Seitenhieb-Verlag

MORAL & RELIGION

Wahrheit und Subjektivität


1. Entwertung aller Werte
2. Religion
3. Wahrheit und Subjektivität
4. Wahrheitsliebe von "links", Anarch@s und anderen
5. Links

Heinz von Förster/Bernhard Pörksen (8. Auflage 2008), „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“, Carl Auer Verlag in Wiesbaden
Mein Ziel ist es vielmehr, den Begriff der Wahrheit selbst zum Verschwinden zu bringen, weil sich seine Verwendung auf eine entsetzliche Weise auswirkt. Er erzeugt die Lüge, er trennt die Menschen in jene, die recht haben, und jene, die - so heißt es - im Unrecht sind. Wahrheit ist, so habe ich einmal gesagt, die Erfindung eines Lügners. ... Damit ist gemeint, daß sich Wahrheit und Lüge gegenseitig bedingen: Wer von Wahrheit spricht, macht den anderen direkt oder indirekt zu einem Lügner. Diese beiden Begriffe gehören zu einer Kategorie des Denkens, aus der ich gerne heraustreten würde, um eine ganz neue Sicht und Einsicht zu ermöglichen. ...
Meine Auffassung ist in der Tat, daß die Rede von der Wahrheit katastrophale Folgen hat und die Einheit der Menschheit zerstört. Der Begriff bedeutet - man denke nur an die Kreuzzüge, die endlosen Glaubenskämpfe und die grauenhaften Spielformen der Inquisition - Krieg. Man muß daran erinnern, wieviele Millionen von Menschen verstümmelt, gefoltert und verbrannt worden sind, um die Wahrheitsidee gewalttätig durchzusetzen. ...
in dem Moment, in dem man von Wahrheit spricht, entsteht ein Politikum, und es kommt der Versuch ins Spiel, andere Auffassungen zu dominieren und andere Menschen zu beherrschen. ...Ich will noch einmal betonen, daß ich im Grunde genommen aus der gesamten Diskussion über Wahrheit und Lüge, Subjektivität und Objektivität aussteigen will. Diese Kategorien stören die Beziehung von Mensch zu Mensch, sie erzeugen ein Klima, in dem andere überredet, bekehrt und gezwungen werden. Es entsteht Feindschaft. ... (S. 29 ff.)
Mein Wunsch wäre es, meine Sprache so zu beherrschen, daß Ethik in jedem Dialog - ganz gleich, ob es um Politik, Wissenschaft, Poesie oder was auch immer geht - implizit bleibt, so daß ich, wenn ich einen bestimmten Satz gesagt habe, immer noch ein anständiger Mensch bin. Ein Mensch, der andere nicht zu etwas zwingen will. Ein Mensch, der sich nicht zum Richter oder Polizisten aufschwingt, sondern dem anderen seinen Raum läßt. Das ist der Grund, warum ich eigentlich keine weiteren Kriterien und Checklisten für eine endgültig richtige Sprache und Form der Darstellung nennen möchte. ... (S. 40)
Wenn ich sage, eine Aussage sei objektiv, dann liegt dieser Behauptung die Vorstellung zugrunde, man selbst habe nichts mit dieser Aussage zu tun. Man beschreibt ja nur, man fungiert als eine Art Kamera und als ein passiver Registrator. Politisch gesehen ist diese Ablösung des Beobachters vom Beobachteten ein beliebtes Gesellschaftsspiel; denn wie will man diesen objektiven Beobachter für irgend etwas verantwortlich machen? Er ist ja nur ein Berichterstatter, er ist nicht beteiligt an dem, was geschieht, er kann sich immer darauf zurückziehen, daß er nur objektiv darstellt, was der Fall ist. (S. 156)


Aus Joachim Paul, "Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners", in: medienbrief 2/2003 (S. 47)
Für den auf einem solchen Konzept der Welterzeugung aufbauenden radikalen Konstruktivismus - der Beobachter, das Subjekt schafft seine Wirklichkeit ja erst durch seine Wahrnehmungsakte, die zudem seiner Biologie unterworfen sind - ergeben sich unmittelbar interessante ethische Konsequenzen.
Zum einen die Toleranz für die Wirklichkeiten anderer, sie folgt aus dem Bewusstsein der Konstruiertheit der eigene nWirklichkeit, die nun auch nicht mehr verabsolutierbar ist. Zum anderen ist das die Veranstwortung, in den Worten von Foersters: "Die Welt als eine Erfindung aufzufassen, heißt, sich als ihren Erzeuger zu begreifen; es entsteht Verantwortung für ihre Existenz."


Aus Helmut Willke, "Systemtheorie II, Interventionstheorie" (S. 23)
Die Logik der Beobachtung (und der daraus folgenden Beschreibung) ist die Logik des beobachtenden Systems und seiner kognitiven Struktur. Damit ist gesagt, dass es der Beobachter ist, der - über die Art und Weise, wie er beobachtet - festlegt, was er beobachten kann. Die Instrumente des Beobachtens (Sinnesorgane, technische Beobachtungsinstrumente, kognitive Strukturen wie Begriffe, Theorien oder Weltsichten) definieren den Möglichkeitsraum der Beobachtung.

Marxismus und Wahrheit

Aus Lotter, K./Meiners, R./Treptow, E. (2006): "Das Marx-Engels-Lexikon", Papyrossa Verlag Köln zum Stichwort "Wahrheit" (S. 365 ff.)
Zusammenfassung der Autoren:
Wahrheit besteht in der Übereinstimmung der Dinge und ihrer Gedankenabbilder (1). Die Frage der Wahrheit ist keine Frage der sprachlichen Präzision (2). Wahrheit ist nicht die Akkumulation abgeschlossener Erkenntnisse, sondern liegt im Prozeß der Erkenntnis und trägt selbst Prozeßcharakter (3). Darin liegt auch ihre historische Bestimmtheit, ihre historische Beschränktheit und Relativität begründet (4). Das Kriterium der Wahrheit ist die gesellschaftliche --> Praxis (5).


(1) Für den Methaphysiker sind die Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe, vereinzelte, eins nach dem andern und ohne das andre zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebne Gegenstände der Untersuchung. [ ... ] Für die Dialektik dagegen, die die Dinge und ihre begrifflichen Abbilder wesentlich in ihrem Zusammenhang, ihrer Verkettung, ihrer Bewegung, ihrem Entstehn und Vergehn auffaßt, sind Vorgänge wie die obigen, ebensoviel Bestätigungen ihrer eignen Verfahrensweise. [ ... ] Eine exakte Darstellung des Weltganzen, seiner Entwicklung und der der Menschheit, sowie des Spiegelbildes dieser Entwicklung in den Köpfen der Menschen, kann also nur auf dialektischem Wege, mit steter Beachtung der allgemeinen Wechselwirkungen des Werdens und Vergehens, der fort- oder rückschreitenden Änderungen zustande kommen. (Anti-Dühring, 1876/78, MEW 20, 20 ff.)
(2) Handelt es sich nun aber darum, die Wahrheit solcher Worte zu beweisen, so kann wohl schwerlich der Beweis bis auf den Wortlaut gemeint sein, denn in dieser Rücksicht würde jedes Resümee unwahr sein, und es wäre überhaupt unmöglich, den Sinn einer Rede wiederzugeben, ohne die Rede selbst zu wiederholen. Wurde also z.B. behauptet: "Man hielt den Notschrei der Winzer fürfreches Gekreisch", so wird billigerweise nur verlangt werden können, daß eine ungefähr richtige Gleichunggezogen sei, d.h., daß ein Gegenstand nachgewiesen werde, der die resümierende Bezeichnung "freches Gekreisch" einigermaßen aufwiegt und zu einer nicht unpassenden Bezeichnung macht. Ist diese Probe geliefert, so kann es sich nicht mehr um die Wahrheit, sondern nur mehr um die sprachliche Präzision handeln [ ... ] (Rechtfertigung des ++ Korrespondenten von der Mosel, 1843, MEW 1, 172)
(3) Die Wahrheit, die es in der Philosophie zu erkennen galt, war bei Hegel nicht mehr eine Sammlung fertiger dogmatischer Sätze, die, einmal gefunden, nur auswendig gelernt sein wollen; die Wahrheit lag nun in dem Prozeß des Erkennens selbst, in der langen geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft, die von niedern zu immer höhern Stufen der Erkenntnis aufsteigt, ohne aberjemals durch Ausfindung einer sogenannten absoluten Wahrheit zu dem Punkt zu gelangen, wo sie nicht mehr weiter kann, wo ihr nichts mehr übrigbleibt, als die Hände in den Schoß zu legen und die gewonnene absolute Wahrheit anzustaunen. Und wie auf dem Gebiet der philosophischen, so auf dem jeder andern Erkenntnis und auf dem des praktischen Handelns. (Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 1888, MEW 21,267; vgl. MEW 1, 7)
(4) Der große Grundgedanke, daß die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist sondern als ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge nicht minder wie ihre Gedankenabbilder in unserm Kopf, die Begriffe, eine ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens durchmachen, in der bei aller scheinbaren Zufälligkeit und trotz aller momentanen Rückläufigkeit schließlich eine fortschreitende Entwicklung sich durchsetzt - dieser große Grundgedanke ist, namentlich seit Hegel, so sehr in das gewöhnliche Bewußtsein übergegangen, daß er in dieser Allgemeinheit wohl kaum noch Widerspruch findet. [ ... ] Geht man aber bei der Untersuchung stets von diesem Gesichtspunkt aus, so hört die Forderung endgültiger Lösungen und ewiger Wahrheiten ein für allemal auf; man ist sich der notwendigen Beschränktheit aller gewonnenen Erkenntnis stets bewußt, ihrer Bedingtheit durch die Umstände, unter denen sie gewonnen wurde; aber man läßt sich auch nicht mehr imponieren durch die der noch stets landläufigen alten Metaphysik unüberwindlichen Gegensätze von Wahr und Falsch, Gut und Schlecht, Identisch und Verschieden, Notwendig und Zufällig; man weiß, daß diese Gegensätze nur relative Gültigkeit haben, daß dasjetzt für wahr Erkannte seine verborgene, später hervortretende falsche Seite ebensogut hat wie das jetzt als falsch Erkannte seine wahre Seite, kraft deren es früher für wahr gelten konnte; daß das behauptete Notwendige sich aus lauter Zufälligkeiten zusammensetzt und das angeblich Zufällige die Form ist, hinter der die Notwendigkeit sich birgt - und so weiter. (Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 1888, MEW 21,293 f)
(5) Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme - ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens - das von der Praxis isoliert ist - ist eine rein scholastische Frage. (Thesen über Feuerbach, 1845, MEW 3,5; vgl. MEW 19,530; MEW 21,276)


  • MEW 1, 6: Allgemeinheit der Wahrheit.
  • MEW 1, 27: Wahrheit als adäquate Erfassung der Dinge.
  • MEW 2, 83: Wahrheit kein sich selbst beweisendes Automaton.
  • Grundrisse, 21 f: Wissenschaftliche Reproduktion der konkreten Totalität als Gedankentotalität.
  • MEW 20, 23 f.: Widerspruch zwischen absoluter Wahrheit und dialektischem Denken in Hegels Philosophie (vgl. MEW 13,472 ff; MEW 19,206; MEW 21,267 ff., 278).
  • MEW 20, 78 ff.: Historizität und Relativität der Wahrheit, Scheincharakter ewiger Wahrheiten (vgl. MEW 20,18,141, 330; MEW 18, 95 f.; MEW 36, 589).
  • MEW 20, 89: Verkehrung von Abbild und Gegenstand in der Ideologie (vgl.
  • MEW 37, 488, 491 f.).
  • MEW 20,496 ff.: Beweis der Wahrheit durch Tätigkeit, Experiment, Arbeit, Industrie. MEW 21, 270: Absolute und relative Wahrheit.

Subjektivität

Michael Foucoult, 1977: Dispositive der Macht, Merve Verlag Berlin
Nicht die Veränderung des "Bewußtseins" der Menschen oder dessen, was in ihrem Kopf steckt, ist das Problem, sondern die Veränderung des politischen, ökonomischen und institutionellen Systems der Produktion von Wahrheit. Es geht nicht darum, die Wahrheit von jeglichem Machtsystem zu befreien - das wäre ein Hirngespinst, denn die Wahrheit selbst ist Macht - sondern darum, die Macht der Wahrheit von den Formen gesellschaftlicher und kultureller Hegenomie zu lösen, innerhalb derer sie gegenwärtig wirksam ist. ...
In Gesellschaften wie der unsrigen kann die "politische Ökonomie" der Wahrheit durch fünf historisch bedeutsame Merkmale charakterisiert werden:
  • die Wahrheit ist um die Form des wissenschaftlichen Diskurses und die Institutionen, die ihn produzieren, zentriert;
  • sie ist ständigen ökonomischen und politischen Anforderungen ausgesetzt (Wahrheitsbedürfnis sowohl der ökonomischen Produktion als auch der politischen Macht);
  • sie unterliegt in den verschiedensten Formen enormer Verbreitung und Konsumtion (sie zirkuliert in Erziehungs- und Informationsapparaten, die sich trotz einiger strenger Einschränkungen realtiv weit über den sozialen Körper ausdehnen);
  • sie wird unter der zwar nicht ausschließlichen aber doch überwiegenden Kontrolle einiger weniger großer politischer und ökonomischer Apparate (Universität, Armee, Presse, Massenmedien) produziert und verteilt;
  • schließlich ist die Einsatz zahlreicher poltiischer Auseinandersetzungen und gesellschaftlicher Konfrontationen ("ideologischer" Kämpfe). (S. 51/52)

Heinz von Förster/Bernhard Pörksen (8. Auflage 2008), „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“, Carl Auer Verlag in Wiesbaden (S. 28)
Das Relativitätsprinzip schafft eine Form, in der über die Umwelt und den anderen Menschen wieder geredet werden kann. Und in dem Moment, in dem ich die Existenz des anderen und mein eigenes Vorhandensein postuliere, lebe ich in einer Beziehung und Gemeinschaft, es entsteht Beteiligung; man wird plötzlich zum Mitleidenden, dem es nicht mehr möglich ist, durch die Referenzen auf eine externe Realität eine Ausrede für die eigene Gleichgültigkeit zu finden. Diese Entscheidung, die ich hier vorschlage, macht einen zu einem sozialen Wesen. Die Welt als eine Erfindung aufzufassen, heißt, sich als ihren Erzeuger zu begreifen; es entsteht Verantwortung für ihre Existenz. ...

Aus Ulf von Rauchhaupt: "Philosophische Quantenphysik: Ganz im Auge des Betrachters", in: FAZ, 15.2.2014
Der Quantenzustand ist nichts Objektives, sondern Ausdruck einer subjektiven Überzeugung des Beobachters. „Eine Messung enthüllt keinen zuvor existierenden Zustand der Dinge“, sagt Christopher Fuchs vom Perimeter Institute im kanadischen Waterloo, einer der Begründer des QBismus. „Es ist etwas, das ein Akteur mit der Welt anstellt und das zur Schöpfung eines Resultates führt, einer neuen Erfahrung für diesen Akteur.“ ...
Realität ist völlig subjektabhängig ...
So ist die wissenschaftliche Realität für verschiedene Subjekte unterschiedlich. „Das ist nicht so seltsam, wie es klingt“, erklärt Fuchs. „Was für einen Akteur real ist, das beruht allein darauf, was dieser Akteur für Erfahrungen gemacht hat. Und verschiedene Akteure machen verschiedene Erfahrungen.“ Damit ist Realität zwar völlig subjektabhängig. Sie ist aber trotzdem etwas Zusammenhängendes, Erforschbares, schließlich können sich die Subjekte über ihre Erfahrungen austauschen.
Wie schon Niels Bohr ziehen die QBisten aus der Quantentheorie, so wie sie sich uns präsentiert, den Schluss, dass man sich von der Vorstellung einer externen Wirklichkeit, die menschliche Wissenschaft gleich einem Territorium immer vollständiger erkunden könne, verabschieden muss. Während Bohr sich aber damit keinen Schluss auf die Nichtexistenz einer solchen, dann eben für Physiker unerforschlichen Wirklichkeit erlaubt, ist Christopher Fuchs radikaler: „Es ist nicht so, dass Natur vor uns verborgen wäre“, erläutert er. „Sie ist noch gar nicht ganz da und wird das auch nie sein. Natur wird in dem Moment, da wir darüber reden, ausgearbeitet.“


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