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HERRSCHAFT AUSMACHEN

Der Blickwinkel oder Die drei Seiten der  Medaille


1. Definitionen und Formen
2. Blick ins Herz der Finsternis
3. One ring to rule them all? - Kapitalismus vs. Sexismus vs. Rassismus vs. ...
4. Herrschaft im Brennpunkt
5. Der Blickwinkel oder Die drei Seiten der  Medaille
6. Die Spezialfilter oder Tragende Säulen der Dickichtkonstruktion
7. Debatten zum Text

Was ist Herrschaft?
Sauron, der Herr der Ringe, verfügt über Orks und Schwarze Reiter, Frau Meier über ihre Putzfrau und der Chef von Frau Meier über ihre - durch Mutterschaftspause abgewertete und damit günstigere - Arbeitskraft. Gesellschaftliche Strukturen, Regeln und Rollen sorgen dafür, dass Frau Meier auch wirklich arbeiten gehen muss, sie kann sich der Verfügung nur schwer entziehen. Der Zugriff der ChefInnen auf "ihre" Frau Meiers ist somit über die persönliche Beziehung hinausgehend abgesichert - und genau das macht Herrschaft aus. Eine Brille, mit deren Hilfe wir die verschiedenen Ebenen von Herrschaft aufdecken können, sollte einen Wechsel des Blickwinkels ermöglichen.

Die Vogelperspektive: Gesellschaftliche Erscheinungsformen und Strukturen
Viele (politische) Theorien und Strategien erschöpfen sich darin, verschiedene Herrschaftsverhältnisse nur auf der Ebene ihrer gesellschaftlichen Erscheinungsform zu erfassen. Das aktuell prominenteste Beispiel sind hier große Teile der GlobalisierungskritikerInnen, die den Neoliberalismus nicht als derzeitige Erscheinungsform des Kapitalismus, sondern als alleinige Ursache von Armut und ungerechter Verteilung bekämpfen. Ein anderes Beispiel ist die Beschränkung der Problematisierung des Geschlechterverhältnisses auf prozentuale Frauenanteile in bestimmten gesellschaftlichen Positionen und die Quotierung als (alleinige) politische Strategie.
Andere Ansätze gehen einen Schritt weiter und thematisieren nicht nur die Erscheinungsebene von Herrschaftsverhältnissen, sondern auch die zugrundliegenden gesellschaftlichen Strukturen. Kritisiert werden dann z.B. hierarchische Klassenstrukturen, die gesellschaftliche Organisation des Marktes (in ihrer neoliberalen Verfasstheit) und damit einhergehende Konkurrenzverhältnisse. Übertragen auf die Geschlechterproblematik würde das heißen, die Kritik am Patriarchat, an der Hierarchisierung der Geschlechter, an geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung etc. zu formulieren. Solche Ansätze, die den Blick auf die gesellschaftlichen Strukturen und deren Erscheinungsformen richten, sind notwendig, um Herrschaft in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu erfassen, aber nicht hinreichend, um sie radikal kritisieren und grundsätzlich verändern zu können.

Der Röntgenblick: Was liegt dem zugrunde?
Wichtig erscheint es uns zusätzlich, hinter diese gesellschaftlichen Erscheinungsformen von Herrschaftsverhältnissen sowie ihre strukturelle Verankerung zu gucken: Herrschaft stützt sich auf grundlegende Prinzipien, die jedeR als unabänderlich und normal, als quasi-natürliche Gesetzmäßigkeit, empfindet. Diese Prinzipien sind materiell nicht erfahrbar und sie werden nicht unmittelbar erlebt. Dennoch sind sie von den Individuen so verinnerlicht, dass sie für diese die Wirklichkeit darstellen und somit bedeutsam für ihr Denken, Entscheiden und Handeln sind.
Dabei liegen Herrschaftsverhältnissen verschiedene strukturierende Prinzipien zugrunde. Für jede jeweils aktuelle Ausgestaltung des Kapitalismus ist beispielsweise der Zwang wesentlich, alles und jedeN als Wert zu erfassen und vorhandene Werte im Produktionsprozess zu vermehren - zu verwerten im wahrsten Sinne des Wortes. Dass aber abstrakte Dinge (z.B. Arbeit) genauso wie konkrete Dinge (z.B. Waschmaschinen) überhaupt einen Wert haben, erscheint uns als zweifellose "Wahrheit".
Genauso selbstverständlich ist uns die abendliche Wahl zwischen dem Frauen- und dem Männerklo in der Kneipe: Grundlage von Patriarchat und Sexismus ist die Konstruktion und der damit einhergehende Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Das bedeutet zum einen, dass wir es als vollkommen normal empfinden, dass Menschen anhand des Geschlechts in zwei gesellschaftliche Gruppen eingeteilt werden und nicht anhand des Unterscheidungsmerkmals "angewachsene Ohrläppchen/nicht angewachsene Ohrläppchen". Der Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit bedeutet zum anderen, sich ständig zu einem von zwei Geschlechtern eindeutig zuordnen zu müssen, sei es bei der Klowahl, dem Ankreuzen von offiziellen Formularen oder der ersten Frage an die frischgebackenen Eltern: "Was ist es denn?" - mit all den Vorstellungen von Rollenmustern, Chancen und Möglichkeiten, die an dieser Frage mit dranhängen. Ohne das Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit sind patriarchale Verhältnisse schlicht nicht vorstellbar, da nur in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gebracht werden kann, was vorher voneinander unterschieden wurde.

Der Alltagsblick: Der 5-Euro-Putzjob - Wie wir und andere Herrschaft erfahren
Schließlich kann Herrschaft als persönliche Erfahrung beschrieben werden: Die beschriebenen grundlegenden Prinzipien, ihre Verankerung in gesellschaftlichen Strukturen und die Erscheinungsformen von Herrschaftsverhältnissen werden als konkrete Einschränkung, als alltägliche Fremdbestimmung erlebt. Die polnische Putzfrau kann ohne EU-Pass hier nicht einfach so arbeiten und "muss froh mit dem sein, was sie bekommt". Für Lieselottes transsexuelle Tochter Martin wird der sonst so alltägliche Gang zur Toilette in öffentlichen Räumen ebenso zur großen Qual wie die taxierenden Blicke all derer, die endlich wissen wollen, "was" sie denn nun ist. MigrantInnen dürfen sich aufgrund der Residenzpflicht nicht aus ihrem Landkreis bewegen, Sozialhilfekürzungen entscheiden eben darüber, ob die Tochter mit auf die Klassenfahrt fährt oder man einem Freund mal einen Kaffee ausgeben kann.
Jeder dieser drei Blickwinkel auf Herrschaftsverhältnisse - d.h. jede der drei Seiten der Medaille - ist unserer Meinung nach notwendig und relevant, um Herrschaft erkennen, benennen und bekämpfen zu können. Von vielen Gruppen und Menschen wird jedoch nur ein einzelner Blickwinkel gewählt. Humanitäre Organisationen oder christliche Initiativen konzentrieren sich in der Regel vollkommen auf den Alltagsblickwinkel: In diesem Bereich tun sie durchaus sinnvolle Dinge, ohne jedoch die zugrundeliegenden Missstände zu thematisieren oder eine über das Individuum hinausgehende Veränderung anzustreben. In anderen Kreisen ist es dagegen üblich, allein die dahinterliegenden Prinzipien zu betonen. Hier werden dann schnell Proteste gegen die ungerechte Verteilung gesellschaftlichen Reichtums als Lappalie bzw. konterrevolutionärer Akt abgetan. Eine Politik, die persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Erscheinungsformen derart gegenüber den zugrundeliegenden Prinzipien unterbewertet, ist unserer Ansicht nach elitär. Genauer gesagt, den Widerstand gegen Sozialhilfekürzungen als Peanuts abzutun, muss mensch sich leisten können.

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