Sand im Getriebe

BIOTOPSCHUTZ: EINFÜHRUNG

Natur als Planungsgegenstand


Einleitung · Natur als Planungsgegenstand · Links · Lesestoff

Biotopschutz und Landschaftsplanung haben zum Ziel, den heimischen Bestand an Tieren und Pflanzen sowie die Eigenart und Schönheit von Natur und Landschaft zu bewahren oder neu zu entwickeln. So ergibt sich die Zielrichtung aus dem Naturschutzgesetz und dessen in allen Bundesländern ungeändert geltenden beiden Paragraphen zu Beginn. Die Begriffe Natur bzw Landschaft werden sehr unterschiedlich gebraucht und unterscheiden sichauch tatsächlich.

Landschaft ist ein aus einem bestimmten Blickwinkel eingeteiltes Stück des gesamten Landes unabhängig von seinem jeweiligen Zustand. Der Blickwinkel kann optisch sein, dh ein Bereich, der dem Auge eine Einheit bietet, wird als Landschaft beschrieben (zB ein Höhenzug, ein Tal, der Bereich zwischen zwei Siedlungen). Zudem ergeben sich andere Betrachtungsmöglichkeiten, die zu abweichenden Grenzziehungen führen.
Für Biotopschutz und Landschaftsplanung ist eine Abgrenzung verschiedener Landschaften bzw Landschaftsräume nach dort prägenden Landschaftsfaktoren (vor allem Wasser, Boden und Kleinklima) wichtig, da für diese Räume jeweils einheitliche Schutz- und Entwicklungsziele festlegbar sind.

Natur ist dagegen weit schwieriger zu beschreiben. Zudem wird dieser Begriff oft mißbraucht und taucht als Umschreibung für vieles auf, was nicht der wirklichen Bedeutung entspricht.

Beispiele für den Natur-Etikettenschwindel:
  • Viele Aktionen zum Schutz der Natur entsprechen mehr dem optischen Empfinden, zB wird die Farbe grün oder ein Baum der Natur gleichgesetzt. Tatsächlich werden viel entscheidendere Gesichtspunkte wie Standort, Struktur, Dynamik und Verbund vergessen.
  • Der Schutz von Natur bezeichnet oft eine statische Konservierung, dh den Erhalt eines bestimmten Zustandes, oftmals mit technisch erheblichem Aufwand. Natur aber ist dynamisch.
  • Umfassender "Etikettenschwindel" wird mit dem Wort Natur (und ähnlichen Begriffen wie Ökologie, Bio-... usw, die sich unterscheiden, aber immer wieder in ähnlicher Weise mißbraucht werden) betrieben. Die oft merkwürdig hergeleiteten Produktbeschreibungen zeigen aber nur Unwissen oder unlautere Absichten derjenigen, die den Begriff Natur als Etikett verwenden.

Grundsätzlich hat der Begriff Natur eine sehr eindeutige Bedeutung. Er bezeichnet alles, was frei ist von menschlich-technischem Einfluß. Menschliches Wirken wird dabei nur soweit mit einbezogen, wie dieses aus einer vollen Integration in natürliche Prozesse erfolgt, dh in der Lebensweise des Jägers und Sammlers. "Natürlich" sind danach alle Stoffe, Landschaften und Lebensräume, Prozesse und Kreisläufe, die ohne menschlich-technische Beeinflussung vorhanden sind.


Pervertierter Begriff von "freier Natur": Golf (HZ aktuell 28.2.2008, S. 1)

Aus Erik Zimen, "Schützt die Natur ..." (S. 57)
So propagiert zum Beispiel der renommierte Deutsche Bund für Vogelschutz im Zuge seiner Bemühungen, vom Image des reinen Vogelschutzes wegzukommen, seit neuestem das Anlegen von Folienteichen; dies nicht etwas nur in Privatgärten, sondern auch in der freien Landschaft. ... so degradiert Naturschutz zum Plastikreparaturbetrieb.
Nichts gegen "Biotope aus zweiter Hand". Die ganze Kulturlandschaft ist schließlich menschengeprägt, und viele Sünden sind wieder gutzumachen. Allzu leicht aber werden solche Maßnahmen zum Ersatz für den Schutz noch vorhandener Lebensräume. So haben zum Beispiel engagierte Naturschützer nicht weit von unserem Hof im südlichen Saarland ein sehr schönes Feuchtbiotop (ohne Plastik) angelegt. Zur Einweihung kamen der Ministerpräsident, Vertreter beider Kirchen, Radio, Fernsehen; alle voll des Lobes. Im gleichen Zeitraum, in dem diese Anlage errichtet wurde, verschwanden aber nach meiner Zählung insgesamt 19 kleine Tümpel, Feuchtwiesen, Schilf- und Röhrichtbestände in der Umgebung durch Bauschuttdeponie, Wasserentnahme oder Dränage; alles stets mit Genehmigung gerade der Damen und Herren, die sich vor der Fernsehkamera als um Natur und Umwelt Besorgte kundtaten. Noch einmal: Naturschutz als Alibi für fortgesetzte Naturzerstörung.


Dieser Begriff von Natur ist allerdings rein theoretisch, da durch die umfassende Beeinflussung der gesamten Erde natürliche Bereiche der obigen Begriffsdefinition nicht mehr vorkommen. So ist zB die Luftbelastung überall gegenwärtig. Daher sind für den konkreten Naturschutz zwei weitere Begriffe wichtiger.
  • Naturgemäß
    Dieser Begriff bezeichnet einen Prozeß, eine Situation oder einen Stoff, der der natürlichen Situation entspricht. Dabei kann immer nur ein Teil der Landschaft gemeint sein, da eine völlig unbeeinflußte Form nirgends mehr vorkommt. Der Begriff kann in Zusammenhang mit verschiedenen Inhalten benutzt werden und sagt dann aus, daßdieser spezifische Inhalt auch unter ganz natürlichen Verhältnissenso ausgeprägt wäre, jedoch andere Bereiche verändert sind. So kann es eine naturgemäße Struktur eines Waldes geben, aber zB der typische Verbund oder die typische Dynamik existieren nicht mehr. Auch in genutzten Flächen können etliche Faktoren noch immer naturgemäß wirken, zB eine Überschwemmungsdynamik oder der typische Standort.
  • Weitestgehend naturnah
    Dieser Begriff beschreibt einen Prozeß,eine Situation, einen Stoff oder auch die Gesamtheit einer Landschaft, die nicht mehr den natürlichen Bedingungen entspricht, aber diesen möglichst ähnlich ist. Gradmesser des Möglichen ist dabei die theoretische Machbarkeit insgesamt bzw unter definierten Umständen. So ist das weitestgehend naturnahe Hochmoor eine Fläche, aus der alle Störungen und früheren Veränderungen herausgenommen wurden, Entwässerungen auch in der Umgebung nicht mehr stattfinden, usw (denn all das ist machbar). Allerdings wird der ursprüngliche Zustand niemehr ganz erreicht werden können. Eine definierte Einschränkung liegt vor bei dem Begriff der weitestgehend naturnahen Nutzung, da hier die jeweilige Nutzung (zB Land- oder Forstwirtschaft, Erholung) eingeschlossen wird. Sie ist jedoch so angelegt, daß sie möglichst weitgehend die typischen Strukturen, Standortbedingungen, dynamischen Prozesse und den Verbund erhält.

Biotopschutz und Landschaftsplanung haben zum Ziel, eine möglichst naturnahe Form der Landschaft zu schützen bzw wieder zu entwickeln. Die definierte Einschränkung erfolgt durch die Nutzungsansprüche für Land- und Forstwirtschaft, Sport und Erholung, Wohnen usw, jedoch sind auch für diese die weitestgehend naturnahen Formen vorzugeben. Möglichst viele der die landschaftliche Prägung ausmachenden Faktoren sollten in naturgemäßer oder möglichst naturnaher Form vorhanden sein.

Diese Faktoren werden auf den folgenden Seiten beschrieben:
  • Standortbedingungen
  • Biotopverbund
  • Strukturen und Dynamik

Im Original: Chronoparks im Bürgerkrieg Naturvernichtung
Ein Gedankenspiel von Haimo Schulz Meinen, Aktionsanthropologe, Universität Hannover, Institut für Politische Wissenschaft (die Einbindung in diese Seite bedeutet nicht, alle Thesen des Autors zu befürworten)
Die Auseinandersetzung zwischen IndustrieanhängerInnen und UmweltschützerInnen wird zur Jahrtausendwende eine neue Qualität erreichen. An einzelnen Orten wird Bürgerkrieg ausbrechen. Denn die Ziele beider Gruppen sind unvereinbar. Der Erfolg der einen Seite bedeutet den Untergang der anderen. Hier wird daher das Konzept der Chronoparks beschrieben. Chronoparks sind fortschrittliche Instrumente pragmatischer NaturschützerInnen, die im heute begonnen werden, um langfristig die Industriegesellschaft abzuschaffen.

Ursache: religiös motivierte Naturvernichtung stellt Bürgerkriegssituation dar
Erste These

Die Zivilisation ist in keine Neuzeit eingetreten, wie behauptet wurde. Sie war und ist religiös zielgerichtet auf die Vernichtung von naturwüchsiger Biosphäre samt andersartiger Kulturen.
Die Rede von einer Neuzeit war Propaganda. Wir befinden uns heute in einer Zivilisation, deren Konzept seit mindestens zehntausend Jahren unverändert ist. Das Ziel ist die Vernichtung von unbeeinflußter Biosphäre. Die Akzeptanz für dieses Konzept wird seit langem in einer zwischenmenschlichen Vermittlungsebene erreicht, welche heute "Religion" oder "Zivilreligion" genannt wird. Das Ziel von Zivilisationen ist es seit Anbeginn, neue Lebensräume zu erobern, im Zentrum das Verwaltung-, Definitions-, Gewalt- und Verteilungsmonopol zu sichern, an der Peripherie Brückenköpfe zu bilden, die eigenen Kolonisten samt ihrer Lebenswelt in schnell und stets steigender Zahl dort einzunisten und alles vorab dagewesene sofort oder etwas später zu vernichten.
In globaler Perspektive ist das ein Bürgerkrieg. Biologisch gesprochen entspricht dieses Verhalten dem r-Strategen. R-Strategen nennt man jene Arten, die wie Ratten oder Fische sehr anpassungsfähig sind, auf schnelle Reproduktion (deshalb "r-Strategie") und hohe Ausschußzahlen setzen. Die Strategie erlaubt agressive, blitzartige Eroberungsszüge und hohe Siedlungszahlen.
Schlüsselbegriffe sind Verdichtung und Artifizialismus. Verdichtet werden menschliche Bevölkerung, verfügbare Energiereservoirs sowie Anzahl und Vielfalt von Artefakten, also von Kunstprodukten. Artifizialismus heißt der Glaube, durch Herstellung, Ausbreitung und Weiterentwicklung von Kunstprodukten stelle der Mensch seine Einzigartigkeit, seine Überlegenheit und den eigentlichen Grund seines Daseins unter Beweis. Gläubige des Artifizialismus halten sich für berechtigt, alle vorgefundenen Bedingungen im Zuge ihres "kreativen Schaffens" von Kunstprodukten und Kunstwelten zu vernichten.
Tatsächlich zeigen die letzten gut zwei bis drei Millionen Jahre, daß stark artifizialistisch vorgehende Menschengruppen anderen kurzfristig überlegen sind. Langfristig jedoch, nach 800 bis spätestens 2000 Jahren, zerstörten bisher solche Zivilisationen durch Raubbau ihre Lebensgrundlagen. Sie gingen unter oder mußten weiterziehen in neue Regionen. Nur die drei Kulturen im Industal, in Mesopotamien und in China bildeten bisher eine Ausnahme - sie erhielten sich um den Preis kontinentaler bis globaler Ausdehnung. (Tom Dale / Vernon Carter, Topsoil and Civilization, University of Nebraska Press 1955)
Vernichtet werden durch dieses Ausbreitungsprinzip alle vorherigen Lebensbedingungen. Das schließt die Biosphäre ebenso wie lokale Kulturen, die gar nicht oder in geringerem Maße expandierten, ein.
Die Gewißheit derer, die das für rechtmäßig oder unumgänglich halten (das ist dasselbe) ist eine religiöse Gewißheit. Erklärt und geglaubt wird, die eigene sei die höchste Lebensform. Alle anderen Wesen und Kulturen seien primitiver, weniger entwickelt. Auftrag und Mission der Menschen (der Juden unter den Tieren, Günter Anders) sei es, die Welt umzugestalten, zu verbessern, für seine eigenen Zwecke zu nutzen.
Diese Überzeugung und ihre praktische Umsetzung existiert in vielen Varianten: in jüdischer, christlicher, islamischer, konfuzianistischer, buddhistischer, humanistischer und marxistischer Abwandlung, um nur einige zu nennen. Nichtsdestoweniger ist es ein- und dasselbe religiöse Projekt.

Ergebnis
Zivilisation zielt auf Vernichtung ab. Mit natur- oder kulturverschonenden Konzepten ist das unvereinbar. Entweder man verzichtet auf Natur, andere Kulturen und deren Schutz. Oder man verzichtet auf Zivilisation. Es gibt daher keine gemeinsame Grundlage von Werten und Prinzipien zwischen Industrialisten und konsequenten Naturbewahrern.
"Wissenschaftler, Techniker und Technologen, Konstrukteure und Ingenieure sowie alle, die von der Industrie profitieren" wollen zumeist "um jeden Preis" weitermachen. (Karen Gloy, Das Verständnis der Natur, Bd. 1, München: Beck 1995, S. 13) Wird dieser ideologische Graben bisher auch geleugnet, so wird er demnächst aufbrechen. Der Aufruf von Seiten einer US-amerikanischen Unternehmervereinigung, industrialistische Bürgerwehren zu bilden und gegen UmweltschützerInnen militant vorzugehen, ist ein Vorgeschmack dieses Bürgerkriegs. (Ron Arnold. "Ecology Wars". A Free Enter prise Battle Book, Washington 1987, S. 145)

Ziel: Biosphärenbestandsgewähr
Zweite These

Der erweiterte, "ethnologische Relativismus" bietet eine Alternative. Mittels seiner Entwicklungsvorstellung könnten eine Gewähr für den Bestand der Biosphäre und gleiche Chancen für verschiedene Kulturen unterhalb der Zivilisationsschwelle gesichert werden.
Eine Alternative, wie auf das Vernichtungsziel der Zivilisation verzichtet werden kann, ist ansatzweise schon verschiedentlich entwickelt worden. Herausragend ist das Konzept des "ethnologischen Relativismus". Ein rechtspolitischer Vorstoß, das Zusammenleben der Kulturen darauf zu stellen, wurde vom Vorstand der US-amerikanischen Anthropologenvereinigung 1947 der Kommission zur Erklärung der Menschenrechte bei den Vereinten Nationen vorgelegt ("Statement on Human Rights"). Es fand jedoch keinen Eingang in die Menschenrechtserklärung von 1948.
Anthropologen wie Melville J. Herskovits hatten gefordert,
- von dem Prinzip [auszugehen], daß der Mensch nur frei ist, wenn er so lebt, wie seine Gesellschaft Freiheit definiert [...] Erst wenn das Recht der Menschen, ihren eigenen Traditionen entsprechend zu leben, in die geplante Erklärung aufgenommen ist, kann der nächste Schritt einer Definition der gegenseitigen Rechte und Pflichten von Gesellschaften [...] erfolgen.
- [Zunächst hatten sie festgestellt,] im großen und ganzen [zeigten die ethnologisch untersuchten Kulturen] Toleranz für das abweichende Verhalten einer fremden Gesellschaft, besonders dort, wo die Existenz nicht bedroht ist. In der Geschichte Westeuropas und Amerikas jedoch haben wirtschaftliche Expansion, militärische Überlegenheit und eine missionarisch-religiöse Tradition die Wahrnehmung kultureller Unterschiede in konkretes Handeln münden lassen. [...] Die Doktrin von der 'Bürde des weißen Mannes' diente dazu, wirtschaftliche Ausbeutung zu betreiben und Millionen von Menschen auf der Welt das Recht auf Selbstbestimmung zu bestreiten, sofern die Expansion Europas und Amerikas nicht die buchstäbliche Ausrottung ganzer Völker bedeutete. (Melville J. Herskovits, Ethnologischer Relativismus und Menschenrechte, in: Texte zur Ethik, Herausgegeben von Dieter Birnbacher und Norbert Hoerster, 2. Aufl., München: DTB 1976, S. 36-42, S. 41f. u. S. 38)
Der ethnologische Relativismus lehnt den herrschenden Universalismus ab. Er beschreibt eine Weltordnung, in der unterschiedliche Kulturen unbehelligt nebeneinander ihre Lebensvorstellungen entwickeln. So entsteht eine prinzipiell vorgegebene Biosphärenbestandsgewähr: Die Art der Gesellschaft darf die Stabilität des sie umgebenden Ökosystems nicht beeinträchtigen. Jede Kultur genießt damit denselben Schutz vor Immissionen und Vernichtung wie ihre Umwelt.
Wird nun in einer Erweiterung des ethnologischen Relativismus darauf verzichtet, Zivilisationen mit einbinden zu wollen, um logische Widersprüche zu vermeiden, läßt sich ein dynamisches Nachbarschaftsmodell für Kulturen entwickeln, wo verschiedene Gebote für alle Kollektive zu berücksichtigen wären: "weniger warenorientierte, geringer professionalisierte Gesellschaften [...] kulturelle Diversität auf geringerem Niveau materiellem Bedarfs [...]." (Wolfgang Sachs, Zur Archäologie der Entwicklungsidee. Acht Essays, Frankfurt/M.: IKO 1992, S. 12)
Die Gebote müßten sich aber nur auf die kulturellen Außenbeziehungen erstrecken. In einer dichtbevölkerten, engen Welt, die schlechte Erfahrungen gemacht hat, muß besonders parasitäres, asoziales und amoklaufendes Kulturaußenverhalten sanktioniert werden. Die innere Gestaltung kann jedoch völlig anheim gestellt werden. Auch diese erweiterte Fassung ist damit eine Form des "ethnologischen Relativismus".

Wege zum Ziel: Chronoparks in Biosphärenreservaten unter UN-Treuhandschaft
Dritte These

Konkret umgesetzt werden kann die Alternative zur zivilisatorischen Vernichtungstendenz durch Biosphärenreservate unter Treuhandschaft der Vereinten Nationen. Wird innerhalb und außerhalb die Ordnungsvorstellung eines ethnologischen Relativismus im wachsenden Maße angewandt, ist eine Abkehr sogar in bestehenden Strukturen möglich: im Rahmen des UNESCO-Programmes "Der Mensch und die Biosphäre" (MAB) und als Umsetzung des Artikels 77 Satz C der UN-Charta. In Industriegesellschaften braucht es Chronoparks.
Gegenwärtig ist die Herrschaft von Zivilisationen völlig ungefährdet. Alternative Überlegungen sind utopisch. Gründe existieren jedoch, deren Kombination eine gewisse Wahrscheinlichkeit ergibt, daß in absehbarer Zeit in einzelnen Regionen Alternativen erprobt werden können. Dazu gehört einmal das zwischennationale Forschungsprogramm der UNESCO, das seit 1970 unter dem Namen "Der Mensch und die Biosphäre" (MAB) naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Untersuchungen vereint.
Ein Schwerpunkt ist die Förderung und Kontrolle von Biosphärenreservaten. Derzeit sind 324 Biosphärenreservate in 82 Staaten mit einer Gesamtfläche von 2,115 Millionen Quadratkilometern ausgewiesen. (Deutsches MAB-Nationalkommitee 1995) Im Jahre 1986 beschloß die 9. Sitzung des International Coordinating Council, der MAB-Leitung, als zweite Forschungsorientierung Nr 2 des MAB-Programmes künftig das "management and restoration of human impacted areas" zu betreiben. Im Rahmen dieser Zielsetzung "Betreuung und Wiederherstellung von durch Menschen übernutzten Gebieten" und unter Maßgabe der allgemeinen Richtlinien des Programms kann nun auch eine Region als Biosphärenreservat entwickelt werden, die weder besonders viele naturnahe, noch tatsächlich naturwüchsige, noch einzelne sehr schützenswerte Arten beherbergt. Eine solche Konzeption stellt der Chronopark dar.
Der zweite Grund liegt im internationalen Treuhandsystem der Vereinten Nationen. Es wurde 1947 durch die Kapitel XI bis XIII der UN-Charta begründet und sollte unter anderem dazu dienen, Kolonialgebiete kontrolliert in die Unabhängigkeit überführen zu können. 1995 wurde das vorerst letzte Treuhandgebiet im Pazifik, ein Gebiet von "strategischer" Bedeutung für die USA, aufgegeben und einer Selbstverwaltung unterstellt. Der Treuhandrat wurde arbeitslos.
Der Artikel 77c der UN-Charta sieht vor, daß Staaten auf Hoheitsgebiete auch zugunsten Dritter verzichten können. Dieser Fall ist bisher in knapp 50 Jahren nicht einmal aufgetreten. Im Hinblick auf das wachsende Bewußtsein von Bedeutung und der Bedrohung natürlicher Ressourcen durch Staaten, die rücksichtslos und kurzsichtig nationale Interessen durchzusetzen versuchen, könnte diesem Artikel in Zukunft größere Wichtigkeit zukommen. Ohne Zweifel wird das Prinzip zuvörderst gegenüber schwächeren Staaten angewandt werden: stärkere werden Tropenwälder, Korallen- und Fischbänke, Großtiergehege und Hochgebirge auf diese Weise zu schützen versuchen. (Vgl. Daniel Janzen, The Future of Tropical Ecology, in: Annual Review of Eco logy and Systematics 17 (1986), S. 305-306; ein Vorschlag, der als "frankly imperialist manifesto" bezeichnet wurde von Ramachandra Guha, Radical American Environmentalism and Wilderness Preservation: A Thirld World Critique, in: Environmental Ethics 11 (1 989), S. 71-84, S. 76)
Hier jedoch soll skizziert werden, wie das Treuhandmodell in einem der Staaten umgesetzt werden könnte, die für die Vernichtungstendenzen sehr viel verantwortlicher sind: einem Industriestaat wie der Bundesrepublik Deutschland. Das Modell nenne ich "Chronoparks".

Wege zum Ziel - Demontage im Chronopark Karte der möglichen Rückzugszonen
Eine zunächst kleine, aber stetig wachsende Landfläche muß aus dem Industriestandort Deutschland herausgeschnitten werden. In einer Kombination aus privatem Schutzgebietsmanagement und gutachtlich-landschaftsplanerischer Regionalplanerarbeitung werden für einen definierten Zeitraum Schritte räumlich beschrieben, in denen Gebiete die üblichen Vorrangfunktionen verlieren. Naturschutz und sanfter Tourismus werden als Alleinfunktionen planerisch entwickelt und räumlich ausgeweitet: neue Naturschutzgebiete mit einer Wohn- und Arbeitsbevölkerung, die sich freiwillig besonderen Beschränkungen unterwirft. Dieses Prinzip wird seit einigen Jahren erfolgreich in der Planung, Entwicklung und Ausweisung von Biosphärenreservaten angewandt. Dort existieren unterschiedlich e Zonen. In Kernzonen findet keine Nutzung mehr statt, in den anliegenden und Pufferzonen sind unterschiedliche Nutzungsintensitäten gestaffelt.
Der Chronopark ist ein verschärfter Nationalpark ohne Nationalhoheit. Oder man kann in ihm einen progressiven, offensiven Typ von Biosphärenreservat sehen. Der Chronopark dehnt sich aus und ändert fortwährend seine Zonierung. Die Kernzonen treten aus der Industrieepoche wieder heraus. Es entstehen Räume mit und in neuer Zeit. (Der Name leitet sich ab von chronos, griechisch für Zeit)
Die Kernzone ist von Müll und Hinterlassenschaften des Menschen gänzlich zu befreien. Straßen werden zurückgebaut. Technische Anlagen, Leitungen und Infrastruktur werden schritt- bzw zonenweise demontiert. Für Fabriken und Siedlungen werden Langzeitpläne erstellt, bis wann die Räumung abgeschlossen sein soll, wann mit der Demontage begonnen werden kann. Planungen von Tagebauunternehmen wie der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke (RWE), wie die Siedlungen auf künftigen Tagebauerweiterungsflächen reibungslos und gegen Entschädigung zu räumen sind, können als Vorbild dienen. Die Einzelteile der demontierten Siedlungsreste werden sortiert und abgefahren. Für sie müssen außerhalb geeignete Senken gefunden werden. Nach und nach sind Überflüge und Immissionen auszuschalten.
Ständig an Größe gewinnend, bieten die Kernzonen immer mehr Tieren und Planzenarten den benötigten Lebensraum. Chronoparks "schützen" nicht mehr, sondern "entwickeln" Natur. Gleichzeitig machen sie der "Industriebiozönose" (Ulrich Riedl), der ausgeräumten Industrielandschaft, den Raum streitig. Sie können überall entstehen und gegründet werden. Denn die bisherige Naturschutzorientierung auf seltene oder erhaltene Naturteile muß als zu defensiv aufgegeben werden. Der Chronopark nimmt in seiner wachsenden Kernzone das langfristige Endziel der Entwicklung vorweg, die er mit vorantreibt. Die Industrie muß abgeschafft werden. Die Zahl menschlicher Bewohner muß auf unter 0.1 Mensch pro Quadratkilometer nutzbarer Landfläche sinken. (In der Bundesrepublik sind es derzeit 222 Menschen pro Quadratkilometer.)

Wege zum Ziel - Naturschutz und sanfter Tourismus im Chronopark
Innerhalb des Chronoparks sind unterschiedliche Epochen, verschiedene Zeitzonen zu besichtigen. Die Bewohnerdichte nimmt von außen nach innen ab. In der innersten Kernzone leben überhaupt keine Menschen. Anliegend finden sich umherstreifende Gruppen, die dem Leben nachgehen, wie es hierzulande in der frühen Altsteinzeit üblich war. Es werden Früchte, Wurzeln, Pilze und Aas gesammelt. In der nächsten Zone wird darüberhinaus gejagt, mit einfachen Speeren oder Äxten. Daneben, in der Jungsteinzeit- und der Bronzezeitzone, werden komplexere Stein- und Metallwerkzeuge für Jagd, Kleidungsherstellung und Vorratshaltung gefertigt. Dort beginnen die ersten Siedlungen, in Höhlen und in einfachen, vergänglichen Hütten aus Zweigen, Erdreich und geeigneten Dächern. Weiter außen befinden sich Frühmittelaltersiedlungen, vielleicht ein Marktflecken im Schatten einer Burg.
Wieder eine Zone weiter außen stoßen die BesucherInnen auf frühneuzeitliche Lebensformen. Die Aufklärung und erste Anzeichen der sogenannten Moderne finden sich weiter außen, gefolgt von Eins-zu-eins-Darstellungen des 18ten und des 19ten Jahrhunderts. Außen schließlich könnten die 20er, die 40er, die 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts je in einer kleinen Wohnsiedlung vertreten und zu besichtigen sein.
Die Gäste sind ihrer Zahl pro Tag und pro Gruppe begrenzt. Individuelle und führerlose Reisen finden zunächst nicht statt. Die Weite, die Wildheit und der Artenreichtum der Landschaft werden es in der Postmoderne erlauben, pro Person nicht unter DM 600,- pro Tag an Eintrittsgebühren zu verlangen. Klare Wasser und der Thrill des Risikos, von Wegelagerern oder hungrigen Wölfen massakriert zu werden, werden dafür sorgen, daß die Buchungen in großer Zahl hereinkommen. Mit den erwirtschafteten Geldern sollten die Demontagen, die Entschädigungen, die Verwaltungskosten und die Personalkosten beglichen werden. Denn die Darsteller der Epochen in den Chronoparks werden zunächst angestellte Arbeitslose sein. Auf diese Weise kann ein Teil der Kosten von den Sozialministerien zurückgefordert werden und dann zum Ankauf neuer Flächen verwandt werden.
Später wird massive Werbung einen anschwellenden Strom von AussteigerInnen in die Chronoparkzonen treiben. Dort werden sie ihren subjektiven Traum vom anderen Leben verwirklichen und der Parkverwaltung hohe Personalkosten einsparen helfen, wenn sie ohne Bezahlung arbeiten. In der Nähe der Chronoparks kann eine alternative Tourismus-Zulieferindustrie aufgebaut werden. Sie muß natürlich mobil sein und mit der Zonenerweiterung vorwärts ziehen, immer in die neu zu räumenden Siedlungsgebiete hinein. Verkauft und vermietet werden können antiquarische Kleidung, antike Kutschen, alte Koffer und Waffen.
Den Zutritt könnte man zunehmend restriktiver daran koppeln, daß nur noch Kleidung und Ausrüstung aus exakt jener Epoche mitgenommen werden dürfen. Immerhin wäre dies für die Epochen der letzten 200 Jahre denkbar. Nur dann werden die Mäntel so muffig riechen und sich so anfühlen, daß die BesucherInnen tatsächlich den Eindruck haben, in eine andere Zeit einzutreten. Zusammengefaßt können Chronoparks den Anhängern der Virtual Reality wirksam entgegenwirken, die behaupten, nur über High Tech Elektronik sei die Simulation anderer Welten zu verwirklichen.
Gleichzeitig muß diesen AnhängerInnen der Artifizialistischen Religion, des Kults des technischen Fortschritts, mutig und kreativ entgegengetreten werden. Denn mittels ihrer Variante der simulierten Welten werden Natur, Artenreichtum, Ressourcen, Lebensgrundlagen, Leben und Freiheit von anderen Spezies und die Lebenschancen zukünftiger Menschen vernichtet. Mit den Chronoparks haben offensive NatürschützerInnen die Instrumente in der Hand, im Bürgerkrieg der Naturvernichtung das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden.


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