ANARCHIE UND DEMOKRATIE
DIE GLEICHSETZUNG DES UNVEREINBAREN
Übergänge?
1. Einleitung
2. Siebenmal: Anarchie und (Basis-)Demokratie sind unvereinbar!
3. Anarchistische Kritik an Staat und Demokratie
4. Trotzdem: AnarchistInnen für die (verbesserte) Demokratie
5. Positiver Bezug auf das Volk
6. Demokratie als Entscheidungsform in der Anarchie?
7. Kritik der Demokratiebefürwortung
8. Übergänge?
9. Links und Materialien
Innerhalb zumindest liberaler Demokratie können Räume geschaffen werden, die die Prinzipien von Entscheidungszwang, Kontrollen, klaren Abgrenzungen usw. teilweise, temporär oder für konkrete Bereiche überwinden - und somit als Anschauung, Experimentierfeld und Schritt in die richtige Richtung dienen.
Solche Räte sind im Moment eine beliebte Ergänzung der Demokratie. Das ist aus zwei Gründen problematisch. Zum einen besteht stets die Gefahr, dass Machtverhältnisse und die Abgehobenheit der Volksvertretungen von der Bevölkerung nur verschleiert werden. Das gilt für Bürger*innenräte genauso wie für andere Beteiligungsformen mit rein empfehlendem Charakter wie runde Tische, lokale Agendagruppen usw. Das ist vergangenen Bürger*innenräten auch bewusst gewesen: „Die Umsetzung von Empfehlungen ist ungewiss“ analysierte der „Bürgerrat Demokratie“, ein offiziell aus der Bundespolitik unterstütztes Projekt im Jahr 2019 „eine grundlegende Schwäche“ und forderte: „Die Regierung muss sich zu Empfehlungen der Bürgerbeteiligung verpflichtend äußern.“ Beteiligung bleibt ein stumpfes Schwert, wenn die Integration der Ergebnisse in den realen Politikbetreib gar nicht vorgesehen ist und dafür auch keine Mechanismen bereit stehen.
Zum zweiten stellt die Formulierung, Bürger*innenräte seinen eine Ergänzung der Demokratie, eine unzulässige Vereinnahmung dar. Denn tatsächlich weisen sie von der Methodik her darüber hinaus. Sie verlassen die Logik der hierarchischen Gesellschaft, weil ihre Auswahl per Zufall klar macht, dass hier ein Durchschnitt verhandelt – und nicht die Besseren, Schlaueren, privilegierten Entscheidungsbefugten. Aber das Wichtigste: Ihnen fehlt jede Legitimation. Sie sprechen für sich, nicht „im Namen des Volkes“. Und damit konstruieren sich das Volk nicht, in dem sie für es sprechen. Das Volk bleibt als Konstrukt draußen, existiert nicht in den Bürger*innenräten.
So ungewöhnlich, wie es klingt, ist das Losen nicht. Es war in der Attischen Gesellschaftsordnung, die regelmäßig als Geburt der Demokratie bezeichnet wird, der Standard bei der Vergabe von Ämtern. Es ist interessant, dass das im Politik- und Geschichtsunterricht, in Kinderbüchern (Ausnahme siehe Abbildung) und an anderen Orten oft verschwiegen wird. Auch wurden Losverfahren in der Neuzeit erfolgreich eingesetzt, so in Irland. Dort wurde ein Bürgerrat mit 66 ausgelosten Personen und 33 Parlamentarier*innen besetzt – plus einem von außen bestimmten Vorsitzenden. Es ging um eine neue Verfassung, und das Ergebnis war, für eingefleischte Demokrat*innen überraschend, recht progressiv.
Losen macht aus Ungleichen Gleiche, zumindest was die Chancen der Nominierung oder einer Abstimmung betrifft. Das ist einer der vielen nötigen Schritte zu einer egalitären Gesellschaft. Die, die Machtausübung wollen und von einer autoritären Welt träumen, hassen die Idee. „Ein Losverfahren ist völliger Unsinn“, sagt die AfD. Welch Ehre für die Idee.
Die Bürger*innenräte entstehen, wie bereits beschrieben, per Los. Das ist also gar nicht so exotisch. Warum nicht sofort viel öfter machen?
Mensch stelle sich vor, dass überall gelost wird. Gäbe es das System von Strafe und Sanktion noch, obwohl aus herrschaftskritischer Sicht vieles für deren komplette Abschaffung spricht, dann wäre die*r Richter*in gelost. Und muss fürchten, dass ein Jahr später die angeklagte Person per Zufallsauswahl dort sitzt. Für die Arroganz und Selbstsicherheit, mit der Robenträger*innen heute Menschen, die zumeist aus deutlich weniger privilegierten Schichten stammen, ins Gefängnis schicken oder in den finanziellen Ruin treiben, wäre verflogen. Das lässt sich auf alles übertragen, wo noch Positionen mit Machtpotential zu vergeben sind (was möglichst selten der Fall sein sollte). Die Chef*innen in Arbeitsprozessen, Moderator*innen von Treffen und viele mehr könnten gelost werden – auf Zeit. Es ist sehr wahrscheinlich, dass allein die Aussicht, dass sonst gelost wird, die Zahl gemeinsamer Einigungen zunehmen wird. Das gilt auch für Streitfragen. Steht bei strittigen Fragen zum Beispiel um die Nutzung von Ressourcen von vornherein fest, dass bei Nicht-Einigung gelost wird, wird die Debatte darum von taktischen Spielchen, Stimmenkauf usw. befreit. Die Wahrscheinlichkeit einer Einigung steigt, da alle Beteiligten der gleichen Gefahr ausgesetzt sind, sonst leer auszugehen.
Bürger*innenräte
Die in den letzten Jahren häufiger durchgeführten Bürger*innenräte werden im Losverfahren bestimmt – und das zusätzlich noch nach repräsentativen Kriterien. „Damit die Bedürfnisse aller Menschen möglichst gut berücksichtigt werden, sollten Vertreter aus vielen gesellschaftlichen Gruppen in der Politik mitreden: Frauen, Männer und Trans*menschen, Menschen aller Herkünfte, Menschen mit viel und Menschen mit wenig Geld, mit und ohne Kinder, Menschen mit und ohne Behinderungen und so weiter.“ Dieser Satz steht im Buch „Demokratie für Einsteiger“ von Anja Reumschüssel und Alexander von Knorre (2021). Dem folgt der hilflose Appell, „dass die gewählten Politikerinnen und Politiker so gut es geht an alle denken und für sie entscheiden.“ In der Tat: Die Demokratie bietet kein Mittel, um zu verhindern, dass die Unterschiede zwischen den Menschen auch zu unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten in der Gesellschaft führen. Ganz anders sieht das bei den Bürger*innenräten aus, wenn deren Teilnehmer*innen nach repräsentativen Maßstäben ausgelost werden.Aus der Darstellung von Bürger*innenräten im Internet
Die Bürgerrat-Mitglieder werden per Losverfahren aus den Einwohnermelderegistern der Städte und Gemeinden ermittelt. Die Ausgelosten werden angeschrieben und eingeladen, sich für eine Teilnahme am anstehenden Bürgerrat zu bewerben. Dabei machen die Bewerberinnen und Bewerber Angaben, die aus den Einwohnermelderegistern nicht hervorgehen. Dabei geht es z.B. um ihren Bildungsabschluss oder einen Migrationshintergrund. Anhand dieser Angaben und den bereits vorhandenen Daten zu Geschlecht, Alter und Wohnort wird eine Gruppe gebildet, die in ihrer Zusammensetzung ein möglichst gutes Abbild der Bevölkerung darstellt. So ist z.B. jeder Bürgerrat zur Hälfte mit Frauen besetzt. Sämtliche Kosten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden übernommen. Ein Kümmern um die Betreuung von Kindern und Pflegebedürftigen wird angeboten. Die Zugänglichkeit des Veranstaltungsortes für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen wird garantiert.
Solche Räte sind im Moment eine beliebte Ergänzung der Demokratie. Das ist aus zwei Gründen problematisch. Zum einen besteht stets die Gefahr, dass Machtverhältnisse und die Abgehobenheit der Volksvertretungen von der Bevölkerung nur verschleiert werden. Das gilt für Bürger*innenräte genauso wie für andere Beteiligungsformen mit rein empfehlendem Charakter wie runde Tische, lokale Agendagruppen usw. Das ist vergangenen Bürger*innenräten auch bewusst gewesen: „Die Umsetzung von Empfehlungen ist ungewiss“ analysierte der „Bürgerrat Demokratie“, ein offiziell aus der Bundespolitik unterstütztes Projekt im Jahr 2019 „eine grundlegende Schwäche“ und forderte: „Die Regierung muss sich zu Empfehlungen der Bürgerbeteiligung verpflichtend äußern.“ Beteiligung bleibt ein stumpfes Schwert, wenn die Integration der Ergebnisse in den realen Politikbetreib gar nicht vorgesehen ist und dafür auch keine Mechanismen bereit stehen.
Zum zweiten stellt die Formulierung, Bürger*innenräte seinen eine Ergänzung der Demokratie, eine unzulässige Vereinnahmung dar. Denn tatsächlich weisen sie von der Methodik her darüber hinaus. Sie verlassen die Logik der hierarchischen Gesellschaft, weil ihre Auswahl per Zufall klar macht, dass hier ein Durchschnitt verhandelt – und nicht die Besseren, Schlaueren, privilegierten Entscheidungsbefugten. Aber das Wichtigste: Ihnen fehlt jede Legitimation. Sie sprechen für sich, nicht „im Namen des Volkes“. Und damit konstruieren sich das Volk nicht, in dem sie für es sprechen. Das Volk bleibt als Konstrukt draußen, existiert nicht in den Bürger*innenräten.
Losen allgemein
Aus Dietmar Dath (2024), „Hände hoch, ihr habt die Wahl!“
Um zu verhindern, dass auch und gerade da, wo gewählt und abgestimmt wird, Erbvorteile greifen, hat man mitunter das Losverfahren als die beste Vorgehensweise bei der Ämterbesetzung empfohlen. wie der französische Politikwissenschaftler Yves Sintomer in seinem faszinierenden Buch «Das demokratische Experiment. Geschichte des Losverfahrens in der Politik von Athen bis heute» (2016) erklärt: Der reine Zufall kann demokratischer sein als das freie Wählen, wenn die Wahl von den Wirkungen sozialer Beziehungen verfälscht wird, die sich nicht bei Wahlen abbilden lassen (zum Beispiel Medienmacht: Wenn einige wenige Konzerne die gesamte Medienlandschaft regieren, sind die Meinungen danach, der Zufall aber lässt sich nicht von Propaganda beeindrucken).
Aus Michael Maar (2024), „Ja, Demokratie“
Der Vorschlag des belgischen Politologen David Van Reybrouck, Amtsberufungen durch Losverfahren auszurichten, ist weniger absurd, als er zunächst klingt. Wer nicht auf seine Wiederwahl hoffen muss, kann leichter Entscheidungen treffen, deren erfreuliche Folgen sich erst nach einiger Zeit herausstellen. Lobbyisten verlören an Macht. Der Zufallskandidat hat sich auch nicht erst im Kadersystem der Partei hochintrigieren müssen. im berühmten Stall, ohne dessen Geruch man es schwer hat und in dem man nicht ohne einige derbe Püffe zum Freßnapf gelangt. Er stammt aus dem wirklichen Leben und hat mehr im Blick als der Berufspolitiker.
So ungewöhnlich, wie es klingt, ist das Losen nicht. Es war in der Attischen Gesellschaftsordnung, die regelmäßig als Geburt der Demokratie bezeichnet wird, der Standard bei der Vergabe von Ämtern. Es ist interessant, dass das im Politik- und Geschichtsunterricht, in Kinderbüchern (Ausnahme siehe Abbildung) und an anderen Orten oft verschwiegen wird. Auch wurden Losverfahren in der Neuzeit erfolgreich eingesetzt, so in Irland. Dort wurde ein Bürgerrat mit 66 ausgelosten Personen und 33 Parlamentarier*innen besetzt – plus einem von außen bestimmten Vorsitzenden. Es ging um eine neue Verfassung, und das Ergebnis war, für eingefleischte Demokrat*innen überraschend, recht progressiv.
Aus Armin Schneider und Carmen Jacobi-Kirst (2024), „Demokratie von Anfang“, S. 191)
Für uns heute so selbstverständliche demokratische Elemente wie Wahlen sind, zumindest bezogen auf die ersten Demokratien, gar nicht so grundlegend wie wir denken. …
Im 18. Jahrhundert sei das Losverfahren durch das Wahlverfahren abgelöst worden: „Wahlen waren jedoch nie als demokratisches Instrument gedacht gewesen, sondern als Verfahren, um eine neue, nicht-erbliche Aristokratie an die Macht zu bringen“ (Reybrouck 2019: 93).
Losen macht aus Ungleichen Gleiche, zumindest was die Chancen der Nominierung oder einer Abstimmung betrifft. Das ist einer der vielen nötigen Schritte zu einer egalitären Gesellschaft. Die, die Machtausübung wollen und von einer autoritären Welt träumen, hassen die Idee. „Ein Losverfahren ist völliger Unsinn“, sagt die AfD. Welch Ehre für die Idee.
Die Bürger*innenräte entstehen, wie bereits beschrieben, per Los. Das ist also gar nicht so exotisch. Warum nicht sofort viel öfter machen?
Mensch stelle sich vor, dass überall gelost wird. Gäbe es das System von Strafe und Sanktion noch, obwohl aus herrschaftskritischer Sicht vieles für deren komplette Abschaffung spricht, dann wäre die*r Richter*in gelost. Und muss fürchten, dass ein Jahr später die angeklagte Person per Zufallsauswahl dort sitzt. Für die Arroganz und Selbstsicherheit, mit der Robenträger*innen heute Menschen, die zumeist aus deutlich weniger privilegierten Schichten stammen, ins Gefängnis schicken oder in den finanziellen Ruin treiben, wäre verflogen. Das lässt sich auf alles übertragen, wo noch Positionen mit Machtpotential zu vergeben sind (was möglichst selten der Fall sein sollte). Die Chef*innen in Arbeitsprozessen, Moderator*innen von Treffen und viele mehr könnten gelost werden – auf Zeit. Es ist sehr wahrscheinlich, dass allein die Aussicht, dass sonst gelost wird, die Zahl gemeinsamer Einigungen zunehmen wird. Das gilt auch für Streitfragen. Steht bei strittigen Fragen zum Beispiel um die Nutzung von Ressourcen von vornherein fest, dass bei Nicht-Einigung gelost wird, wird die Debatte darum von taktischen Spielchen, Stimmenkauf usw. befreit. Die Wahrscheinlichkeit einer Einigung steigt, da alle Beteiligten der gleichen Gefahr ausgesetzt sind, sonst leer auszugehen.