Offener Raum

BERUFUNGSVERHANDLUNG ZWEITER ANLAUF: PLÄDOYERS DER ANGEKLAGTEN

Anklagepunkt „Wahlplakate“


1. Plädoyer allgemein, Anfang
2. Rahmenbedingungen eines jeden Gerichtsverfahrens
3. Spezielle Rahmenbedingungen dieses Verfahrens
4. Plädoyer allgemein, Ende
5. Symbolisch: Polizeigewalt am 2.3. und 11.4. in/vor dem Landgericht
6. Anklagepunkt „Wahlplakate“
7. Anklagepunkt "Farbschmierereien an der Gallushalle"
8. Anklagepunkt "Körperverletzung" (vermeintlicher Fusstritt)
9. Anklagepunkt "Hausfriedensbruch" (Gaile Lügen)
10. Anklagepunkt "Körperverletzung" (Puffs Daumen-Kino)
11. Anklagepunkt "Beleidigung" (Gülle prügelt)

Der 11. Verhandlunstag war geprägt von umfangreichen Plädoyers seitens beider Angeklagten, deren Ausgangstexte hier dokumentiert werden. Das folgende Plädoyer zum Vorwurf veränderter Wahlplakate liegt auch als .rtf zum Download vor.

Dies ist eine unvollständige Sammlung von Aspekten zum Anklagepunkt, zum Teil ohne voll ausgeschriebene Sätze und ohne jegliche Korrekturlesung. Sie dient als Manuskript zum Plädoyer der Angeklagten J.B. und P.N. am 11. Prozesstag vor dem Landgericht Gießen, 29.4.2005. Alle Angaben sind ohne Gewähr, die Zitate von handschriftlichen Notizen übertragen. Mehr Infos zum Prozess und dieser Text im Internet: www.projektwerkstatt.de/prozess.

Wenn im Text die Ich- oder Wir-Form benutzt wird, ist der Angeklagte B. als Plädierender oder die beiden Angeklagten gemeint.

Dieser Berufungsprozess begann mit einer unspektakulären und weitgehendend übereinstimmend vorgetragenen Begegnung zwischen den Angeklagten und zunächst zwei, dann vier Polizeibeamten in der nächtlichen Jahnstraße in Reiskirchen.

Übereinstimmende Ablaufbeschreibungen
Der übereinstimmende Ablauf, von beiden Angeklagten und den Zeugen so geschildert, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
  • Die beiden Angeklagten gingen die Jahnstraße herunter Richtung B 49. Das sagen die Angeklagten. Das bestätigt auch der Zeuge Gontrum als Fahrer des Polizeiwagens, der die Jahnstraße hochfährt und deshalb von dort das Geschehen gut beobachtet werden kann. Sein Kollege Haberkorn nimmt das auch an, weiß es aber mangels Erinnerung nicht mehr so genau. Damit ist widerspruchslos klar, wie die Angeklagten gelaufen sind. Dieser Weg ist der übliche Fußweg Richtung Projektwerkstatt in Saasen. Und es ist nicht der Weg, der anzunehmen wäre, wenn Menschen im Bereich der B 49 Wahlplakate überklebt hätten und nun von dort aus weggehen. Die Angeklagten kamen überhaupt gar nicht aus einer Richtung, wo Wahlplakate zu finden sind, sondern vom Ortsrand her.
  • Da die beiden Angeklagten ungefähr im Kreuzungsbereich Jahnstraße/Heinrich-Heine-Straße das Auto ihnen entgegenkommen sahen, sich da aber auf der Straße befanden, gingen sie zur Seite. Unabgesprochen, deshalb auf verschiedene Seiten.
  • Das Polizeiauto fuhr an mir als den etwas weiter vorweg und zwecks Ausweichens des Autos nach links gehenden vorbei und hielt dann auf Höhe meines Mitangeklagten an. Als ich sah, dass es ein Polizeiwagen war, lief ich ein Stück, so dass ich im Sichtschutz eines Baucontainers war. Die Begründung hatte ich hier ausführlich genannt – nämlich die Unlust, hier noch mal wie einige Monate früher von der Polizei schikaniert zu werden.
  • Die Polizei hatte aber auch mich entdeckt und rief mir zu, ich solle stehen bleiben. Das tat ich. Der Beamte Haberkorn kam zu mir gelaufen, hat mich am Arm gepackt und zu dem Fahrzeug zurückgebracht.
  • Der andere Polizist hatte derweil meinen Mitangeklagten in Handschellen gelegt, aber sonst auch nichts weiter unternommen. Eine dramatische Situation war nie vorhanden. Die von Zeuge Haberkorn benannte Fluchtstrecke von 50 oder mehr Metern ist völlig übertrieben. Ich lief einige Schritte, eben bis hinter den Baucontainer, der 20-30 m entfernt stand. Mindestens die Hälfte des Wege hatte ich aber schon zurückgelegt, als das Auto auf der Höhe meines Mitangeklagten hielt.
  • Beide Angeklagten wurden durchsucht, dabei wurden einige Papierteile mit Aufdrucken bei meinem Mitangeklagten sichergestellt, während mir der bei mir gefundene, noch originalverpackte Sprühkleber belassen wurde.
  • Diese Funde wurden auch an die Polizeizentrale durchgegeben, ohne dass von dort irgendeine Anweisung zu weiteren Massnahmen erfolgte. Das bestätigten beide Zeugen.
  • Als Grund für den Polizeieinsatz wurde nur die Suche nach Autoaufbrechern genannt. Gegen uns wurde nie irgendeine Beschuldigung irgendeiner Art benannt. Dies wurde uns auch vor Ort so gesagt.
  • Da die erste Streife keine Handschellenschlüssel hatte, musste eine zweite angefordert werden. Das dauerte mindestens eine halbe Stunde, auch hier stimmen die Angaben aller Zeugen im wesentlichen überein.
  • Die Gespräche mit beiden Besatzungen waren locker bis flachsig. Beide Streifenwagenbesatzungen hatten auf der Hinfahrt keine veränderten Wahlplakate gesehen, obwohl diese (wie die Fotos zeigten) recht auffällig gewesen sein müssen (Gebisse, Affenkopf etc.) und, wie auch die Zeugen bestätigten, an der gesamten Hauptstraße entlang standen, die auch der Anfahrtsweg beider Streifen waren, denn beide kamen die Jahnstraße hoch, bogen also von der B 49 ab.

Kleine Abweichung
Das ist soweit von allen bestätigt oder beschrieben worden. Eigentlich fiel für diesen Ablauf nur eine kleine Abweichung auf:
  • So behauptete der Zeuge Gontrum, dass auch ich in Handschellen gelegt worden sein soll. Dabei war er allerdings nicht selbst anwesend, weil er mit dem Angeklagten N. beschäftigt war. Seine Aussage stimmt auch nicht, was bewiesen ist. da das Gegenteilige von den Angeklagten und vom Zeugen Haberkorn übereinstimmend ausgesagt wurde. Diese Abweichung ist für den Anklagepunkt aber ohnehin ohne Bedeutung.

Zwei markante Abweichungen
Markante Unterschiede und Widersprüche zwischen den Schilderungen der Angeklagten und der Polizeizeugen, aber auch zwischen letzteren, gab es in zwei Punkten – der Frage nach Glas und Pinsel sowie die Abläufe der Polizeiaktivitäten nach der Kontrolle:
  • In den Akten vermerkte der Zeuge Gontrum, dass ich ein Glas und einen Pinsel bei mir gehabt haben soll. Genau dem aber widersprach er vehement in der mündlichen Aussage dieser Verhandlung, auch auf nachdrückliche Nachfrage des Staatsanwaltes in diesem Punkt. Ebenso verneint der Zeuge Gontrum, ebenfalls auch explizit auf zweite Nachfrage des Staatsanwaltes, dass die Streife, der er angehörte, nach einem Pinsel und einem Glas gesucht hat.
  • Zeuge Haberkorn, der allerdings keinen eigenen Aktenvermerk nach dem Geschehen angelegt hatte, schilderte wiederum die Existenz eines Glases und eines Pinsels. Auf die Nachfrage, ob er die Gegenstände tatsächlich gesehen hat, korrigiert sich aber auch Haberkorn. „Es hat geklirrt“ führte er aus in Bezug auf ein Geräusch im Baucontainer. Es konnte sich weder erinnern, wo ein etwaiges Glas vorher gewesen sein soll noch warum im Container weder ein Pinsel noch Scherben gefunden wurden. In einem Vermerk wurde sogar behauptet, das Glas hätte auch einen Deckel gehabt. Nun aber sagt Haberkorn klar aus, dass er das Glas selbst gar nicht gesehen, sondern eben nur gehört hätte. Aber wieso dann ein Glas mit Deckel? Kann man das auch hören?
  • Widersprüchlich sind auch die Erfindungen des Glas- und Pinselwegwurfs im Detail. POK Römpf schildert laut Aktenvermerk: „ferner warf er während seinem Fluchtversuch einen Pinsel und vermutl. Flüssigkleber weg“ (Blatt 7). Zeuge Gontrum schrieb in seinem Vermerk noch: „Bei seiner Verfolgung konnte PK Haberkorn feststellen, dass der B. ein Glas mit Schraubverschluss und einen Pinsel in der Hand hatte“ (Blatt 9). Zeuge Haberkorn konnte aber genau das nicht bestätigen. Vielmehr äußerte er in der Vernehmung, nicht zu wissen, wo Pinsel und Glas gewesen sei, bevor es nach seiner Meinung klirrte und er dann auch nie ein Glas oder einen Pinsel fand an der Stelle, wo es seiner Meinung nach klirrte. Gontrum schrieb weiter in seinem Vermerk: „Als er (gemeint: Haberkorn) die Person angehalten hatte und zurück zum Streifenwagen führte, warf dieser das Glas in einen Container“ (Blatt 9). Gontrum behauptet also anders als POK Römpf, dass das Glas auf dem Rückweg und damit nach der Festnahme in den Container geworfen wurde, d.h. nicht auf der Flucht. Damit sind sowohl die Angaben, wo sich Glas und Pinsel beim mir befunden haben sollen, wie auch die, wann ich die vermeintlich weggeworfen haben soll, völlig widersprüchlich. Hinzu kommt, dass Zeuge Gontrum diesmal ganz abstritt, dass er von Glas und Pinsel etwas wüsste.
  • In eklatante Widersprüche verwickeln sich beide Zeugen hinsichtlich ihrer Handlungen nach dem Verlassen des Festnahmeortes. Beide sagen aus, noch einige Minuten durch das Wohngebiet gefahren zu sein. Zeuge Gontrum berichtete sogar, dass sie ausgestiegen und Autos durchgeleuchtet hätten. Danach hätten sie die veränderten Wahlplakate gesehen und diesen Befund an die Einsatzzentrale durchgegeben. Sie hätten den Auftrag bekommen, die beiden Kontrollierten festzunehmen. Sie hätten diese aber nicht wieder gefunden. Dem widerspricht die Schilderung der Angeklagten, also auch meine Erinnerung. Es gab eine weitere, spätere Begegnung mit einem Streifenwagen, bei der auch die Beamten reagierten, aber eben nicht wie welche, die nach uns suchten..
  • Deutlich widersprüchlich war zudem die Beschreibung der Untersuchung des Baucontainers. Zeuge Haberkorn behauptete in seiner Vernehmung in diesem Prozess, dass er „direkt nach der Personenkontrolle“ eine „schleimige Flüssigkeit“ entdeckt hätte. Aber er sagte dann: „Ich habe mir aber zu diesem Zeitpunkt keine Gedanken gemacht“. Diese Aussage widerspricht den Aussagen in der ersten Instanz. Dort sagte Zeuge Haberkorn noch (Gerichtsprotokoll, S. 8 = Blatt 63): „Wir haben ca. 2-3 Stunden später nochmals im Baucontainer nachgesehen. Der Baucontainer war halb gefüllt. Er war beleuchtet, dort konnte man eine feuchte Stelle sehen, wobei es sich eindeutig um Kleber handelte“. Damit ist klar, dass Haberkorn von einem Zeitpunkt spricht, wo er sehr wohl gewusst hätte, was es mit Kleber aus sich gehabt haben könnte. Seine veränderte Aussage in dieser Verhandlung wirkt daher eher wie der Versuch, eine in sich nicht schlüssige Story umzuschreiben, damit die Widersprüche weniger auffallen.
    Zeuge Gontrum hingegen schildert in seiner Zeugenaussage ohnehin sowohl in der ersten wie auch in der zweiten Instanz nichts von einer Überprüfung des Containers. Das wirkt glaubwürdiger, weil er in dieser Hinsicht seine Aussagen nicht veränderte. In dieser Verhandlung wurde er explizit danach gefragt und formuliert deutlich, sich an eine Überprüfung des Containers nicht erinnern zu können. Ein solches Ereignis ist aber vor allem in Verbindung mit der Behauptung, dort Spuren gefunden zu haben, unwahrscheinlich, es „zu vergessen“. Daher belegt die Aussage des Zeugen Gontrum, dass es gar keine Überprüfung gab. Das wiederum legt aber nahe, dass es auch keinen Anlass dazu gab – sprich dass Glas, Schraubverschluss, Pinsel und der zeitlich ohnehin widersprüchlich eingeordnete Wurf nie wirklich existierten.
  • Völlig uneinheitliche Aussagen machten die Zeugen zu den Fragen, ob weitere Polizeiwagen an den Ermittlungen beteiligt waren. Hier ist insbesondere die Frage von Bedeutung, ob auch die Kriminalpolizei in den folgenden Ermittlungen zugegeben war. Zeuge Gontrum sagte in diesem Prozess auf die Frage, ob jemand den Baucontainer untersucht hat, dass er sich daran nicht erinnern kann, aber vielleicht die Kripo das tat. Ein ähnlicher Verdacht, nämlich dass die Kripo vor Ort beteiligt war, geht aus dem Vermerk von Zeuge Gontrum vom 29.8.2002 hervor. Dort spricht er von einer Fahndung „gemeinsam mit einem Fahrzeug der KA“ (Blatt 9), was wohl für Kriminalabteilung steht. Noch deutlicher findet sich das im Vermerk des Polizisten Römpf von der Polizeistation Grünberg, in der er formuliert: „Die KA Gießen unternahm mit hiesiger Streife eine erneute Fahndung“ (Blatt 8). Das ist von Bedeutung, weil damit klar ist, dass die Kriminalpolizei eingeschaltet und selbst tätig war. Sie war zudem mit der Streife Gontrum/Haberkorn unterwegs. Es ist daher ausgeschlossen, dass Spurensicherungen noch vergessen worden sein sollen u.ä. Dass ein Wagen der für solche Tätigkeit zuständigen Abteilung der Polizei auch vor Ort war, aber keine Spuren gesichert, fotografiert oder gefunden wurden, zeigt, dass es keine gab. Die Geschichte von Herrn Haberkorn mit der schleimigen Flüssigkeit, dem Glas und dem Pinsel ist eine Erfindung. Ein Glas mit Deckel wäre in dem Container genauso gefunden worden wie ein Pinsel dort oder in der Nähe. Auch die sog. „schleimige Flüssigkeit“ wäre fotografiert oder als Probe sichergestellt worden – jedenfalls zumindest in dem Fall, wenn die Ermittlungen von der Kripo übernommen worden wären, wie beide Zeugen ja angaben.

Zusammenfassung
Zusammenfassend ergeben die Zeugenaussagen damit wiederum ein eindeutiges Bild:
  • Die konkreten Abläufe, bei denen die hier Angeklagten auch gesehen und ihr Handeln wiedergegeben wurde, sind weitgehend übereinstimmend beschrieben worden und werden von den Angeklagten auch selbst so beschrieben. Aus diesen Handlungen ist keinerlei Bezug zu den veränderten Wahlplakaten abzulesen, eher das Gegenteil wie etwa aus der Richtung, in der die Angeklagten gelaufen sind.
  • Die Schilderungen und Behauptungen, die hier in der Anklage im Kern als belastend benannt wurden, wurden von den Zeugen teilweise abgestritten oder widersprüchlich dargestellt. Dieser Unterschied fällt auf. Es entstand der Eindruck, dass diese Schilderungen im Nachhinein erfunden oder aus unklaren Beobachtungen in eine bestimmte Richtung gewertet wurden. Dazu gehören der „ längliche Gegenstand“, der zum Pinsel wurde, aber in der Vernehmung nicht einmal mehr klar war, wo der sich überhaupt befunden haben soll. Der Zeuge Haberkorn, der ihn als einziger gesehen haben will, antwortete auf die Frage, wo dieser sich befunden habe, mit „Weiß nicht“.
    Ebenso gehört dazu das Nachschauen im Container, dass in jedem Fall zu keiner Sicherstellung irgendeines Beweismittels und auch nicht der behaupteten Gegenstände, die dort hineingelangt sein sollten, führte. Ein Zeuge bestritt insgesamt, dass dort überhaupt nachgesehen wurde, der andere sortierte das Geschehen zeitlich völlig anders ein als in der ersten Instanz und verband das mit einer Begründung, warum er nicht besonders intensiv guckte, die nur bei dieser neuen zeitlichen Einsortierung Sinn macht – nämlich dass er die veränderten Wahlplakate beim Suchen im Container noch nicht kannte.

Ermittlungspraxis bei der Polizei & Co.
Hinzu kommen die üblichen Probleme in der Ermittlungspraxis der Gießener Polizei, speziell des Staatsschutzes und der mit solchen Dingen zeitweise befassten Ermittlungsabteilungen:
  • Umfangreichere Ermittlungen, die einen Tatverdacht tatsächlich erhärten oder ausräumen hätten können, wurden gar nicht erst durchgeführt. Weder wurde im Container irgendetwas sichergestellt noch wurden die veränderten Plakate daraufhin untersucht, ob es das gleiche Papier, der gleiche Kleber u.ä. war wie bei den Angeklagten gefundene Materialien.
  • Die Vermerke zu dem Vorgang spiegeln das Verfolgungsinteresse und das Ermittlungsdesinteresse wieder. Am deutlichsten ist das bei der zu dieser Zeit die Verfolgung von Menschen aus dem Umfeld der Projektwerkstatt koordinierenden Staatsschutzbeamtin Mutz (Blatt 21 f.).
  • Wie oberflächlich im Bereich der Gießener Polizei und des Staatsschutzes im Besonderen ständig gearbeitet wird, zeigt immer wieder der Umgang mit Internetadressen, die willkürlich und ohne jegliche Recherche zugeordnet werden. Das gilt auch für die aufgeklebte Banderole projektwerkstatt.de/giessen, von der im Mutz-Vermerk (Blatt 22) behauptet wird, sie sei von „tatverdächtigen J.B.“ betrieben. Das aber stimmt nicht und ist nie überprüft worden. Wer die Seite anwählt, kommt auf die Informationsseiten des Infoladens und des AK 44 in Gießen sowie weiterer Gießener Gruppen, aber eben nicht zur Projektwerkstatt in Saasen, wo eine Verbindung ja noch erkennbar wäre.
  • Erwähnenswert ist zudem noch Behinderung der Aufklärung durch Staatsanwaltschaft: Wahlmobil-Plakate

Andere Verdächtige?
Bemerkenswert ist noch der Umstand, dass andere Kontrollierte nicht näher untersucht wurden. Dabei wurden sie direkt an der B 49 angetroffen und zudem schon nach Kenntnis der Veränderungen, wenn die Zeitangaben der Polizisten stimmen. Das wirft Zweifel auf, ob die Angaben überhaupt stimmen, dass die Polizei unmittelbar danach die Wahlplakate entdeckt hat. Dagegen spricht auch, dass beide Angeklagte angegeben haben, dass einige Zeit nach der Begegnung der handschellenschlüssellosen Art ein Streifenwagen nochmals an ihnen vorbeigefahren ist ohne jegliches Interesse an einer Festnahme oder erneuten Überprüfung – genau das wollen die Beamten aber als Auftrag gehabt haben.

Weiterer Zweifel: Die Kripo scheint gar nicht vor Ort aufgetaucht zu sein oder hat nichts Verdächtiges gefunden, zumindest ist gar kein Bericht der Kripo entstanden bzw. in die Akten gelangt.

Schlüssige Version der Angeklagten
Die Version der Angeklagten hingegen ist schlüssig. Das ist wichtig ... Richterin Brühl am 21.4.2005: „Alles was plausibel vorgetragen wird von den Angeklagten, muss widerlegt werden“. Die Abläufe sind von den Angeklagten weitgehend identisch mit den Beschreibungen der Polizeizeugen dargestellt worden. Auch im Detail hielten die Angaben stand: So habe ich in meiner Einlassung deutlich gesagt, dass ich die Geschichte von Pinsel und Glas für eine Erfindung halte. Ziel der Erfindung war die Kriminalisierung ... Was ich damals noch nicht ahnte war, dass Zeuge Gontrum diese Version diesmal bestätigen würde, also seine Erfindung aus dem Aktenvermerk und der ersten Instanz widerrief.

Zeuge Gontrum’s Veränderung
Es ist Spekulation, warum Zeuge Gontrum in dieser Verhandlung von Aussagen seines Kollegen, die er in seinem Aktenvermerk noch wiedergab, jetzt abwich und dabei auch blieb trotz Vorhalt des Staatsanwaltes. Möglich sind Erinnerungslücken, aber dann hätte er „Weiß ich nicht mehr“ oder ähnliches sagen können – spätestens beim Vorhalt seiner früheren Aussagen. Denkbar ist aber auch, dass er aus irgendwelchen Gründen diesmal genauer sein wollte, sei es wegen des öffentlichen Charakters dieses Prozesses oder wegen dem warnenden Beispiel des Auffliegens von Falschaussagen im Fall Gail oder wegen anderer Gründe. Das kann dahingestellt sein, es bleibt aber die Tatsache, dass Gontrum die einzig belastende Passage diesmal nicht nur nicht wiederholte, sondern dementierte. Damit gibt es bei ihm gar keine Aussage mehr, die einen Tatverdacht erzeugen könnte, während die Angaben der Angeklagten, die Papieraufkleber für den laufenden Bau eines Anti-Wahl-Mobils vorbereitet zu haben, unwiderlegt ist. Der Beweisantrag, dass die Aufkleber dafür passend sein könnten, ist so gewertet worden, dass dieses auch für das Gericht so feststeht.

Woher entstand Interesse an Strafverfolgung?
Woher, wenn die Vorgänge in der Nacht keinen Tatverdacht hergaben, ist aber das Interesse an der Strafverfolgung und den aufgeblähten Erzählungen entstanden? Dafür gibt es einige Erklärungen:
  • Umfangreiche weitere Veränderungen an verschiedenen Orten in der Folgezeit.
  • Einziger Vorgang, wo überhaupt mal jemand durch Zufall in zeitlicher und örtlicher Nähe festgestellt wurde – der sollte dann wohl genutzt werden mangels Alternativen
  • Staatsschutz ermittelt nicht, sondern kriminalisiert – und das offensichtlich nach politischen Motiven. Ein Vermerk von Staatsschützerin Mutz zu diesem Thema in den Akten zum Anklagepunkt ist von besonderer Bedeutung, weil er zeigt, welche Interessen vorlagen und wie dort im Staatsschutz Gießen gearbeitet wird, sprich: Wie Mutmaßungen und Hass schon reichen, um Aussagen über Täter zu machen. Ein Beleg dafür ist die Notiz von Mutz zu Überklebungen an anderen Orten. Zitat Blatt 22: „Der Nachweis, dass J.B. in Lich, Buseck und Gießen ebenfalls an den „Klebeaktionen“ direkt beteiligt war, kann derzeit zwar nicht eindeutig belegt werden, zumindest kann er aber als Urheber dieser Aktionen in Betracht kommen, wenn nicht sogar angesehen werden“. Ein Begründung oder Benennung von Belegen bzw. Indizien erfolgt einfach gar nicht
  • Zunehmender öffentlicher Druck, z.B. Berichte in Presse mit Hinweisen, dass Polizei keine Handhabe hat. Dafür spricht auch ein Vorgang im Sommer 2003 während des umstrittenen Utopiecamps: Polizei kontrolliert bekifften Pinkler im Park und denkt sich aus, die TäterInnen gefasst zu haben. Presse berichtet auch so. Die Person wurde freigesprochen.
  • Problem ständig steigender Veränderungen ... offensichtlich gab es einen hohen Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad der Veränderungen (Folge: Notwendigkeit von Abschreckung).

Schuldig oder unschuldig?
Es stellt sich abschließend die Frage, ob die Schuld der Angeklagten bewiesen ist ... nein, eher ist klar die Unschuld bewiesen worden. Zumindest ist die Version der Angeklagten deutlich nachvollziehbarer als die Version der Anklage und nach bzw. durch die Vernehmungen gut vorstellbar, dass es so war.

Laut Anklage soll jedes der veränderten acht Plakate in Reiskirchen einzeln verurteilt werden. Daher muss auch für jedes einzeln ein Nachweis erfolgen. Es ist aber gar kein Tatverdacht erhärtet worden und damit erst recht nicht für jedes einzeln. Ganz im Gegenteil sind sogar Wahlplakate dabei, bei denen noch weitere Veränderungen vorgenommen worden, die weder zu den sichergestellten Aufklebern noch zu den politischen Ideen der Angeklagten passen – gemeint sind die Veränderungen mit Filzstiften u.ä.

Gemeinschaftliche Tatplanung?
Nicht verhandelt wurde vor Gericht die Frage einer etwaigen gemeinschaftlichen Tat. Die kam in der ersten Instanz auch nicht zur Sprache. Aber der im Prozess schweigsam, bei der Konstruktion von Gründen für eine Verurteilung dann überrascht kreative Amtsrichter Wendel führte die dann plötzlich im Urteil auf. Eine Verurteilung ist aber meines Erachtens nicht möglich, wenn diese Frage gar nicht erörtert wurde. Es gibt auch keinen Verdacht und keine Hinweise, wann und wo es welche Absprachen gegeben haben soll. Warum sollten die Angeklagten zu einem Ort mit gerade mal acht Plakaten unterwegs sein, wo eventuell schon andere aktiv sind? Warum wurden, wenn die Angeklagten in irgendeiner Weise beteiligt sein sollen und dann, wenn man dieser wilden Spekulation folgen wollte, ja von der Polizei auf dem Weg dorthin durch den Zufallszugriff gehindert wurden, dennoch die Plakate verändert? Insofern – ich spreche das der Vollständigkeit hier trotz der Nichterörterung im Prozess an – ist eine gemeinschaftliche Tatplanung ebenso wenig nachgewiesen wie überhaupt naheliegend wie die Ausführung der Plakateveränderungen durch die Angeklagten.

Zudem noch ein paar Fakten zu dieser Frage:
  • Der Beweisantrag, dass auch andere Personen im Gemeindegebiet Reiskirchen kontrolliert wurden, ist keine Aussage darüber, dass diese Personen etwas mit den Veränderungen der Wahlplakate zu tun haben. Es war allein unter Beweis gestellt worden, dass auch sie es hätten sein können. Insofern kommt eine Verurteilung wegen gemeinschaftlicher Tat nicht wegen den anderen Personen in Frage, weil diese ja überhaupt bisher nicht im Verdacht standen, die Täter zu sein und auch in diesem Prozess keine Hinweis darauf erfolgte. Insofern muss eine gemeinschaftliche Tat allein aus dem Verhalten der Angeklagten selbst und einer möglichen Absprache mit Unbekannten abgeleitet werden. Dieses ist mit den vorliegenden Informationen nach der Beweisaufnahme nicht möglich.
  • Zudem liegt zwischen der Festnahme der Angeklagten und der Kontrolle der anderen Personen eine erhebliche Zeitspanne. Die Angeklagten waren vom beschriebenen Treffpunkt auf dem Weg zu Fuss Richtung Saasen. Sie hatten sich nach ihren Aussagen von dem Treffen verabschiedet. Sie gerieten dann durch Zufall in die Kontrolle nach Autoaufbrechern. Diese dauerte nach den Zeugenaussagen mindestens 30 min, wenn nicht länger. Danach war die Polizeistreife noch im Wohngebiet unterwegs und durchleuchtete die dort abgestellten Autos. Dann fuhr sie davon und entdeckte die Wahlplakate, rief bei der Polizeileitung an und erhielt schließlich von dort nach Rücksprachen dort den Auftrag, nochmals nach den hier Angeklagten zu suchen. So jedenfalls die Version der Polizeizeugen hier. Als sie dieses ausführten, begegneten ihnen an der B 49 andere Personen, die sie nur hinsichtlich ihrer Personalien kontrollierten, sonst nichts. Das ist allein schon überraschend, dass sie die Personen nicht einmal durchsuchten. Klar ist aber, dass insgesamt mindestens eine Stunde vergangen sein dürfte. Da die Angeklagten, während sie von der Polizei festgehalten wurden, niemanden informieren konnten, mussten andere davon ausgehen, dass sie tatsächlich in Richtung Saasen gegangen sind. Eine Stunde später wären sie dort längst angekommen. Es ist auszuschließen, dass für diesen Zeitpunkt, also 1 Stunde später, noch ein gemeinsamer Tatplan bestand. Über was, mit wem und warum gingen die Angeklagten eine Stunde zu früh schon Richtung späterem Tatort? Das ergibt überhaupt keinen Sinn und daher ist ein Verdacht, dass die Angeklagten etwas mit dem späteren Geschehen noch zu tun hatten, abwegig.
  • Letztlich beweisen die veränderten Wahlplakate selbst, dass die Angeklagten nicht Teil eines gemeinschaftlichen Tatplanes waren. Denn dass sie in einer Polizeikontrolle feststeckten, hat keine spürbare Auswirkung auf die Veränderung gehabt. Offenbar vollzog sich die Veränderung der Wahlplakate, wenn sie denn überhaupt in dieser Nacht und in diesem Zeitkorridor – und nicht vielleicht deutlich, vielleicht Tage früher – geschah, ohne jegliche Funktion, die die Angeklagten hätten spielen sollen oder können. Das ist aber alles Spekulation, da ich nicht weiß, wer wann diese Veränderungen gemacht hat.

Freispruch
Aus allem folgt: ein Freispruch ist zwingend. Er würde bereits zwingend sein, wenn es Zweifel an der Schuld der Angeklagten gäbe. Hier ist aber eindeutig die Version der Angeklagten in sich schlüssiger und besser belegt, während die Version der Polizeizeugen erhebliche Widersprüche enthält bis zu Angaben über Abläufe, die es so nicht gegeben haben kann. Allerdings muss insbesondere bei dem Polizeizeugen Gontrum anerkannt werden, dass er in seiner Schilderung widerspruchsfreier blieb und auch nie formulierte, dass er einen Tatverdacht bei den Angeklagten sehen würde. Zeuge Haberkorn sammelte und erfand belastende Vorgänge. Diese waren aber derart widersprüchlich vorgetragen, dass eine Verurteilung mit ihnen nicht möglich ist. Zudem widersprechen sie bereits den Ausführungen des Zeugen Gontrum. Zudem fehlen Vermerke der Ermittlungen seitens der Kripo, die offenbar auch zugegen war. Das Fehlen kann nicht zuungunsten der Angeklagten gewertet werden, sondern zeigt zum einen die schludderigen Ermittlungsarbeiten, wie sie im Staatsschutz Gießen offenbar alltäglich sind, zum anderen nährt es den Verdacht, dass es auch keine belastenden Ergebnisse gibt.

Daher fordere ich einen Freispruch wegen erwiesener Unschuld.

Abschluss-Satire
Soweit zum ersten Anklagekomplex ... gönnen Sie mir einen kleinen Nachschlag - einen satirischen, lustig gemeinten Punkt: Wenn ich mit der Brille des Amtsrichters Wendel den Ablauf der Nacht in Reiskirchen und die Aussagen hier vor Gericht dazu betrachte und aus Bruchstücken eine Wahrheit zurechtzimmere, komme ich zu einem ganz anderen Ergebnis als einem Tatverdacht der Angeklagten. Sondern dann stünde eher die Polizei im Verdacht, die Veränderungen gemacht zu haben. Sie war in der Nähe, fuhr sogar durch die entsprechenden Straßen und hatte die passenden Aufkleber dabei. Zudem behauptet der Polizist Haberkorn, eine schleimige Flüssigkeit an den Fingern gehabt zu haben. Da ist doch alles klar, oder?

Natürlich ist das Unsinn. Aber wenn man die Kriterien anlegt, die ich hier allzu oft bei Gießener Gerichten gegen unerwünschte Personen erlebt hat, würde das für eine Verurteilung locker reichen. Für eine Anklage durch den Chefverfolger politischer Unerwünschter, Herrn Vaupel, hätte das auf jeden Fall gereicht. Ich erwähne das hier nur, weil ich aufzeigen will, wie absurd die Kriterien für Polizei- und Justizbehörden mit Verfolgungs- statt Aufklärungsinteressen sind. Ihnen als Gerichtsbesetzung dieses Verfahrens kann ich mangels Erfahrung diesen Vorwurf nicht machen und gehe in diesem Moment davon aus, dass sie nicht die Interessen von Parteien, Regierenden, Verfolgungsbehörden u.ä. vertreten, sondern auf das achten, was hier ausgesagt wird, in den Akten vermerkt ist usw.

Links
  • Download dieses Plädoyers als .rtf
  • Übersichtsseite zum Plädoyer-Freitag am 11. Verhandlungstag
  • Übersichsseite zur Berufungsverhandlung
  • Übersicht zum Rahmenprogramm des Verfahrens (u.a. Veranstaltungsreihe zu Repression, Knast und Justiz)
  • Polizeidoku Giessen- über Fälschungen und Hetzte seitens Polizei, Presse und Politik

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