Offener Raum

ANARCHIE UND DEMOKRATIE
DIE GLEICHSETZUNG DES UNVEREINBAREN

Positiver Bezug auf das Volk


1. Einleitung
2. Siebenmal: Anarchie und (Basis-)Demokratie sind unvereinbar!
3. Anarchistische Kritik an Staat und Demokratie
4. Trotzdem: AnarchistInnen für die (verbesserte) Demokratie
5. Positiver Bezug auf das Volk
6. Demokratie als Entscheidungsform in der Anarchie?
7. Kritik der Demokratiebefürwortung
8. Übergänge?
9. Links und Materialien

Wie mit dem Demokratiebegriff gehen viele AnarchistInnen auch sehr sorglos mit dem Begriff "Volk" um. Offenbar steht auch bei ihnen dieser Begriff stumpfer, einheitlicher Masse für etwas Positives - als die Basis und damit das Gute von allem. Doch Volk ist eben nicht Bevölkerung. Es negiert die Unterschiedlichkeit und schafft eine Einheitlichkeit, die nicht existiert, sondern von den SprecherInnen des Volkes durch Vereinnahmung und Stellvertretung inszeniert wird. Wird überhaupt ein Argument genannt, was eigentlich die Unterscheidbarkeit eines Volkes von anderen herbeiführt, wird auf gemeinsame Geschichte, Abstammung, Sprache oder Heimat als verschwommener geografischer Lebensraum verwiesen. Doch diese Argumente sind blanker Unsinn. Gemeinsame Geschichte gibt es für die meisten "Völker" nicht, denn die modernen Zuschnitte ändern sich laufend vor allem als Folge von Streit und Krieg. Das mit der Abstammung mag zwar angesichts der Neigung von Menschen, innerhalb bestehender sozialer Gruppen zu verharren, stimmen, stellt aber erstens keine Eigenart dar und würde zweitens Ostfriesen und Allgäuer mehr voneinandertrennen als Letztere von ihrer Nachbarregion am anderen Bodenseeufer. Bei der Sprache gibt es mit der Schweiz ein prägnantes Gegenbeispiel, denn schließlich bildet ausgerechnet ein Viersprachenstaat die festgefügteste Nation in Mitteleuropa. Heimat als geografischer Raum, der die darin wohnenden Menschen prägen soll, ist nicht nur unsinnig angesichts der hohen Mobilität, sondern auch die auffälligste Blut- und Bodenlogik, die im Gedanken an die Existenz von "Völkern" prinzipiell steckt. Mit Vielfalt, einer Welt, in der viele Welten Platz haben, offenen Systemen, Autonomie und Selbstentfaltung der Einzelnen sowie freier Kooperation hat die Idee von "Volk" nichts gemeinsam. Dennoch schaffen es AnarchistInnen, sich positiv auf diese Konstrukt zu beziehen.

Im Original: Volk und Anarchie
Aus Grosche, Mona (2003): "Anarchismus und Syndikalismus in Deutschland", Syndikat A in Moers (S. 7/8)
Eine wahre Volkssouveränität kann für den Anarchismus nur heißen: Keine Regierung und keine Regierten mehr.

Mühsam, Erich: "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", zitiert in: Grosche, Monika (2003): "Anarchismus und Revolution", Syndikat A in Moers (S. 19)
(Zum Staat) Er ist zentraler Ausführungsdienst einer vom Volk gelösten Klasse zur Beherrschung des entrechteten und zur beherrschten Klasse erniedrigten Volkes.

Aussage von Bakunin, zitiert in: Grosche, Monika (2003): "Anarchismus und Revolution", Syndikat A in Moers (S. 42 ff.)
... die Unwissenheit und namentlich die politischen und religiösen Vorurteile welche dank den Anstrengungen der herrschenden Klassen heute noch das natürliche Denken des Arbeiters und seines gesunden Gefühls verdunkeln. ...
Die arme Klasse, welche das eigentliche Volk bildet ...
Die Volksmassen sind zu Opfern stets bereit, bilden eine Macht und sind deshalb so brutal, wild und entschlossen, Heldentaten zu vollbringen (...), weil sie, die wenig oder garnichts besitzen, nicht vom Besitzstreben verdorben sind. ...
Die besten Männer der bürgerlichen Welt von Geburt und nicht aus Überzeugung und Ehrgeiz, können nur unter einer Bedingung nützlich sein, daß sie im Volk aufgehen, in der Sache, die nur das Volk betrifft.

Auch AnarchistInnen kapieren den Begriff "Volk" nicht und glauben, damit seien die Menschen gemeint
Aus dem Text "Parlamentarismus vs. Basisdemokratie" und auf: "Anarchie" Nr. - / + 2004)
Aus der Sicht der AnarchistInnen ist schon das Wort Demokratie eine Zumutung. Demokratie heißt Volksherrschaft. Herrscht aber irgendwo das Volk"? Natürlich nicht. Das Wahlvolk darf sich jene auswählen, von denen es beherrscht werden will. Und selbst die bekommen sie vorsortiert, kennen sie nicht, müssen darauf vertrauen, was via Medien, Wahlwerbung.... über sie gesagt wird. Und glauben, was sie versprechen.
Genau genommen ist das Wort Demokratie theoretischer Unsinn: Wenn das Volk alle sind, und das Volk herrscht, über wen herrscht es dann? Jeder über jeden? Keiner über keinen? Demokratie, radikal verstanden, käme der Anarchie, Akratie, also Herrschaftslosigkeit gleich.



Es existieren weitere Texte, in denen zwar der Begriff "Volk" vermieden wird, aber ähnliche Behauptungen von der Existenz eines einheitlichen Willens aufgestellt werden. Verschleiernd wird von diesem Gemeinwillen gesprochen oder eine Politik gefordert, die den offenbar feststellbaren einheitlichen "Interessen der Bevölkerung" dienen soll.

Im Original: Einheitlicher Willen der Masse
Aus Mühsam, Erich (1933): "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", Nachdruck bei Syndikat A und im Internet (mehr Auszüge)
Eine geordnete Gesellschaft besteht durch verbundenen Willen der Menschen zur Erfüllung einheitlich erkannter, gemeinsamer Aufgaben, setzt also Gleichheit, Gegenseitigkeitsverpflichtung und soziales Verantwortungsbewußtsein jedes einzelnen voraus. ... (S. 44)
Denn die Anarchisten übergeben ihre durchdachten und sorgfältig errechneten Vorschläge nicht irgendwelchen Regierungsstellen sondern der selbstverantwortlichen Arbeiterklasse insgesamt, die selber alles prüfen, selber verbessern, selber die Ausführung überwachen muß durch diejenigen Organe, welche sie selbst ausschließlich für diesen Zweck bestimmt, ohne sie deswegen auch nur zeitweilig aus der tätigen Gemeinschaft aller zu entlassen. Diese Organe werden die soziale Triebkraft der Revolution bedeuten, sie werden von der Stunde des Sieges an Wirtschaft und Verwaltung des Gemeinwesens in den Händen führen, sie werden in der Zeit des Überganges und während der ganzen Entwicklung der sozialistischen Arbeits- und Gesellschaftsformen die Ordnung der Freiheit betreuen und verbürgen, sie werden die kommunalistische Anarchie schaffen und in der anarchischen Gemeinschaft die Träger der Föderation der Arbeits- und Menschheitsbünde bleiben. Diese Organe sind die freien Räte der Arbeiter und Bauern.
(S. 64 f.)
Mühsams Kritik auch an der Demokratie wird heute nicht nur missachtet, sondern geradezu karikiert. Die Erich-Mühsam-Gesellschaft vergibt alle 2-3 Jahre einen nach dem Alt-Anarchisten benannten Preis. Ihn erhalten durchweg pro-demokratische Organisationen, einmal sogar die autoritär-marxistischen bis stalinistischen Ideen zugeneigte Junge Welt.

Ralf Burnicki, "Die anarchistische Konsensdemokratie", Transkription eines Videos von O. Ressler ( aufgenommen in Bielefeld, Deutschland, 29 Min., 2005)
Wir haben es also mit einer Kritik am Staate zu tun, die gerade das einfordert, was Demokratie ebenso einfordert, nämlich die Interessen der Bevölkerung zum Mittelpunkt der Politik zu machen.

In ganz schwachen Stunden entstehen sogar anarchistische Utopien und Ideen, in denen Parlamente und der Staat weiterhin existieren. Hier zeigt sich das ausgeprägte Gutmenschentum in Teilen deutschsprachiger AnarchistInnen, die damit eine bemerkenswerte Nähe zu bürgerlichen Kreisen aufweisen, die bei sogenannten gewaltfreien Aktionen (Sitzblockaden, Menschenketten usw.) auch praktisch wird. Anarchie wird dann zu einem Schmelztiegel von Wohlfühlreformen innerhalb der bestehenden Hierarchien. Doch die Konzepte für die irgendwie bessere Opposition, schlauer durchgeführte Wahlen, das Denken in Minderheit und Mehrheit, Vertretung und Abstimmungen ist nichts anderes als das Vokabular der Demokratie - und zwar sogar der ganz üblichen, repräsentativen.

Im Original: Normal, nur etwas besser
Staat? Ja, doch - mit Staatsgeldern, Steuern ...
Aus Stehn, Jan (1997): "Manjana. Ideen für eine anarchistische Gesellschaft"
Jedes Projekt, das statt auf Staatsgelder auf einen Förderkreis solidarischer UnterstützerInnen baut, ist auch eine 'Demonstration' gegen den Staat. ... Jeder soll über die Verwendung, von sagen wir bis zu 10000 DM seiner Steuermittel im Jahr selbst entscheiden. ...
Viele Entscheidungen in den Vereinen sind delegiert an Arbeitsausschüsse und gewählte Vereinräte. ...
(S. 11)
Alle GenossInnen sind gleichberechtigte Eigentümer ihrer Genossenschaft und entscheiden demokratisch über die Grundsätze der Kreditvergabe.
(S. 15)

Wie im Parlament: Anarchie mit Opposition
Fiktives Interview mit Menschen, die schon in der zukünftigen Utopie leben (im gleichen Heft, S. 24 ff.)
Frage: Und wer kontrolliert, ob ihr eure Macht in diesem Sinne nutzt?
Erika: Vor allem die Opposition, die von den Gruppen gebildet wird, die bei der Wahl zum Kapitalrat in der Minderheit blieben. Ihre Vertreter können an allen Sitzungen des Kapitalrates teilnehmen.



Sozialer Organismus
Alles ist steigerbar. Manche denken die Gesellschaft als Organismus. Klingt irgendwie toll - harmonisch, natürlich. Rudolf Steiner hat die Welt immer so beschrieben. Doch was ist ein Organismus? Der Begriff beschreibt ein System, in dem alle Teile eine bestimmte, vorgegebene Rolle spielen. Das alles voneinander abhängig und nichts ohne das andere überleben kann (jedenfalls im Großen und Ganzen), klingt irgendwie nett - hat aber mit einen analytischen Blick auf Herrschaftsverhältnisse nichts zu tun. Denn dass es GefängniswärterInnen ohne Gefangene nicht gäbe, beendet doch die Hierarchie unter ihnen nicht. Organismus ist das Bild feststehender Rollen. Das Leben ist in vorgegebene Tätigkeiten gepresst. Noch dazu ist der Organismus hierarchisch aufgebaut. Die Milz bestimmt eben nicht den Takt des Herzens oder das Anspannen des Bizeps-Muskels. Eine zentrale Verdrahtung steuert das Gesamte einschließlich der Kooperation der Teile. Dass das Gehirn die Teile braucht, um den Laden und sich selbst am Laufen zu halten, ändert an diesen Feststellungen nicht. Die Regierung braucht das Volk auch - gleichberechtigt werden sie dadurch nicht.
Gesellschaft als Organismus schafftt das gleiche Bild wie soziale Anleihen z.B. aus den Abläufen im Ameisenstaat, wo alle Beteiligten kraft Geburt ihre Rolle einnehmen. Oder - für StarTrek-Fans - der Borg als kollektiver Organismus. Anti-emanzipatorischer ist kaum möglich.

Im Original: Sozialer Organismus
Aus Grosche, Monika (2003): "Anarchismus und Revolution", Syndikat A in Moers (S. 18)
Die anarchistische Gesellschaft baut sich im Räteprinzip basisdemokratisch - "von unten nach oben" - auf. Auf der Grundlage von Gleichberechtigung und Freiwilligkeit bilden Gesellschaft und Individuum einen untrennbaren Organismus.
In diesem Organismus wird sowohl dem natürlichen Freiheitswillen, als auch dem Bedürfnis nach Geselligkeit des Menshen entsprochen, er bildet die einzig wirkliche Form des demokratischen Zusammenlebens.


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