überführung von Stadtverordnetenvorsteher Gail ist diese Polizeigewalt mit Videobeweis der zweite Vorgang, der diesem Prozess etwas Handfestes verleiht – allerdings etwas, was vor allem die Angeklagten stützt mit der These, dass hier ein Polizei- und Politikfilz herrscht, der selbst zur Gewalt neigt, vor allem aber mit Lügen und Erfindungen agiert.

Bewährung
Die Frage der Bewährung stellt sich eigentlich nicht, weil eine Verurteilung in keinem Anklagepunkt passend wäre. In fast allen Fällen ist die Unschuld bzw. das Nichtstattfinden der ganzen Tat bewiesen oder zumindest das Gegenteil zweifelhaft, wenn nicht unwahrscheinlich. In einem Fall liegen zwingende Verfahrenshemmnisse vor und es gibt gute Gründe dafür, dass die Angeklagten nicht vorsätzlich handelten. Dennoch will ich was zur Frage der Bewährung sagen, z.T. habe ich mich ja schon geäußert: Herr Wendel hatte Recht, ausnahmsweise mal – wenn auch das ein Zufall ist, weil sein Interesse an Bestrafung einfach deckungsgleich war mit seiner Analyse. Ich werde nicht aufhören mit meinen Aktionen. Die allerdings stehen hier nicht vor Gericht. Jedoch provozieren Straßentheater, Frechheit, Unbeugsamkeit usw. Kriminalisierung. Und daher darf mensch damit rechnen, dass es zu neuen Anzeigen und Anklagen gegen mich kommt – egal ob heute ein Freispruch oder ein Urteil erfolgt. Aber es ist völlig logisch, dass eine Bewährungsstrafe solche Anzeigen und neuen Erfindungen der Polizei geradezu provozieren würde, denn der Effekt wäre ja richtig attraktiv: Neue Strafe und Fortfall der Bewährung. Bei jeder Begegnung mit mir könnte ein Polizeibeamter denken: Der ist auf Bewährung, da schreibe ich doch mal einen Widerstand rein – so wie es ja auch jetzt schon häufiger angedroht wird.

Opposition zum Schweigen zu bringen, ist der Job von Herrn Vaupel, von Staatsschützern und Ordnungsbehörden. Warum sollten sie plötzlich damit aufhören? Zumal ein Problem der Auseinandersetzung zwischen Staatsorganen und Menschen immer ist, dass die Menschen alles und die Ausführenden des Staates nichts zu verlieren haben. Wenn die Menschen verlieren, müssen sie das Verfahren zahlen und werden bestraft – nicht selten mit der Ruinierung ihres sozialen Lebens durch den Knast. Wenn der Staatsanwalt verliert, wird niemand bestraft und die SteuerzahlerInnen zahlen den Prozess – und auch noch den Staatsanwalt, die ZeugInnen, das Gericht. Die Eliten haben sich eine bemerkenswerte Position geschaffen, bei der sie wie eine Maschine Menschen abfertigen, ohne jemals selbst belangt werden zu können. Der Unterschied zwischen Demokratie und Absolutismus wird hier hauchdünn.

Die Frage ist einzig ... lässt sich auch das heute hier tagende Gericht zum Erfüllungsgehilfen dieser Interessen machen.

Ich will keine Milde, sondern eine Korrektur. Einen Freispruch, der auch die Geschichte korrigiert, die längst gemacht wurde an den Tischen der Mächtigen, in der dort ebenfalls sitzenden Teilen der Tagespresse dieser Stadt usw. Die aber ins Wanken geriet durch Glück und eine unglaublich aufwendige, energie- und zeitfressende Recherche vor allem durch die, die hier angeklagt sind. Die sich nicht einschüchtern ließen, sondern auch die Kriminalisierung gegen sie selbst noch thematisierten, obwohl klar war, dass das den Hass und die Gier nach einem Mundtotmachen noch steigern würde.

Der Freispruch ist also nötig, um Wiederholungen solcher Polizeistrategien zumindest nicht zu fördern. Aber er ist auch nötig, um Wiederaufnahme zu vermeiden. Denn vieles konnte noch nicht zuende recherchiert werden. Mit den Untersuchungen zu den Lügen und Fälschungen waren und sind wir allein gestellt gegen ein Bollwerk aus Obrigkeit, dass sich gegenseitig stützt nach dem Motto „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“. Bislang mussten wir vor allem auf Fehler und Zufälle hoffen wie den berühmten Vermerk von Herrn Urban zur Stadtverordnetenversammlung am 27.3.2003, sonst würde uns heute noch niemand glauben.

Meines Erachtens reicht das in diesem Prozess aufgehäufte Material nicht nur für einen Freispruch und für viele Ermittlungsverfahren wegen Falschaussage, Meineid und falscher Verdächtigung, sondern eigentlich auch für eine Anzeige gegen die mittelhessische Polizei nach § 129. Wer so systematisch Straftaten erfindet, Falschaussagen macht, Meineide schwört, öffentlich lügt, Menschen rechtswidrig einsperrt – und das eben nicht nur als Aneinanderreihung von Einzel-Fehlern – der ist eine kriminelle Vereinigung!

Aussicht
  • Wie weiter in der Gießener Polizei? Rolle von Meise ... er selbst hat auch gelogen und gefälscht, aber ich weiß, dass er eher gegen diesen Wahnsinn von Kriminalisierung politischer Opposition war. Scharfmacher waren andere, vor allem der Herr Bouffier, von dessen Wohlwollen Herr Meise täglich abhängt. Und die Falken in der Gießener Polizei wie Herr Voss, der ganze Staatsschutz und andere. Es ist zu erwarten, dass die Gießener Polizeistrukturen demnächst vollständig in deren Hände fallen, wenn Meise nun pensioniert wird. Ich bin nicht sein Freund, weit davon entfernt. Ich werfe ihm Lügen und Fälschungen vor sowie die formale Verantwortung für die Skandale der vergangenen Jahre. Aber ich fürchte, die Zeit nach ihm wird gruseliger. Das sind wenig nette Aussichten!
  • Welche Wirkungen eine Verurteilung auf die Praxis der Gießener Polizei hätte, kann niemand wissen. Aber es war in den vergangenen Wochen möglich, die Wirkung eines anderen Urteils zu beobachten. Am 2.3.2005 ist hier im gleichen Raum eine Frau auch in der Berufung verurteilt worden, weil sie „Fuck the police“ mit Kreide auf die Straße gemalt habe. Ein das zufällig sehender Polizist fühlte sich beleidigt. Und in einem bundesweit völlig alleinstehenden Urteil wurde die Frau auch verurteilt. „ Fuck the police“ sei eine Beleidigung jedes einzelnen Polizisten. Das Urteil ist juristisch kompletter Unsinn und zeigt die Gießener Repressionsverhältnisse. Interessanter ist aber für diesen Prozess die Reaktion der Polizei. Sie entwickelte sofort eine unglaubliche Hatz auf alles, was nach Beleidigung riecht. Festnahmen, Durchsuchungen und auch die Gewalteskalation am 2.3.2005 hier vor dem Gerichtsgebäude gehen auf dieses Urteil zurück. Wer durch solche Urteile der Gießener Polizei Freibriefe zum Durchgreifen erteilt, entfesselt die ohnehin schon hohe Bereitschaft zur Gewalt und zu ständiger Repression. „Fuck the police“ ist nur ein kleiner Fall. Wieviel stärker könnte die Repression zunehmen, wenn durch eine Verurteilung in diesem Verfahren der Polizei signalisiert wird: Verhaftet grundlos, prügelt Protestierende, mischt Demonstrationen auf – am Ende glauben wir immer Euch und verurteilen Eure Opfer. Ein Urteil hier würde dieses Gericht wie beim „Fuck the police“-Urteil zu Mitverursachern weiter steigender Polizeigewalt machen. Es wird Zeit, dass das Feuer von Kriminalisierung und Polizeigewalt in Gießen und Umgebung – genauso wie anderswo – gestoppt wird statt neues Öl hineinzugießen.

Wir werden sehen. Das Urteil in diesem Prozess betrifft nicht nur zwei Angeklagte.

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