Projektwerkstatt Saasen

GESCHICHTE DER PRODUKTIVKRAFT UND DIE ÖKONOMISCHE UNTERDRÜCKUNG DES MENSCHEN

Geschichtliche Entwicklung der Produktivkraft


1. Produktivkraft: Tätigkeit als Gestaltung von Umwelt und Gesellschaft
2. Geschichtliche Entwicklung der Produktivkraft
3. Von der personal-konkreten zur abstrakten Vergesellschaftung
4. Ökonomische Zwänge, Abhängigkeit und Kapitalverteilung
5. Links

Produktivkraftentwicklung umfasst das Dreiecksverhältnis des arbeitenden Menschen, der unter Verwendung von Mitteln (z.B. Werkzeuge) Stoffwechsel mit der Natur betreibt und auf diese Weise sein Leben produziert. In der Geschichtsschreibung, die kontinuierliche Prozesse wie ein Zeitraffer darstellt, scheint sich die Produktivkraftentwicklung mit ihren drei Dimensionen nicht kontinuierlich zu verändern, sondern in qualitativen Sprüngen. Im Schnelldurchlauf durch die Geschichte sollen diese Sprünge nun nachgezeichnet werden und in drei große Epochen eingeteilt werden. In jeder dieser Epochen steht ein Aspekt des Dreiecksverhältnisses von Mensch, Natur und Mitteln im Brennpunkt der Entwicklung. In den agrarischen Gesellschaften wurde die Produktivkraftentwicklung vor allem hinsichtlich des Naturaspekts entfaltet, in den Industriegesellschaften steht die Revolutionierung des Mittels im Zentrum, und was mit dem Menschen als dem dritten Aspekt passiert, ist die spannende Frage, auf die wir weiter unten eingehen werden.

Die “Natur-Epoche”: Entfaltung des Naturaspekts der Produktivkraftentwicklung
Alle Gesellschaften bis zum Kapitalismus waren von ihrer Grundstruktur her agrarische Gesellschaften. Ob matrilineare Gartenbaugesellschaft, patriarchalische Ausbeutergesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft oder Feudalismus - in allen Gesellschaften stand die Bodenbewirtschaftung in der Landwirtschaft und bei der Gewinnung von Brenn- und Rohstoffen unter Nutzung von einfachen Mitteln sowie menschlicher und tierischer Antriebskraft im Mittelpunkt der Anstrengungen. Mit Hilfe der hergestellter Arbeitsmittel - vom Grabstock bis zum Pflug und zur Bergbautechnik - holten die Menschen immer mehr aus dem Boden heraus, während die Art und Weise der Weiterverarbeitung der Bodenprodukte bis zum Nutzer relativ konstant blieb. Die eigenständige Fortentwicklung der Arbeitsmittel und Werkzeuge war durch Zünfte und andere Beschränkungen begrenzt.
Qualitative Veränderungen innerhalb der “Natur-Epoche” zeigen sich vor allen bei der Form der Arbeit. Die landwirtschaftlichen Produzenten im Feudalismus waren mehrheitlich Leibeigene ihrer Feudalherren, im Unterschied zu Sklaven also kein vollständiger personaler Besitz. Trotz Abgabenzwang, Frondiensten und umfangreichen Einschränkungen persönlicher Selbstbestimmung war der relative Spielraum der Fronbauern zur Entfaltung der Produktivkraft der Arbeit größer als bei den Sklaven, die - da personaler Besitz - gänzlich kein Interesse an der Verbesserung der Produktion hatten. Der Natur angepasste Fruchtfolgen und die Mehrfelderwirtschaft waren wichtige Errungenschaften in dieser Zeit. Aufgrund des höheren Mehrprodukts konnten sich Handwerk und Gewerbe, die von der Bodenbewirtschaftung mitversorgt werden mussten, rasch entwickeln.

Im Original: Wie entwickelt sich Entwicklung?
Gruppe Gegenbilder (1. Auflage 2000): "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen", SeitenHieb-Verlag in Reiskirchen (S. 18)
Diese Frage ist nicht nur wichtig, um die Vergangenheit zu verstehen, sondern auch, um selbst in den Lauf der Geschichte eingreifen zu können. Wer versteht, wie Entwicklung “funktioniert”, kann die Hebel zielgerichtet ansetzen.
Keimformen des Neuen entwickeln sich immer schon im Alten. Sie werden stärker, werden zu einer nicht mehr zu übersehenden Funktion im noch alten System, übernehmen dann die bestimmende Rolle und transformieren schließlich das alte Gesamtsystem in ein Neues, in dem sich alles nun nach der neuen dominanten Funktion ausrichtet. Dieser beschriebene Prozeßablauf ist typisch für dialektische Entwicklungsprozesse. In allgemeiner Form kann man fünf Stufen für qualitative Entwicklungssprünge so beschreiben (Holzkamp 1983):
Stufe1: Entstehen der neuen Keimformen, die sich später entfalten
Stufe 2: Veränderung der Rahmenbedingungen des alten dominanten Gesamtprozesses (“Krisen”)
Stufe 3: Funktionswechsel vorher unbedeutender Keimformen zur wichtigen Entwicklungsdimension neben der noch den Gesamtprozeß bestimmenden Funktion (erster Qualitätssprung)
Stufe 4: Dominanzwechsel der neuen Entwicklungsdimension zur den Gesamtprozess bestimmenden Funktion (zweiter Qualitätssprung)
Stufe 5: Umstrukturierung des Gesamtprozesses auf die Erfordernisse der neuen bestimmenden Entwicklungsdimension
Da die fünf Stufen bzw. Schritte hier allgemein beschrieben sind, klingen sie naturgemäß etwas abstrakt. Anschaulicher wird die Fünfschrittlogik, wenn man reale Entwicklungsprozesse danach befragt. Wir wenden sie im Folgenden auf die Abfolge der Epochen der Produktivkraftentwicklung an.


Die “Mittel-Epoche”: Entfaltung des Mittelaspekts der Produktivkraftentwicklung
Die agrarische Produktion bestimmte zwar die gesellschaftliche Struktur, dennoch gab es in den Städten Lebens- und Produktionsformen, die dem unmittelbaren feudalen Zugriff entzogen waren: “Stadtluft macht frei” - der Keim der Neuerung war gelegt. Die Städte wurden im Laufe der Zeit immer wichtiger für die steigenden repräsentativen und militärischen Bedürfnisse der herrschenden Feudalklasse, d.h. die Rahmenbedingungen veränderten sich. Ausgehend von gesicherten bürgerlichen Zonen inmitten des Feudalismus, den Städten, entfalteten Handwerker und vor allem Kaufleute ihre ökonomischen Aktivitäten. Der Einsatz geraubten und erhandelten Kapitals der Kaufleute sowie die Entwicklung von kombinierten Einzelarbeiten der Handwerker in der Manufaktur zum “kombinierten Gesamtarbeiter” (Marx 1976/1890, 359) in der Fabrik ermöglichten eine Übernahme der ökonomischen Basis durch die neue bürgerliche Klasse. Mit der Manufakturperiode, auch als Frühkapitalismus bezeichnet, begann die Umstrukturierung des alten feudalen zum neuen bürgerlichen ökonomischen System, das sich schließlich durchsetzte. Die industrielle Revolution sorgte endgültig dafür, dass der umgreifende gesamtgesellschaftliche Prozess nach den Maßgaben der kapitalistischen Wertverwertung ausgerichtet wurde. Die industrielle Metropole dominierte die Peripherie, wurde allerdings wiederum von den nachfolgenden Veränderungsprozessen, die auf dem erreichten Niveau ansetzten, erfasst (z.B. der Bildung von Nationalstaaten, wo diese sich noch nicht gefestigt hatten oder später dem aufkommenden Dienstleistungssektor).

Die “Menschen-Epoche”: Entfaltung des Menschen an und für sich
Nach agrarischer und industriell-technischer Produktivkraftentwicklung bleibt eine Dimension im Verhältnis von Mensch, Natur und Mitteln, die noch nicht Hauptgegenstand der Entfaltung war, und das ist der Mensch selbst. Doch der Mensch ist definitionsgemäß bereits “Hauptproduktivkraft”. Soll er sich nun “selbst entfalten” wie er die Nutzung von Natur und Technik entfaltet hat? Ja, genau das! Bisher richtete der Mensch seine Anstrengungen auf Natur und Mittel außerhalb seiner selbst und übersah dabei, dass in seiner gesellschaftlichen Natur unausgeschöpfte Potenzen schlummern. Diese Potenzen waren bisher durch Not und Mangel beschränkt oder durch die Einordnung in die abstrakte Verwertungsmaschinerie kanalisiert. Sie freizusetzen, geht nur auf dem Wege der unbeschränkten Selbstentfaltung jedes einzelnen Menschen.
“Selbstentfaltung” kann man fassen als individuelles Entwickeln und Leben der eigenen Subjektivität, der eigenen Persönlichkeit. Selbstentfaltung bedeutet die schrittweise und zunehmende Realisierung menschlicher Möglichkeiten auf dem jeweils aktuell erreichten Niveau. Selbstentfaltung ist also unbegrenzt und geht nur im gesellschaftlichen Kontext, denn Realisierung menschlicher Möglichkeiten ist in einer freien Gesellschaft gleichbedeutend mit der Realisierung gesellschaftlicher Möglichkeiten. Selbstentfaltung geht kaum auf Kosten anderer, sondern setzt die Entfaltung der anderen notwendig voraus, da sonst die eigene Selbstentfaltung begrenzt wird. Im Interesse meiner Selbstentfaltung habe ich also ein unmittelbares Interesse an der Selbstentfaltung der anderen. Diese sich selbst verstärkende gesellschaftliche Potenz läuft unseren heutigen Bedingungen, unter denen man sich nur auf Kosten anderer durchsetzen kann, zuwider.
Manche sprechen statt von Selbstentfaltung auch von “Selbstverwirklichung” und meinen damit inhaltlich das Gleiche. Es gibt aber auch eine eingeschränkte Auffassung von “Selbstverwirklichung”, die hier nicht gemeint ist. Es geht nicht darum, eine persönliche “Anlage” oder “Neigung” in die Wirklichkeit zu bringen, sie wirklich werden zu lassen. Diese Vorstellung individualisiert und begrenzt die eigentlichen Möglichkeiten des gesellschaftlichen Menschen: Wenn es “wirklich” geworden ist, dann war's das. Eine individualisierte Auffassung von “Selbstverwirklichung” reproduziert den ideologischen Schein eines Gegensatzes von Individuum und Gesellschaft unter bürgerlichen Verhältnissen. Sie bedeutet im Kern ein Abfinden mit und sich Einrichten in beschissenen Bedingungen. Die unbeschränkte Selbstentfaltung freier Menschen gibt es jedoch nur in einer freien Gesellschaft. Auf dem Weg dorthin ist die Selbstentfaltung Quelle von Veränderung - der Bedingungen und von sich selbst.
Die Sachverwalter des Kapitals als Exekutoren (Ausführende) der Gesetze der Wertverwertungsmaschine haben erkannt, dass der Mensch selbst die letzte Ressource ist, die noch qualitativ unentfaltete Potenzen der Produktivkraftentwicklung birgt. In seiner maßlosen Tendenz, alles dem Verwertungsmechanismus einzuverleiben, versuchen KapitalmanagerInnen, auch diese letzte Ressource auszuschöpfen. Die Methode ist einfach: Die alte unmittelbare Befehlsgewalt über die Arbeitenden, die dem Kapitalisten durch die Verfügung über die Produktionsmittel zukam, wird ersetzt durch den Marktdruck, der direkt auf die Produktionsgruppen und Individuen weitergeleitet wird. Sollen doch die Individuen selbst die Verwertung von Wert exekutieren und ihre Kreativität dafür mobilisieren - bei Gefahr des Untergangs und mit der Chance der Entfaltung.

Wilfried Glißmann, Betriebsrat bei IBM in Düsseldorf (1999, 152):
Die neue Dynamik im Unternehmen ist sehr schwer zu verstehen. Es geht einerseits um ‘sich-selbst-organisierende Prozesse’, die aber andererseits durch die neue Kunst einer indirekten Steuerung vom Top-Management gelenkt werden können, obwohl sich diese Prozesse doch von selbst organisieren. Der eigentliche Kern des Neuen ist darin zu sehen, dass ich als Beschäftigter nicht nur wie bisher für den Gebrauchswert-Aspekt, sondern auch für den Verwertungs-Aspekt meiner Arbeit zuständig bin. Der sich-selbst-organisierende Prozeß ist nicht anderes als das Prozessieren dieser beiden Momente von Arbeit in meinem praktischen Tun. Das bedeutet aber, dass ich als Person in meiner täglichen Arbeit mit beiden Aspekten von Notwendigkeit oder Gesetzmäßigkeit unmittelbar konfrontiert bin. Einerseits mit den Gesetzmäßigkeiten im technischen Sinne (hinsichtlich der Schaffung von Gebrauchswerten) und andererseits mit den Gesetzmäßigkeiten der Verwertung. Ich bin als Person immer wieder vor Entscheidungen gestellt. Die beiden Aspekte zerreißen mich geradezu, und ich erlebe dies als eine persönlich-sachliche Verstrickung.

Nun verschleiert die Aussage, vor dem toyotistischen Umbruch nichts mit der Verwertung zu tun gehabt zu haben, sicher die realen Verhältnisse. Richtig ist aber, dass nach dem Umbruch die bisher nur mittelbare Marktkonfrontation einer unmittelbaren gewichen ist. So wie sich die Wertverwertung gesamtgesellschaftlich “hinter dem Rücken” der Individuen selbst organisiert, ausgeführt durch das “personifizierte Kapital” in Form der KapitalistInnen, ManagerInnen etc., so werden nun die Lohnabhängigen selbst in diesen Mechanismus eingebunden. Resultate dieser unmittelbaren Konfrontation mit dem Verwertungsdruck sind annähernd die gleichen wie zu Zeiten der alten Kommandoorganisation über mehrere Hierarchieebenen: Ausgrenzung vorgeblich Leistungsschwacher, Kranker, sozial Unangepasster, Konkurrenz untereinander, Mobbing, Diskriminierung von Frauen etc. - mit einem wesentlichen Unterschied: Wurde vorher dieser Druck qua Kapitalverfügungsgewalt über die Kommandostrukturen im Unternehmen auf die Beschäftigten aufgebaut, so entwickeln sich die neuen Ausgrenzungsformen nahezu “von selbst”, d.h. die Beschäftigen kämpfen jedeR gegen jedeN. In der alten hierarchischen Kommandostruktur war damit der “Gegner” nicht nur theoretisch benennbar, sondern auch unmittelbar erfahrbar. Gegen das Kapital und seine AufseherInnen konnten Gewerkschaften Gegenmacht durch Solidarität und Zusammenschluß organisieren, denn die Interessen der abhängig Beschäftigten waren objektiv wie subjektiv relativ homogen. In der neuen Situation, in der die Wertverwertung unmittelbar und jeden Tag an die Bürotür klopft, sind Solidarität und Zusammenschluß untergraben - gegen wen soll sich der Zusammenschluß richten? Gewerkschaften und MarxistInnen ist der Kapitalist abhanden gekommen! War die alte personifizierende Denkweise und entsprechende Agitationsform schon immer unangemessen, schlägt sie heute erbarmungslos zurück. Nicht mehr “der" Kapitalist, “das Kapital” oder “der Boss” sind der Gegner, sondern “der Kollege” oder “die Kollegin” nebenan. Die IBM-Betriebsräte nennen das “peer-to-peer-pressure-Mechanismus” (Glißmann 1999, 150).

Marx 1976/1890 (S. 167f)
Der objektive Inhalt jener Zirkulation - die Verwertung des Werts - ist sein subjektiver Zweck, und nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen, funktioniert er als ... personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital.

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